Die russische Migrationspolitik

Wer zur Nation gehört

Russland ist kein Nationalstaat, sondern besteht aus »Föderationssubjekten« und ethnisch definierten Republiken. Die Migrationspolitik der Zentralregierung in Moskau betont die Dominanz eines »russischen Kerns« im »Vielvölkerstaat«.

Wie die Mehrheit der alten Industrieländer ist auch Russland heute mit dem konfrontiert, was im Fachjargon der internationalen Demographie »disproportionale Bevölkerungsentwicklung« genannt wird: Schrumpfung im Norden, überproportionale Zuwachsraten im Süden des Globus. Die Geburtenrate der russischen Bevölkerung liegt mit 1,2 Kindern pro Frau dabei auf dem untersten Level. Nach Angaben der Migrationsbehörden der UN steht Russland heute mit elf Millionen Migranten an zweiter Stelle nach den USA und vor Deutschland mit 9,8 Millionen.
So gesehen steht Russland in einer Reihe mit den Ländern Europas und den USA und könnte, wie die Regierungen dieser Länder, dazu übergehen, Mechanismen der Selektion »qualifizierter« Zuwanderer aus dem Heer der »unqualifizierten« zu entwickeln und gegen den Andrang unerwünschter Millionen Zäune hochzuziehen wie die USA an der Grenze zu Mexiko und die EU an ihren Außengrenzen. Nach seiner erneuten Wahl zum Präsidenten 2012 erläuterte Wladimir Putin denn auch in einem Artikel mit dem Titel »Die Selbstbestimmung des russischen Volkes. Eine Vielvölkerzivilisation mit russischem Kern« seine Position zur »nationalen Frage« und legte im Januar 2013 sein »Konzept zur Migrationspolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum von 2013 bis 2025« vor. Demnach sollen »qualifizierte Zuwanderer« die Wirtschaft stabilisieren, während »illegalen« der Aufenthalt erschwert werden soll, um die Dominanz des »russischen Kerns« zu erhalten.
Nun ist Russland jedoch nicht mit Europa und den USA zu vergleichen. Einen Zaun von Kiew bis Wladiwostok zu errichten, um »illegalen« Zuwanderern aus dem Süden den Weg zu versperren, verbietet sich für Russland bereits aus physischen Gründen. Politisch wären restriktive Maßnahmen, etwa die Einführung eines strikten Visa-Regimes und die Anlage nicht überwindbarer Grenzbefestigungen, das Aus für den von Putin verfolgten Entwicklungsplan einer »Eurasischen Union«, die er seit 2008 propagiert. Der erste Schritt auf diesem Weg war 2011 die Gründung der »Eurasischen Wirtschaftsunion«, bestehend aus Russland, Kasachstan und Weißrussland. Eine Schließung der Grenzen nach Süden wäre daher für Russland kontraproduktiv, ganz abgesehen von den dort verbliebenen russischen Minderheiten.

