Revolution und Religion im Werk Georg Büchners

Eisen, Brot und Kreuz

Revolution und Religion im Werk von Georg Büchner.

Das Leben Georg Büchners, dessen Geburtstag sich heute zum 200. Mal jährt, ist nach wie vor voller Rätsel. In den siebziger Jahren versuchte eine sich als links verstehende Germanistik, die revolutionäre Seite des Vormärz-Dichters ins Gedächtnis zu rufen und ihn gar zum frühen Sozialisten zu erheben. Diese Bemühungen werden heute gerne mit Verachtung gestraft, wie in der jüngsten Veröffentlichung des Germanisten Hermann Kurzke, der in seiner »Geschichte eines Genies« untertitelten Büchner-Biographie die Diskussionen um den »Sozialrevolutionär« nur mit Kopfschütteln quittiert. Stattdessen wird heute Büchners Haltung zur Religion wieder stärker diskutiert.
Dass religiöse Themen, Topoi und Auseinandersetzungen mit theologischen Gehalten Büchners Werk durchziehen, ist offensichtlich. In allen seinen Dramen begegnen christliche Motive, auch in Briefen und vermischten Schriftstücken werden religiöse Themen behandelt, und die Flugschrift »Der Hessische Landbote«, die Büchner als Zeitgenossen ausweist, dem man schwerlich die sozialrevolutionäre Intention absprechen kann, ist geprägt von religiösen und biblischen Bezügen. Auch in Büchners literarischen Werken finden sich einander ergänzende Auffassungen von Religion, die helfen, sein Religionsverständnis zu erhellen.

Atheist, Revolutionär oder Protestant?

