In Deutschland ist die Gedenkfeier in Sobibór kein Thema

»Da war Deutschland nicht dabei«

Wenn es um das Gedenken an das ehemalige Vernichtungslager Sobibór und den Häftlingsaufstand von 1943 geht, zeigt sich der Erinnerungs- und Aufarbeitungsweltmeister Deutschland nicht allzu engagiert.

»An diesem Abend trafen wir eine Entscheidung: Morgen, am 14. Oktober, fliehen wir.« Dieser Satz aus dem Tagebuch des sowjetischen Offiziers Alexander Petscherski liefert ein eindrückliches Zeugnis vom Beginn des Häftlingsaufstands im Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 1943. Bei der Revolte erhoben sich über 350 Gefangene gegen die SS-Wachleute. Obwohl es den Aufstän­dischen gelang, viele Aufseher zu töten und kurzzeitig das Lager zu kontrollieren, entkamen lediglich 47 Gefangene. Nach dem Aufstand ermordete die SS die verbliebenen Gefangenen und ebnete das Lager anschließend ein. Auf dem Gelände errichteten die Nazis einen Bauernhof und legten einen Wald an. Der Massenmord sollte in Vergessenheit geraten.

Anlässlich des 70. Jahrestags des Aufstands in dem Vernichtungslager in Ostpolen scheint es, als versuche Deutschland tatsächlich, Sobibór zu vergessen. Während auf der Gedenkveranstaltung am Montag internationale Regierungsvertreter gemeinsam mit Überlebenden an die Revolte und die insgesamt 250 000 Ermordeten erinnerten, schickte die Bundesrepublik lediglich ihren Botschafter aus Warschau. Offizielle deutsche Regierungsvertreter waren nicht anwesend.
Die Bundesregierung hatte bereits an der Finanzierung einer geplanten neuen Gedenkstätte in Sobibór, an der sich Polen, die Niederlande, die Slowakei und Israel beteiligen wollen, wenig In­teresse gezeigt. Das kleine Museum auf dem ehemaligen Lagergelände hatte 2011 wegen fehlender Gelder schließen müssen. Warum die Bundesregierung einen Neubau unter der Schirmherrschaft des polnischen Staates mit keinem Cent unterstützt, begründet das Auswärtige Amt auf Anfrage der Jungle World damit, dass man Polen zwar gebeten habe, »uns zu signalisieren, wenn ein deutscher Beitrag gewünscht werde«. Man respektiere aber, »wenn die polnische Regierung das Gedenken in ihrem Land in eigener Verantwortung gestalten will«.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte, alle Länder seien »aufgefordert, die auf ihrem jeweiligen Territorium befindlichen Gedenkstätten zu erhalten«. Etwas direkter begründete die Staatsministerin des Auswärtigen Amts, Cornelia Pieper (FDP), das deutsche Verhalten Ende September in einem Beitrag des Politmagazins »Kontraste«: »Man hat uns gesagt, dass man bis jetzt Projekte in Sobibór mit anderen Partnern vorbereitet, also mit den Ländern, die davon betroffen waren, die dort auch Inhaftierte hatten. Da war Deutschland nicht dabei.« Diese Aussage ist nicht nur blanker Hohn angesichts eines Vernichtungslagers, das von Deutschen geplant, organisiert und geleitet wurde. Sie ist noch dazu schlicht falsch. Mindestens 4 000 deutsche Juden, die in der Mehrzahl in die Niederlande emigriert waren, wurden in Sobibór vergast.