Als Nachfolger des ehemaligen russischen und späteren sowjetischen Imperiums ist Russland heute nicht nur der größte Flächenstaat der Erde, in dem rund hundert ethnische Gruppen aus­gemacht werden. Russland hat auch die Probleme des Zerfalls beziehungsweise der Neuordnung dieses Imperiums geerbt. Russland ist kein Nationalstaat – es ist nie einer gewesen und kann es auch nicht werden: Es entstand als Vielvölkerkonglomerat unter russischer Vorherrschaft. Die Sowjetunion hatte zwar die ideologische Klammer des »Sowjetstaates« um die in ihr lebenden Völker gelegt, ohne aber deren – wie es im heutigen Russland noch heißt – nationale, sprich ethnisch-kulturelle Identitäten aufzulösen. Stalins Verwaltungsreformen führten dazu, dass nicht ethnische und eben auch nicht nationale Grenzen die Volksgruppen der Sowjetunion voneinander trennten, sondern Verwaltungslinien, die ethnische und kulturelle Zusammenhänge durchschnitten. Dazu kamen die von ihm veranlassten Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen. Was am Ende entstand, war eine Durchmischung ethnisch und kulturell bestimmter Bevölkerungen unter russisch-slawischer Dominanz, durchwachsen von autonomen ethnisch-kulturellen Einheiten und geteilt durch willkürliche Verwaltungsgrenzen. Im heutigen Russland blieben davon 83 sogenannte Födera­tionssubjekte, darunter 21 ethnisch definierte autonome Republiken.
Die Auflösung der Sowjetunion 1991 führte zu dem Phänomen der »doppelten Migration«, einer inneren und einer äußeren Wanderung, die sehr unterschiedlichen Bedingungen folgen und im politischen Alltag zu Problemen führen.
Zur inneren Migration zählt die Rückkehr der Angehörigen von Minderheiten, die unter Stalin verfolgt wurden, etwa der Tschetschenen. Zu ihr gehören auch Menschen, die im Zuge der Zwangsindustrialisierung nach Sibirien oder in den fernen Osten umgesiedelt wurden und heute wieder in den Westen der Föderation zurückkehren. Zur inneren Migration gehören außerdem die Millionen der russischstämmigen ehemaligen Sowjetbürger und -bürgerinnen, die sich nach der Auflösung der Union in den unabhängig gewordenen Republiken als russische Minderheiten wiederfanden. Die ungelöste Frage der sogenannten Rückkehrer bringt den russischen Nationalisten reichlich Zulauf. Sie werfen der Regierung vor, sie hole Fremde ins Land, statt sich um die »Landsleute« der eigenen Nation zu kümmern, wobei sie zur »Nation« nur slawischstämmige Russen zählen. Eine besondere Variante der inneren Migration bilden die Angehörigen »kleiner Völker« des Kaukasus und an der Wolga wie auch der indigenen Bevölkerungen Sibiriens und des fernen Ostens, die auf der Suche nach Arbeit in den westlichen Teil Russlands ziehen.

Die Reaktionen auf die äußere Migration ähneln den aus den übrigen Industrieländern bekannten. Von der Industrie, aber auch von kommunalen Dienstleistungsagenturen als billige Arbeitskräfte genutzt, mit denen zudem das allgemeine Lohnniveau gedrückt werden kann, werden die Migranten von der einheimischen Bevölkerung immer mehr als Bedrohung wahrgenommen.
Die Arbeitsimmigranten, die vornehmlich aus Usbekistan, Tadschikistan und der Ukraine nach Russland strömen, kommen nicht von weither übers Meer, sondern aus Regionen, die in engster Weise mit Russland verbunden sind. Viele von ihnen, vor allem die Älteren, sprechen Russisch, haben enge Berührung mit russischer Kultur gehabt und leben noch in der Erinnerung an die Sowjetunion. Sie finden sich in ihrem Gastland ­einigermaßen zurecht, ohne sich besonders vorbereiten zu müssen. Für die jüngeren gelten diese Bedingungen nicht mehr in demselben Maße. Es gibt in Russland heute keine ausgearbeitete Integrationskultur, weil die Menschen, gleich ob Zugehörige der inneren oder der äußeren Migration, im herrschenden Bewusstsein der heute politisch aktiven Generation immer noch in das ehemalige Ganze integriert sind. Man lebt noch in der Erinnerung des gemeinsamen sowjetischen Raumes; das war der Raum einer eurasischen Integration. »Unsere Tadschiken«, »unsere Ukrainer«, »unsere Usbeken« sind häufig gegebene Antworten, wenn man Moskauer danach befragt, wer ihnen etwa die Parks säubert.
Dass die jüngeren Zuwanderer, die die Sowjetunion nur noch aus der Geschichte kennen, diesen Hintergrund nicht mehr teilen, ist bisher nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, so dass daraus auch keine aktive neue Integrationskultur erwachsen ist. Um dieses Paradoxon auf­zulösen, müsste ein neuer Integrationsgedanke entwickelt werden. Davon ist die russische Politik jedoch weit entfernt.