Die türkische Außenpolitik und das Verhältnis zu Europa

Europäische Karotte

Wer braucht schon die EU? Der türkische Ministerpräsident hat es bisher vermieden, sich in Bezug auf Europa festzulegen. Vor allem in der Außenpolitik hat sich die Türkei lange ohne die EU stark genug gefühlt. Die Lage hat sich jetzt geändert.

Kaum hatte man am Bosporus offiziell davon gehört, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union wieder aufgenommen werden, hielt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan eine schmetternde Rede, in der er die Wiederaufnahme der Gespräche und den nichtssagenden Fortschrittsbericht aus Brüssel als Beweise dafür anführte, dass die Kritik »einiger Politiker« am harten Vorgehen gegen die Besetzer des Gezi-Parks unberechtigt gewesen sei. Vergessen waren Erdoğans Tiraden vom vergangenen August, als er die EU-Vertreter gescholten hatte, weil sie den Putsch gegen die Muslimbrüder in Ägypten nicht so richtig beim Namen nennen wollten. Jetzt waren sie plötzlich eine ernst zu nehmende Referenz.
Das Bild von Europa, das Erdoğan in seinen Reden entwirft, ändert sich je nach Umständen und Publikum beträchtlich. Eine Zeit lang diente ihm die europäische Wirtschaftsmisere als Vergleich, um die eigenen ökonomischen Erfolge noch glänzender erscheinen zu lassen. Dann wieder preist er die eigenen Ziele als die Verwirklichung europäischer Standards.
Um Zweifler von der Ernsthaftigkeit von Erdoğans Beitrittswunsch zu überzeugen, sitzt seit zwei Jahren ein eigener »Minister für Europaangelegenheiten« in seinem Kabinett. Der Inhaber des Postens, Egemen Bağış, ist ein enger Vertrauter des Ministerpräsidenten. Fragt man Bağış, so ist die Vollmitgliedschaft der Türkei die Lösung für alle Probleme Europas. Durch die Türkei bekäme die Union eine junge Bevölkerung und eine dynamische Wirtschaft, erst so könne die EU zu einem echten global player werden. Den Europäern verspricht Bağış auch mehr Sicherheit, sowohl aufgrund der starken türkischen Armee als auch, weil die Türkei als Durchgangsland für Energielieferungen dienen könnte. Was Bağış nicht sagt, ist, dass die ökonomischen und demographischen Probleme Europas einfach zu groß sind, um sie allein mit dem Beitritt der Türkei zu lösen, und dass die politische Bedeutung der EU – die europäische Politiker gern vergrößern würden – nur dann wachsen kann, wenn die Türkei auch ihre eigene Außenpolitik eng mit den Partnern abstimmt. Doch das funktioniert schon in der jetzigen EU nicht. Würden die USA damit rechnen, dass die EU mit der Türkei zum politischen Konkurrenten wird, dann hätten sie den türkischen EU-Beitritt nicht so vehement unterstützt. Es spricht einiges dafür, dass sie sich mit dieser Einschätzung nicht irren.
Man kann wohl davon ausgehen, dass Erdoğan den Beitritt zur EU noch immer will, denn dieser würde ihm zunächst politischen Ruhm bringen, die Beteiligung an den Entscheidungsprozessen auf einem ganzen Kontinent ermöglichen und den Zugang aus den regionalen Fonds der EU garantieren. Die Möglichkeit eines Beitritts möchte er sich deshalb offenhalten. Das gilt auch für die EU.