Welche Haltung Büchner zur Religion einnahm, wird unterschiedlich beantwortet. Die einen gehen davon aus, dass er ein überzeugter Atheist gewesen sei, während andere ihn als eine Art christlichen Revolutionär sehen. Der marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer tendiert in seinen älteren Büchner-Forschungen zu ersterem und bestreitet, dass Büchner in metaphysischem Denken befangen sei, während eine neue Generation von Germanisten heute Büchners protestantische Prägung betont. Es mag sein, dass die marxistische Forschung Büchners Atheismus überbewertet hat; doch ist evident, dass die Literaturwissenschaft seit den neunziger Jahren sozialrevolutionär-agitatorische Aspekte nicht nur der zeitgenössischen Literatur ohnehin geflissentlich übersieht, weil sie sozialhistorische Deutungen als veraltet zu überwinden trachtet.
In der Rede von Büchners »Religionsverständnis« schwingen mehrere Bedeutungsgehalte mit: Verständnis im Sinne einer Kritik des zu Verstehenden, aber auch als Nachvollzug religiöser Impulse. Für Büchner bleiben Herrschaft und Ausbeutung stets abschaffungswürdig, nicht unbedingt jedoch die Religion als solche: Wenn eine radikale Veränderung mit Religion zu erreichen ist, erscheint Religion ihm gleichsam als dienlich; sollte sie sich in ein Herrschaftsmodell verwandeln, muss sie einer an die Wurzel gehenden Kritik unterzogen werden.
Diese Ambivalenz ist der Kern von Büchners Haltung zur Religion. Attribute wie »christlicher Revolutionär« und »früher Atheist« blenden das eher aus. Doch die Modernität Büchners besteht gerade in dieser Ambivalenz. Er nimmt wesentliche Momente späterer Religionskritik vorweg, die dann bei Feuerbach, Marx und Freud entwickelt werden. Doch er folgt nicht ihrem anthropologischen und geschichtsphilosophischem Optimismus. Was die marxistische Literaturwissenschaft Büchner noch in kritischer Absicht vorhielt, ist als seine genuin moderne Einsicht zu verstehen. Hans Mayer hält fest: »Vom Fels des Atheismus aus erblickt Marx ein Gelobtes Land, Büchner dagegen nur das Grau in Grau hoffnungslosen Elends.« Mayer sieht in Büchners vielbeschworener Resignation »die Unkenntnis von Hegels Dialektik« und »die Unreife der gesellschaftlichen Umstände« wirken. Vielleicht wollte sich Büchner aber auch nicht auf Hegels Dialektik verlassen.
Eine junge Germanistin, Wendy Wagner, wertet heute hingegen Lehrbücher und Schriftmaterial von Büchner aus der Grundschule und aus dem Gymnasium aus, um die protestantische Prägung des Autors zu belegen. Der protestantische Schulunterricht Büchners habe bei ihm die Grundlage geschaffen »für das größte Unwohlsein gegenüber der gesellschaftlichen Aufspaltung in Arme und Reiche«. Wagner versteigt sich sogar dazu, in Büchner einen gläubigen Protestanten – wenngleich mit kirchenkritischen Akzenten – zu sehen. Er habe vom »Hessischen Landboten« über »Lenz« bis zu »Woyzeck« Motive seines Religionsunterricht und Ideen seiner Lehrer übernommen: »Diese Lehren ermunterten (…) zu einem Leben in Arbeitsamkeit und Mäßigkeit, in Bescheidenheit und Demut, in Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, in Frömmigkeit, Selbstbeherrschung, Tugendhaftigkeit, in Gehorsam, in Edelmut, in Anerkennung von Gottes Größe (…). Sie warnten vor dem Gegenteil, also vor Müßiggang und Zeitverschwendung, vor Sinnlichkeit, Geiz und Habsucht (…), die die überwiegende Mehrzahl der Reichen charakterisiert.« Ein unsympathisch rechtschaffener Mensch scheint Büchner demnach gewesen zu sein.
Dass er protestantisch sozialisiert wurde, sagt indes wenig über die Auseinandersetzung des Autors mit der Religion aus. Auch der Stellenwert der Religion für Büchner als Revolutionär lässt sich kaum zurückführen auf seine Gymnasialzeit. Statt dessen müsste die Verbindung zwischen Büchners Religionsskepsis, seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung und seiner Forschertätigkeit als Mediziner reflektiert werden. Büchners jüngerer Bruder Ludwig vertrat einen naturwissenschaftlichen Materialismus und wurde als Atheist angefeindet. Beide Brüder waren Religionskritiker aus dem Geiste eines medizinischen Materialismus, in dessen Mittelpunkt die Einsicht in die naturimmanente Störungsanfälligkeit aller Lebensprozesse stand, die umso größer wird, je höher der Organisationsgrad der Lebensformen ist, sowie die Erkenntnis, dass Heilerfolge nicht der Magie, sondern realer Naturerkenntnis entspringen. Überdies vertrat Büchner keine so holzschnitt­artige Gegenüberstellung von Gut und Böse, wie Wagner behauptet. Vielmehr kritisierte er die herrschenden Tugenden, weil sie die Armen von einem Aufstand abhielten. Dies wird am deutlichsten in einer berühmten Passage aus »Woyzeck«, in der Knecht- und Herrenmoral miteinander kollidieren. Der Hauptmann hält Woyzeck vor, ein uneheliches Kind zu haben:

HAUPTMANN. (…) Woyzeck, Er ist ein guter Mensch, ein guter Mensch – aber (mit Würde) Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt, ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir.
WOYZECK. Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen.
HAUPTMANN. Was sagt er da! Was ist das für n’e kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag: Er, so meine ich Ihn, Ihn.
WOYZECK. Wir armen Leut. Sehen Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in die Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unseins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.