Während die Medien in Deutschland Piepers Äußerungen ignorierten, übte man Anfang Oktober in Warschau auf der Tagung »Nazi German extermination camp Sobibór. What we know? How we commemorate?« scharfe Kritik. Die deutsche Bürgerinitiative »Zug der Erinnerung« (ZdE) griff Pieper an: »In Sobibór wurde die übergroße Mehrzahl der dorthin Verschleppten nicht ›inhaftiert‹, wie es Frau Piper euphemistisch ausdrückt, sondern direkt in den Gaskammern ermordet.« Dass Pieper nichts von deutschen Opfern wisse, liege nicht daran, »dass es nicht genügend Informa­tionen gäbe, sondern es fehlt ihr und Teilen der deutschen Verwaltung offensichtlich am Willen zum Wissen«.
Seit Jahren verweist ZdE auf die Verstrickungen zwischen offizieller Gedenkpolitik, regierungs­nahen Stiftungen und deutschen Unternehmen. Herausstechendes Beispiel hierfür ist die Deutsche Bahn AG, deren Vorgängerin, die Deutsche Reichsbahn, während der Shoah mehr als drei Millionen Menschen in Vernichtungslager deportierte. Das Unternehmen, so wurde auch in dem Redebeitrag in Warschau dargelegt, wisse wohl, dass »auf ihr Vorgängerunternehmen der Vorwurf millionenfacher Mordbeihilfe zukam«. Dass die Bahn noch im Januar vor dem Landgericht Frankfurt am Main behauptete, zwischen den Deportationen in die Lager und den Lagergräueln bestehe »keine innere Verbindung«, sei eine »revisionis­tische Lüge«, deren Ziel es sei, »den Eigentümer der Deutschen Bahn AG von Opferforderungen freizustellen«.
Der Vorwurf lautet, das Auswärtige Amt und die Bundesregierung versuchten im Interesse der deutschen Industrie, die Forderungen nach Entschädigung so weit wie möglich zu unterbinden. Der Vorsitzende des Vereins ZdE, Hans-Rüdiger Minow, sagt im Gespräch mit der Jungle World: »Wir können in Auschwitz und Sobibór so viel trauern, wie wir mögen – sobald es um konkrete materielle Forderungen geht, versucht man, uns möglichst mundtot zu machen.« Eine wesentliche Rolle spielt dabei die der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft nahestehende Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ). Insbesondere deutsche Unternehmen haben dort Gelder eingezahlt, die den Opfern der deutschen Verbrechen und der Erinnerung an diese zugutekommen sollen.
In einem Memorandum von ZdE im Rahmen der Gedenkveranstaltung am Montag heißt es, Zweck der Stiftung EVZ sei, »innerdeutsche Aktivitäten so zu lenken, dass eine materielle Restitu­tion für die Überlebenden des NS-Terrors nicht in Aussicht steht«. Entschädigungsforderungen können vor Gericht mit Hinweis auf bereits an die Stiftung EVZ erfolgte Zahlungen einfach abge­wiesen werden. Für ZdE ist die Stiftung deshalb lediglich ein »Institut für Ablasshandel«. Mit ­Hilfe dieser gedenkpolitischen Strategie der Gesten in Form »humanitärer Hilfe« befreie sich die Bundesrepublik von ihrer Pflicht, Entschädigungen in Milliardenhöhe zu leisten, sagt Minow. Noch immer gebe es viele Opfer, die keinerlei Gelder erhalten haben.

Der Verein »Zug der Erinnerung« macht auf diese Missstände aufmerksam. Seine Anträge auf ­Finanzierung wurden bereits mehrfach von der Stiftung EVZ abgelehnt. Erst im Mai weigerte sich die Stiftung, vorgeblich aus formalen Gründen, Gelder für die von ZdE organisierte Fahrt des Museumszugs bereitzustellen (Jungle World 9/13). Die Stiftung hatte die Förderung an eine von ZdE als »Knebelvertrag« abgelehnte »Grundsatzvereinbarung« gebunden. Dadurch habe sich Minow zufolge der Konflikt erst zugespitzt. Wie die Stiftung EVZ Ende August in einem Schreiben mitteilte, komme »die Förderung eines Vorhabens, an dessen Durchführung der Verein ›Zug der Erinnerung‹ beteiligt ist, nicht mehr in Betracht«. Zuletzt wurde der Antrag auf Kofinanzierung der Fahrt von 80 Jugendlichen zur Gedenkveranstaltung nach Sobibór abgelehnt. Weil sich die Stiftung offenbar der symbolischen Wirkung dieser Entscheidung bewusst wurde, zog sie den kategorischen Förderausschluss vons ZdE jedoch wieder zurück.