Seine Erfolge hat Erdoğan nicht zuletzt dieser Option zu verdanken. Die Vehemenz, mit der er sich für den EU-Beitritt stark machte, beruhigte Kritiker, die eine Islamisierung der Türkei durch die Hintertür fürchteten. Nicht zuletzt beruhigte sie aber auch Investoren, die in die türkische Wirtschaft investieren wollten. In den Augen der Nachbarländer wurde die Türkei aufgewertet. In den im Namen der Demokratisierung und der Annäherung an die EU unternommenen Reformen ließ sich so manches verstecken, was lediglich auf eine andere Machtverteilung in der Türkei zielte. Reformen, die die eigene Machtfülle etwas beschränkt hätten oder der eigenen Ideologie zuwiderliefen, waren für Erdoğan und seine Partei kein Thema. Da blieb das Erbe des Militärputsches von 1980 unangetastet. Zu nennen wären etwa die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament und der zwangsweise sunnitische Religionsunterricht für alle Kinder.
Nachdem das Militär und die kemalistische Justiz als Machtfaktoren ausgeschaltet waren, wurden die Ermahnungen aus Europa zu mehr Demokratie allmählich lästig. Hinzu kam, dass die Beitrittsgespräche stockten. Dazu trug die türkische Seite allerdings ohne Not selbst bei, indem sie an der Blockade der Republik Zypern festhielt. Die türkische Regierung hatte die Blockade in den neunziger Jahren verhängt, weil Zypern russische Flugabwehrraketen bestellt hatte. Auf die Raketen hat Zypern längst verzichtet, aber die Blockade gibt es noch immer. Ein anderer Grund für das nachlassende Interesse an der EU war aber auch, dass sich die Türkei auch allein stark genug fühlte. Neben der ökonomischen Entwicklung trugen die außenpolitischen Erfolge dazu bei. Die Türkei sah sich plötzlich wieder als den Meister der Region, die sie einst unter den Osmanen zum großen Teil beherrscht hatte. Einer Region, von der die Türkei meinte, sie besser als alle anderen zu verstehen, weshalb nur sie von den Nachbarn akzeptiert werde. Der Schlüssel zur Weltpolitik schien in Ankara zu liegen und da sollten Europa und die USA erst einmal anklopfen, wenn sie etwas wollten. Doch das hat sich geändert. Außenpolitisch läuft es schon lange nicht mehr rund für die türkische Regierung.
Mit den exzellenten Beziehungen zu Syrien ist es vorbei. Die Beziehungen zum Iran waren auch schon besser und mit dem Irak sind sie ganz schlecht. Weil Erdoğan in Ägypten ganz auf die Muslimbrüder gesetzt hat, ist er nicht nur mit dem neuen ägyptischen Regime zerstritten, sondern hat sich auch den Groll der Saudis zugezogen, die die Muslimbrüder als Konkurrenz betrachten. Israel hat den Versuch, die gespannten Beziehungen mit der Türkei wieder etwas ins Lot zu bringen, offenbar aufgegeben. Hinzu kam die Kritik der internationalen Öffentlichkeit an der Niederschlagung der Proteste um den Gezi-Park.
In dieser schwierigen Lage fiel die Entscheidung der türkischen Regierung, ein chinesisches Raketenabwehrsystem zu kaufen. Dies entspricht der türkischen Strategie, die Kooperation mit Partnern zu bevorzugen, die bereit sind, der Türkei möglichst viel Know-how für die Rüstungsindustrie mitzuliefern. Für die Nato bringt die türkische Entscheidung aber technische Probleme und man kann sich vorstellen, dass auch die westliche Waffenindustrie nicht gerade glücklich darüber ist.
Kurz darauf begannen einflussreiche Zeitungen in den USA Dinge auszugraben, die für Erdoğan unangenehm sind. Etwa die Unterstützung von Gruppen, die mit al-Qaida verbunden sind und in Syrien gegen kurdische Separatisten kämpfen. Oder die Behauptung, man habe in der Türkei zehn Iraner verraten, die Kontakt mit dem israelischen Geheimdienst aufgenommen hatten. Am Schlimmsten war für Erdoğan jedoch die Behauptung der Financial Times, er sei nicht in der Lage, seine im Wahlkampf versprochenen Großprojekte zu finanzieren. Man kann sich vorstellen, wie sich diese Behauptungen unter Erdoğans Vertrauten auswirkten. Yiğit Bulut, der seit den Gezi-Protesten offizieller Chefberater des Ministerpräsidenten ist, hatte kurz vor seiner Ernennung behauptet, ausländische Regierungen versuchten, Erdoğan »mit Telekinese« zu töten. Außenminister Ahmet Davutoğlu sprach von »schwarzer Propaganda« gegen die Türkei.

Was Erdoğan wirklich von der Sache denkt, weiß natürlich nur er, aber immerhin sah er es an der Zeit, rasch etwas zur Besänftigung seiner Verbündeten zu tun. Rhetorisch rückte Erdoğan von seinen islamistischen Verbündeten in Syrien ab. Regierungsnahe Quellen versicherten, dass der Waffendeal mit China ja noch nicht perfekt sei. Vor diesem Hintergrund wirkt nun die Nachricht aus Brüssel wie ein Signal, dass sich der Westen doch noch des Wertes der Türkei und Erdoğans besinnt.
Es war der erste außenpolitische Erfolg seit langem, auch wenn sich der Entschluss der EU, die Verhandlungen wiederaufzunehmen bereits länger abzeichnet hatte. Aber in der Tendenz hat die Politikwissenschaftlerin und Kolumnistin Nuray Mert recht, die von einer »Karotte« sprach, die man der Türkei hinhalte. Unabhängig davon, was am Taksim-Platz geschieht, möchte die EU die Türkei an sich binden und alle Einschätzungen gehen dahin, dass Erdoğan die nächsten Wahlen trotz der Repression der Gezi-Proteste überstehen wird. Wenn Erdoğan darüber im Zweifel war, dass er letztlich doch als unverzichtbar eingestuft wird – so wie eine Reihe anderer Machthaber mit zweifelhafter demokratischer Reputation – dann ist dieser nun ausgeräumt. Vielleicht wird er über die Raketen noch einmal nachdenken, über den Umgang mit Demonstranten wohl kaum.