Was Woyzeck in elliptischer Sprache von sich gibt, weist auf die Tatsache hin, dass man sich Moral leisten können muss. Überdies betont er die Dominanz der inneren Natur, modern gesprochen: der Triebe, die zu sublimieren ein gesellschaftliches Privileg voraussetzt. Selbstbeherrschung, Edelmut, die protestantischen Tugenden spricht Büchner auch den Armen nicht einfach ab. Er war kein Reaktionär, der die Armut auf Lasterhaftigkeit zurückführte, wie es im Vormärz viele Konservative und Klerikale taten, aber er zeigt, dass unhaltbare Zustände die Behauptung von Tugendhaftigkeit dementieren. Bevor von Moral und Tugend überhaupt die Rede sein kann, müssten sich die Lebensbedingungen der Subalternen ändern.
Auch in der ersten Szene des dritten Aktes von »Dantons Tod« wird das Verhältnis von Religion, Moral und Gesellschaft diskutiert. Mit Thomas Payne tritt auf der revolutionären Seite eine Figur auf, für die das Leiden in der Welt »der Fels des Atheismus« ist. Er verwirft die Moral als der Natur entgegengestellt: »Was wollt ihr denn mit Eurer Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was Gutes gibt, und habe deswegen noch nicht nötig, meine Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur gemäß, was ihr angemessen, ist gut für mich und ich tue es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt.« Mit dieser Ansicht ist Payne recht nah an Büchners eigenen Überlegungen. In einem Brief an die Eltern wendet sich Büchner gegen den bürgerlichen und christlichen Moralbegriff, der der Realität tugendhafte Erwartungen entgegenstelle: »Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin studiert werden, müsste mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte (…). Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein soll, so antworte ich, dass ich es nicht besser machen will als der liebe Gott, der die Welt gewiss gemacht hat, wie sie sein soll.« Aus dieser Kritik speist sich bei Büchner eine realistische Literaturkonzeption, die lange vor dem Realismus die soziale Wirklichkeit – auch in ihrer Vulgarität – zeigen will, wie sie ist.

