Der Dokumentarfilm »Am Ende der Milchstraße«

Wo sich Fallmanager und Fischotter gute Nacht sagen

Mecklenburg-Vorpommern ist eine verarmte Region mit schrumpfenden Gemeinden. Der Dokumentarfilm »Am Ende der Milchstraße« stellt Menschen vor, die nirgendwo anders leben wollen.

Blühende Landschaften, armselige Häuser, schrumpfende Gemeinden, Arbeits- und Perspektivlosigkeit – diese Schlagworte gehen einem durch den Kopf, wenn man durch die kleinen Dörfer und Siedlungen fährt, die irgendwo am Rande von und doch mitten in Deutschland liegen, und zwar in Mecklenburg. Die Regisseure Leopold Grün und Dirk Uhlig haben sich diesen Landstrich genauer angesehen und das Ergebnis ihrer zweijährigen Recherche in dem einfühlsamen Dokumentarfilm »Am Ende der Milchstraße« festgehalten.
Gerade noch 50 Einwohner zählt die Gemeinde Wischershausen in Mecklenburg-Vorpommern. Das Dorf, das aus einer einzigen Zufahrtsstraße besteht, befindet sich nur 150 Kilometer von Berlin entfernt, und doch scheint es auf einem anderen Planeten zu liegen. Im Ort gibt es nicht mal eine Kneipe, statt dessen geht man »die Marktstraße runter, nach Maxe Bier trinken«, wie ein Ortskundiger im Film sagt. Seit dem Ende der DDR gibt es kaum noch Arbeit, ja nicht einmal einen Laden, nur ab und zu kommt ein Lebensmittelmobil vorbei. Die langjährigen Dorfbewohner wollen dennoch nicht wegziehen. Mit diesem Phänomen beschäftigte sich vor ein paar Jahren bereits die Ethnologin Christine Nebelung in ihrem Buch »Pragmatismus und Visionen. Eigenarbeit in der ostdeutschen ländlichen Gesellschaft«, das die Idee zu diesem Film ­lieferte.
Eine pragmatische ländliche Gemeinschaft entdeckten die beiden jungen Dokumentarfilmer bei ihrer Recherche in dem kleinen Dorf, in dem fast schon vergessene Werte wie Nachbarschaftshilfe und Solidarität zählen. Den Regisseuren ging es darum, diesen Dorfbewohnern eine Stimme zu geben und ihre Form des Zusammenlebens darzustellen.
Der Film zeigt Stimmung und Alltag im Dorf im Wechsel der Jahreszeiten. Die Regisseure entschieden sich gegen explizite Interviewsituationen und erklärende Off-Kommentare. Gemeinsames Holzhacken, das Schlachten eines Schweins, Garten- und Feldarbeit, aber auch Feste wie eine Hochzeit oder eine Dorfparty geben den Rhythmus des Film vor.
Da ist Maxe, ein wuchtiger Milchbauer, der nach 17 Jahren Arbeitslosigkeit einen der raren Jobs in einem nahegelegenen Milchhof ergattern konnte. Genau wie der junge Tierwirt Oli, der mit seiner Frau Lydia auf dem elterlichen Grundstück lebt. Zu DDR-Zeiten gab es in dem Ort die LPG »Roter Stern« mit einer Schweinemastanlage und einem landwirtschaftlichen Betrieb, die jedem im Dorf Arbeit bot – eine Sicherheit, die viele heute vermissen. Bauer Maxe geht sogar so weit zu sagen, von ihm aus könne man die Mauer wieder hochziehen, so frustriert ist er von den Veränderungen, die die Wende mit sich gebracht hat. Sein Schichtjob in der Milchviehzuchtanlage reicht kaum zum Überleben, weshalb er nebenbei stets ein paar Schweine züchtet und seinen Garten bestellt. Ohne Selbstversorgung könnte dieses Dorf nicht existieren.
Da ist die fünffache Mutter Witwe Gabi, deren Mann nach dem Ende der DDR ebenfalls arbeitslos wurde, weshalb er sich zu Tode trank. Sie lebt inzwischen wieder mit ihrem ältesten Sohn zusammen. Maik hangelt sich von einem schlecht bezahlten Zeitarbeitsjob zum nächsten, seine Mutter Gabi kümmert sich zudem um ihren Schwiegervater, der den Kindern des Dorfes zuweilen in sarkastischem Tonfall aus der Bild-Zeitung vorliest.