Profanierung des Göttlichen

»Der Hessische Landbote« von 1834 wurde in großen Teilen von Büchner verfasst und redaktionell überarbeitet durch den Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig. Das achtseitige Pamphlet ruft die Bauern auf, sich gegen die sozialen Missstände zur Wehr zu setzen. Auffallend sind die biblischen Motive und die religiös geprägte Sprache. Doch sie alleine lassen noch nicht darauf schließen, dass man es bei Büchner mit einem religiösen Revolutionär zu tun hat. Er selbst zeigt sich in einem Brief vom Januar 1833, in dem er seinen Eltern von einem Kirchenbesuch zu Weihnachten berichtet, zwar von den Gesängen des unsichtbaren Chorals begeistert, wendet sich aber gegen »die faden, ewig wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen, die Jahr aus Jahr ein an jedem Weihnachtstag meist nichts Gescheiteres zu sagen wissen, als, der liebe Herrgott sei doch ein gescheiter Mann gewesen, daß er Christus grade um dies Zeit auf die Welt habe kommen lassen.« Die späteren Briefe dokumentieren einen Radikalisierungsprozess von Büchner. So schreibt er im April 1933: »Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.« Im Februar 1834 schreibt er seiner Familie, dass der »Aristokratismus (…) die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen« sei. Mit dieser Aussage stellt er sich außerhalb des christlichen Verständnisses des Heiligen Geistes. Es scheint, als verlagere er, ähnlich wie Feuerbachs Religionskritik, das Göttliche in den Menschen zurück.
Die Passagen im »Hessischen Landboten«, in denen auf die Bibel angespielt wird, sind meist als Metaphern und Allegorien zu verstehen. Wenn zu Beginn die Bibel als Referenz und Autorität erscheint, die angesichts der schlechten Realität Lügen gestraft werde, so gipfelt diese Aussage in der bildlichen Gegenüberstellung, wonach das Leben der Bauern ein langer Werktag sei, geprägt von Ausbeutung und Plackerei, während es so erscheine, als seinen die »Fürsten und Vornehmen am 6ten (Tage) gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt.« Die biblische Metaphorik zielt auf Empörung und soll zur Handlung aufrufen. Nach diesem Auftakt wird die Flugschrift zu einer materialistischen Abhandlung, die mehrere Seiten lang auf Steuerdruck, Funktion des Staates und Struktur der Fürstenherrschaft eingeht, sich also ganz dem Profanen zuwendet. Religiöse Bezüge sind fast ausschließlich als Vergleiche eingesetzt, so wenn es heißt: »In Deutschland steht es jetzt, wie der Prophet Micha schreibt, Kap. 7, V. 3 und 4: ›Die Gewaltigen raten nach ihrem Mutwillen, Schaden zu tun, und drehen es, wie sie es wollen. Der Beste unter ihnen ist wie ein Dorn, und der Redlichste wie eine Hecke.‹« Unmittelbar schließt sich die materialistische Deutung des biblischen Motivs an: »Ihr müsst die Dörner und Hecken teuer bezahlen; denn ihr müsst ferner für das großherzogliche Haus und den Hofstaat 827,772 Gulden bezahlen.«
Hans Mayer hat in seiner Auseinandersetzung mit dem »Hessischen Landboten« wohl zu einseitig Büchner die sozialrevolutionäre Agitation und die biblische Sprache dem Theologen Weidig zugeschrieben. Neben die Bilder des Dichters treten demnach die Bibelmotive, die in ihrer Ableitung sozialer Kampfforderungen aus Worten der Schrift zwar an die Forderungen der aufständischen Bauern Thomas Münzers gemahnten, aber in Büchners Stil und Diktion doch als fremdes Element wirkten. Tatsächlich war diese Annahme lange Konsens in der Forschung. Thomas Michael Mayer sieht in seiner akribischen Aufarbeitung der Archivmaterialien zwar durchaus gravierende Unterschiede zwischen Büchner und Weidig, macht diese aber nicht in ihrer Haltung zur Religion fest, sondern im Politischen. Er zeichnet Büchner als Frühkommunisten, dessen Plädoyer für eine Gütergemeinschaft, die gegen Adel und Reiche durchgesetzt werden müsse, von Weidig unterdrückt worden sei. Laut einem Urteil der Germanisten Joachim Kahl hat Büchner die Religiosität der Bauern ansprechen wollen, um sie gegen die Herrschaft aufzubringen; nur unter Berücksichtigung der religiösen Bewusstseinsform der Bauern habe er geglaubt, auf sie positiv einwirken zu können. Diese Einschätzung wird durch Äußerungen Adam Kochs, eines Mitglieds der von Büchner gegründeten Darmstädter Gesellschaft der Menschenrechte, von 1842 bestätigt. Büchner vertrat demnach die Ansicht, die Flugschrift müsse ihre Überzeugungsgründe aus der Religion des Volkes schöpfen, mit den einfachen Bildern und Wendungen des Neuen Testaments müsse man »die heiligen Rechte der Menschen« erklären. Dieser Strategie folgend, werden die Fürsten im »Hessischen Landboten« mit Hilfe des Judas-Bildes als Verräter dargestellt und diejenigen, die ihnen dennoch folgen, als »Götzendiener«. Um den Volksglauben daran zu untergraben, dass die Herrschenden von Gott geweiht seien, verkündet der »Hessische Landbote« eine Botschaft der Egalität, die Gott als Instanz versteht, vor der alle gleich sein müssten, um schließlich zu begründen, dass eine nicht demokratisch legitimierte Herrschaft des Teufels sei.

»Religiöser Fanatismus« und Antisemitismus

Es liegen tatsächlich Zeugnisse von Büchner vor, in denen er diskutiert, wie die Religion im politischen Kampf einzusetzen sei. Einer der bekanntesten Briefe zu diesem Thema stammt von Anfang Juni 1836 und ist an Karl Gutzkow gerichtet, einen Freund Büchners und Herausgeber der Deutschen Revue, in der auch Büchner publizierte. Darin weist Büchner den Gedanken zurück, dass die Gesellschaft von einer gebildeten Elite zu verändern sei: »Die Gesellschaft mittels der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell …« Dann wendet er sich der »großen Klasse«, also den beherrschten Bauern und Handwerkern und protoindustriellen Arbeitern zu: »Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein Kreuz oder sonst so was.«
Alleine im Begriff des »religiösen Fanatismus« schwingt allerdings eine Distanzierung mit. Ein religiöser Fanatiker würde seinen Glauben nicht als fanatisch ausweisen, sondern eher als »orthodox«. Die Beschreibung des Religiösen als »Hebel« betont außerdem den im Kern instrumentellen Charakter, den Büchner der Religion zubilligt. Zuvörderst benötige die Zeit »Eisen« – ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Kritik der Waffen, der Gewalt. Auch gehe es zuerst um die Brotfrage, erst danach komme das »Kreuz«, dessen Bedeutung mit der Nachbemerkung »oder sonst so was« entschieden relativiert wird. Dennoch bleiben diese Passagen recht dunkel. Hans Mayer vermeidet in seinen um diese Bemerkungen Büchners kreisenden Vermutungen denn auch eine klare Einschätzung: »Vielleicht, dass man damals auf halbem Wege stehen geblieben war, dass man zwar die Sprachformen und Bilder der Überlieferung entnommen hatte, aber nicht Inhalt und Ziel. Vielleicht, dass es wirklich die Stunde und einzige Rettung wäre, den religiösen Fanatismus zu predigen, daranzugehen, jene ungeheuren Wirkungen jahrhundertelanger Religionskriege erneut zu entfesseln. Etwas von solchem Sinnen spürt man in den seltsamen Sätzen.«
Tatsächlich sind die Ausführungen Büchners zum »Fanatismus« eigenartig ambivalent. Thomas Michael Mayer hat in seiner detaillierten Büchner-Chronik beschrieben, dass das erste Auftauchen des für Büchner so wichtigen Themas des »religiösen Fanatismus« Ende Juni 1832 anzusetzen sei. Büchner habe unmittelbar die gewaltsamen Unruhen im Elsass mitbekommen, als nahe bei Colmar Kleinbauern und Winzer angesichts von Getreideteuerungen und allgemeinem Pauperismus gewalttätig gegen jüdische Aufkäufer vorgingen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Figur des Juden in »Woyzeck« dem Protagonisten zwar die Waffe liefert, derer dieser sich zum Mord an seiner Braut bedient, und insgesamt unsympathisch gezeichnet ist, dass aber aus dem Stück selbst hervorgeht, dass ganz andere, nicht zu personalisierende Wirkkräfte für Woyzecks soziale und persönliche Misere verantwortlich sind. Außerdem zeichnet Büchner in demselben Stück einen unangenehmen, pöbelhaften Handwerker deutlich als Antisemiten. Der Antisemitismus, der in die Handlung und Ikonographie des Dramas eingeht, wird von diesem selbst also zugleich konterkariert.
In der studentischen Verbindung Eugenia, an deren Treffen in Straßburg Büchner in dieser Zeit regelmäßig teilnahm, wurde auf einer Sitzung am 28. Juni vor dem Hintergrund der Vormärz-Revolten über »das Unnatürliche unsers gesellschaftlichen Zustands, besonders in Beziehung auf Reich u. Arm« diskutiert, wie im Protokoll vermerkt ist. Die antisemitischen Untertöne, die gerade die studentischen Zirkel der Ära des Vormärz prägten, klingen in der Anprangerung des »Unnatürlichen« zumindest an. Wenn Büchner selbst mit der Formel von der sozialen Wirksamkeit des »religiösen Fanatismus« sozial wie politisch vollständig unterschiedliche historische Personen wie den tschechischen Reformator Jan Hus, Karl Ludwig Sand – den Mörder August von Kotzebues – und den Mörder des französischen Königs Henri IV., François Ravaillac, in eine Reihe zu stellen scheint, wirft das also entweder ein schales Licht auf Büchner als wenig reflektierten Zeitgenossen, oder es macht darauf aufmerksam, dass sich »religiöser Fanatismus« in unterschiedlicher Gestalt zu zeigen vermag.