Genau wie Maxe teilt Gabi das wenige, was sie erwirtschaftet, mit den anderen im Dorf, zum Beispiel mit dem technikversierten Harry, der im Gegenzug alle defekten Gerätschaften des Dorfes repariert. Seine trockenen Kommentare beim Angeln über den Zustand unserer Gesellschaft gehören zu den stillen Höhepunkten des Films. So erzählt er von seinen denkwürdigen Terminen auf dem Arbeitsamt, das ihm ständig Jobs als Schweißer vermitteln will, was jedoch wenig Sinn hat, da er ja Dreher gelernt hat. »Die auf dem Amt wissen gar nicht, was die einzelnen Berufsgruppen beinhalten«, resümiert er die Tätigkeit von Jobvermittlern und Fallmanagern. Jemand habe mal ausgerechnet, dass man 400 Jahre arbeitslos sein müsse, um eine Rente zu bekommen, von der man überleben könne, die habe er noch nicht zusammen, erklärt der Alltagsphilosoph mit dem langen grauen Zopf. Doch wie alle Dorfbewohner strahlt er eine gewisse Grundzufriedenheit und positive Lebenseinstellung aus. Resolut ruft er den Fischen nach seinen deprimierenden Ausführungen über die Zukunft zu: »So, und nu’ beißt gefälligst!« Die weite Landschaft, die Verbundenheit mit den Tieren und der Natur und die gegenseitige Unterstützung in der Kommune scheinen viele der Dorfbewohner für den fehlenden Wohlstand zu entschädigen.
Auch Maxes Freundin Cordula war in ihrem Leben wohl mit etlichen Problemen, besonders aber mit schlagenden Männernkonfrontiert. Im Film wird das allerdings nur angedeutet. Auch die Lebensgeschichten der anderen Bewohner werden fast schon diskret behandelt, das stiftet zwar gelegentlich Verwirrung, führt jedoch dazu, dass die Gemeinschaft der Dörfler das eigentliche Thema des Films ist.
In Maxe hat Cordula nun ihre große Liebe gefunden, dennoch zögert die immer wieder arbeitslose Krankenpflegerin, ihre Unabhängigkeit und ihre kleine Wohnung in Neubrandenburg, in die sie sich manchmal zurückzieht, endgültig aufzugeben. Doch genau wie ihre erwachsene Tochter, die sichtlich auch von den Erlebnissen in ihrer Kindheit traumatisiert ist, hält sie sich gern in dem Dorf auf, weitab von den Wohlstandsbürgern in den Ballungszentren Deutschlands. Auch die wenigen Kinder und Jugendlichen der Siedlung, darunter der arbeitslose 15jährige Ulli, streifen gern durch die Wiesen und Felder ihres Heimatdorfes. Gegenseitige Hilfe, gute Nachbarschaft, Galgenhumor und ein karges Landleben im Einklang mit der Natur halten die Dorfgemeinschaft in Mecklenburg zusammen. Natürlich sei dies dennoch eine fragile »Gemeinschaft, der auch immer ein Abgrund innewohnt«, sagt Leopold Grün im Interview.
Doch wenn die fünffache Mutter und gelernte Pferdewirtin Gabi, die zu LPG-Zeiten als Züchterin gearbeitet hat und sich nun noch als Hobby ein paar Ponys hält, mit ihren Tieren auf der Koppel steht und betont: »Ich muss nicht weg hier, ich bin glücklich mit dem, was ich hier hab’«, oder wenn Harry versonnen auf die wunderschöne verschneite Landschaft schaut und über den Fischotter sinniert, dann befindet sich der Zuschauer wirklich am anderen Ende der Milchstraße, wo eine Handvoll Leute den Launen und Schicksalsschlägen des Lebens trotzt.

Am anderen Ende der Milchstraße (BRD 2013).
Dokumentarfilm von Leopold Grün und Dirk Uhlig. Start: 24. Oktober