Natur, Religion, Wahn

Im Frühjahr 1835 begann Büchner, biographisches Material über den Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz zu sammeln. Die Novelle »Lenz«, für die dieses Material die Grundlage war, beschreibt nicht einfach eine schizophrene Psychose, sondern stellt eine Auseinandersetzung mit Glauben und Religion und mit deren psychischer wie gesellschaftlicher Funktion dar. Der Dichter Lenz wird bei Büchner als Gläubiger in der Ambivalenz zwischen psychotisch überformter Naturerfahrung, christlicher Religion und Gotteszweifel gezeichnet, der schließlich vom Glauben abfällt. Bereits zu Beginn erfährt Lenz die Natur rauschhaft; unmittelbar nach solchen Erfahrungen ist er wiederum »nüchtern, fest, ruhig«. Dennoch ist er bereits vom »Wahnsinn« gezeichnet, er bedauert zu Beginn der Erzählung, dass er »nicht auf dem Kopf gehen« könne. Abends erfasst ihn die Angst, die mit der »Finsternis« kommt und die er mit dem »Vater unser« abzuwehren gedenkt. Das repetitive Gebet hat die Funktion, die bedrückende Vereinzelung zu bannen.
Am anderen Tag konfrontiert Büchner Lenz mit der Existenz einer Alltagsreligion, die er zusammen mit dem Geistlichen Oberlin bei den einfachen Leuten der Umgebung beobachten kann. Auch die Gebete der Dorfbewohner sind geprägt von Träumen und Hoffnungen, doch wenden sich die Gläubigen rasch wieder dem »praktischen Leben« zu. Hier scheint die religiöse Praxis noch eingebettet zu sein in das Alltagsleben, was Lenz, obwohl sich die Sehnsüchte der Landbevölkerung von seinen eklatant unterscheiden, als beruhigend und tröstend empfindet. Am Abend, in der Einsamkeit, überkommen ihn jedoch wieder »Angst« und »der Alb des Wahnsinns«, die er wiederum mit der Bibel bekämpfen möchte.
Die ihm gebotene Möglichkeit, der Gemeinde zu predigen, wirkt sich positiv auf Lenz’ Psyche aus – »seine Nächte wurden ruhig«. Seine Predigt hat mehrere Funktionen: Zum einen kann er so mit der Gemeinde kommunizieren und seine Einsamkeit für einen Augenblick hinter sich lassen. Zum anderen ist der Gegenstand dieser Kommunikation wiederum das Leiden: »Der Gesang verhallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf, und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdegeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, dies dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.«
Die Predigt könnte als eine ihrer selbst nicht bewusste Form des therapeutischen Gesprächs verstanden werden. Laut Jan Thorn-Prikker zeigt sich Lenz mit seiner Absicht, Trost zu spenden, »nicht im eigentlichen Sinne religiös«. Noch in der Kirchengemeinde empfindet er eine Ruhe inmitten der betenden und singenden Gemeinde, die das Leiden miteinander teilt und sich kathartisch von ihm zu befreien scheint. Doch im Mittelpunkt des Gottesdienstes bleibt das Leiden als gesellschaftliches bestehen. Höchst ambivalent ist auch das Kirchenlied, das sich unmittelbar an Lenz’ Predigt anschließt: »Lass in mir die heil’gen Schmerzen,/Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;/Leiden sei all’ mein Gewinst,/Leiden sei mein Gottesdienst.« Es ist erst dieses Lied, das bei Lenz wieder eine große Unruhe auslöst. Lenz kann das christliche Versinken im Leiden, das als Gottesdienst gepflegt und als »Gewinst« geadelt wird, nicht akzeptieren. So spricht er am Morgen nach der Predigt mit Oberlin über seinen Glauben, findet aber in dem Geistlichen keinen adäquaten Gesprächspartner, Lenz’ Gedanken sind zu weit entfernt »von seiner einfachen Art«. Nachdem Oberlin mal wieder von Gott gesprochen hat, bemerkt Lenz in einem »ruhigen Moment«, dass er das Leiden nicht als gottgegeben akzeptieren kann: »Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an, und sagte endlich: Aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können.«
Lenz’ Unsicherheit führt ihn zur Suche nach einem Beweis der Existenz Gottes. Diesen erhofft er sich von der Wiederbelebung eines toten Mädchens in dem Ort Fouday. Er tritt dabei selbst auf wie Gottes Sohn und ruft: »Stehe auf und wandle!« Der Fehlschlag dieser Selbsterhebung zum Christus führt schließlich zu Lenz’ Abfall vom Glauben. Er verzweifelt an der Religion, weil diese es nicht vermag, Leiden und Tod zu bannen. Er verzweifelt auch an seinem Unvermögen, das Mädchen aufzuwecken, und beantwortet diese tiefe Kränkung mit einem ins Satanistische spielenden Atheismus. Von einem »Triumph-Gesang der Hölle« ist die Rede: »Lenz musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ihn ganz sicher und ruhig und fest.« Hier scheint er zwar vom infantilen Bedürfnis nach Sicherheit in der Religion Abstand zu nehmen, doch die bereits zuvor anklingende Hybris schlägt zugleich vollends durch. Interessant ist, dass Lenz’ Atheismus sich im Lachen äußert, einem Verlachen des Glaubens, das doch zugleich kein befreiendes Lachen ist. Büchner scheint hier sowohl das Sich-Überantworten an den Glauben wie dessen Gegensatz, die gleichsam satanische Hybris, zu kritisieren.
Schließlich verfällt Lenz nach einem Selbstmordversuch in Apathie. Er verspürt nur mehr Langeweile und wehrt Oberlins Rat heftig ab, sich ins Gebet zu versenken: »Ja Herr Pfarrer, sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Figuren an die Wand gezeichnet. Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott wenden; da lachte er und sagte: Ja wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müßiggang. Denn die meisten Beten aus Langeweile; die Anderen verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: Es ist zu langweilig.«
Beten sieht Lenz nur mehr als eine Form des Zeitvertreibs, während doch eine glückliche und gefasste Grundstimmung, zu der er selbst nicht mehr in der Lage ist, die Vorraussetzung dafür wäre, sich in Kontemplation zu begeben. Am Ende der Erzählung sind für Lenz Religion und Gebet nichts als gleichermaßen neutralisierte Erscheinungsformen profaner Praxis, die am Dasein nichts zu ändern und es schon gar nicht zu transzendieren vermögen.

Fatalismus der Geschichte

Büchner steht mit seiner Einschätzung des Verhältnisses von Religion und gesellschaftlicher Erfahrung am Beginn einer Tradition, die über Marx zu Freud führt. Freud analysiert Religion als »Zivilneurose«, als Form der verschobenen Leidabwehr. Der religiöse Mensch sieht Gott als Vaterfigur, an die er die Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben delegiert. Der Gottesglaube ist demnach eine illusionäre Befriedigung des regressiven kindlichen Wunsches nach Geborgenheit, Sicherheit und Autorität. Auch Lenz zeigt deutlich regressive Züge, flüchtet sich teils in die ihn besänftigende Natur, teils ins ihn besänftigende Gebet, findet dabei aber stets nur temporär Ruhe. Obgleich in »Lenz« die Vorstellung vom Gottesbild als Über-Ich und als Agens der Triebunterdrückung natürlich nicht im Freudschen Sinne ausformuliert ist, finden sich darin durchaus Hinweise auf den Zusammenhang von Religion und Sexualität, etwa die »Wollust«, die Lenz alleine in seiner Kammer nach der Predigt verspürt. Bereits im Anschluss an den Gottesdienst wird Lenz in einem Zustand der Einsamkeit geschildert, der deutlich als eine auch sexuelle Zwangslage erscheint: »Jetzt, ein anderes Sein, göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm aus, und sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust; endlich dämmerte es in ihm, er empfand ein leises tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er schlief ein.« Diese allein in »Wollust« verbrachte Nacht erinnert nicht von ungefähr an Beschreibungen der Onanie, gerade auch in ihrem Umschlag von Lust in »Mitleid« mit sich selbst und in Erschöpfung: Nach der Gemeinschaftserfahrung des Gottesdienstes wieder alleine in seinem Zimmer, überkommt Lenz der tiefe Schmerz der Einsamkeit, dem er allenfalls temporär entfliehen konnte.
Auch in »Lenz« finden sich Beobachtungen zum Zusammenhang der Alltagsfrömmigkeit der Menschen mit ihrem materiellen Elend, die durchaus an Marx’ Frühschrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« von 1843/44 erinnern. Er folgt darin Feuerbach in dessen Analyse der Funktion der Religion als Projektionsform profanen Leidens. Marx setzt jedoch tiefer an als Feuerbach und bezieht dessen Gedanken auf die Konstitutionsform politischer Ökonomie. Er beginnt mit der Bestimmung, dass der Mensch Staat und Sozietät sei. Staat und kapitalistische Gesellschaft produzieren die Religion als notwendig falsches Bewusstsein. Aufgabe der Philosophie, die identisch ist mit der Aufgabe der Geschichte, ist, die Kritik des Himmels in eine Kritik der Erde zu verwandeln. Die Kritik der Religion wird zur Kritik des Rechts, die der Theologie zur Kritik der Politik. Nicht an den Überbauphänomenen solle Kritik ansetzte, sondern an den materiellen Bedingungen, die Religion hervorbringen. So ist Religion als »Seufzer der bedrängten Kreatur« zu entziffern: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.«
Von der Absicht, das Religiöse in den Dienst der sozialen Revolution zu stellen, ist in »Lenz« jedoch nicht mehr viel übrig geblieben. Vielmehr ist Lenz’ Religiosität nur noch »Seufzer der bedrängten Kreatur«. Das Gebet als kommunikativer sozialer Akt hat allenfalls noch eine vorübergehend tröstende Funktion: »Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdegeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.« In diesem Sinn ist Büchner mit seiner Religionskritik durchaus als Marxist avant la lettre zu bezeichnen. Hinter dem Trostbedürfnis, auf das die Religion antwortet, steht das unzumutbare soziale Sein. Dennoch unterscheidet sich Büchners Religionsverständnis von der Marxschen Religionskritik, die Religion durch den Geschichtsverlauf selbst kassiert sieht und diese Entwicklung affirmiert. Ansätze einer solchen Geschichtsauffassung sind Büchner vollkommen fremd. Mitte März 1834 schreibt an die Braut: »Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühle mich wie vernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen.« Büchner dementiert, dass es ein teleologisches Gesetz der Geschichte gebe, dem sich die Menschheit zu beugen habe: »Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhne mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser.« Es ist diese Ambivalenz, die Büchner auszeichnet, zeigt sie doch, dass er gegenüber dem Geschichtsoptimismus und Atheismus seiner Zeit ebenso skeptisch war, wie er an der Hoffnung auf die Einrichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft festhielt.

Literaturverzeichnis
Michael Glebke: Die Philosophie Georg Büchners, Marburg 1995
Joachim Kahl: Der Fels des Atheismus, in: »Georg-Büchner-Jahrbuch« 2/1982, Frankfurt/Main 1983, S. 102 ff.
Hermann Kurzke: Georg Büchner, München 2013
Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit, Frankfurt/Main 1972
Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie, in: Text und Kritik. Sonderband. Georg Büchner I/II, München 1979, S.16 ff.
Ders.: Georg Büchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk, in: Text und Kritik. Sonderband, a. a. O., S. 357 ff.
Ders.: Zu einigen neueren Tendenzen der Büchner Forschung, in: Text und Kritik. Sonderband, a. a .O., S. 265 ff.
Jan Thorn-Prikker: Revolutionär ohne Revolution, Stuttgart 1978
Wendy Wagner: Georg Büchners Religionsunterricht, New York 2000