Europa und das iranische Atomprogramm

Verhandeln bis zur Bombe

Der Dialog mit dem Iran über dessen Nuklearprogramm geht in eine neue Runde. Das Regime aufzuhalten, versucht fast niemand.

Ende September nahm Präsident Hassan Rohani ganz wie sein Vorgänger die jährliche Militärparade in Teheran ab, bei der auf einem Transparent vor den stolz präsentierten Shahab-3-Raketen, die Tel Aviv erreichen können, die unmissverständliche Forderung prangte, Israel müsse »aufhören zu existieren«. Nach Berichten darüber suchte man in den europäischen Medien vergebens. In der westlichen Berichterstattung über den neuen iranischen Präsidenten und langjährigen Vertrauten des Obersten Geistlichen Führers Ali Khamenei drückt sich eine ebenso naive wie perfide und geschäftstüchtige Sehnsucht aus. Daniel Bermbeck, einer der Cheflobbyisten für den deutschen Iran-Handel, konnte im Oktober im »Infobrief« der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer befriedigt feststellen: »Die Berichterstattung in der nationalen und internationalen Presse ist kaum wiederzuerkennen.« Die unverhohlene Verharmlosung des Regimes lobt er als neue Nüchternheit: »Die über lange Jahre in den Meldungen über den Iran schmerzlich vermisste Differenzierung und Sachlichkeit kehrte über Nacht zurück.«

Die Verantwortlichen der europäischen Politik wollen beides: ein militärisches Vorgehen gegen die iranische Nuklearrüstung vermeiden, aber auch die trotz aller Sanktionen weiterhin in Milliardenhöhe florierenden Geschäfte mit dem Iran nicht gefährden und in Zukunft möglichst wieder ausbauen. Daraus erklärt sich die Euphorie über den dauerlächelnden Rohani ebenso wie der unbedingte Wille zu Verhandlungen, mit denen nicht nur die iranische Seite die ungeliebten Sanktionen endlich loswerden möchte. Besonders zufrieden können die Lobbyisten des Iran-Geschäfts wieder einmal mit Österreich sein, das seine traditionelle Rolle als Avantgarde bei der Hofierung des iranischen Regimes derzeit mit besonderem Eifer spielt: Ende Oktober reiste mit dem österreichischen Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, Hannes Swoboda, erstmals seit Jahren wieder ein hochrangiger EU-Politiker nach Teheran. Zur gleichen Zeit weilte der ehemalige Verteidigungsminister und jetzige Präsident der Österreichisch-Iranischen Gesellschaft, Werner Fasslabend, von der Österreichischen Volkspartei im Iran. Einen Tag nach Swobodas Rückkehr wurde bekannt, dass bereits Planungen für einen Wien-Besuch von Außenminister Mohammad Zarif begonnen haben, und auch Rohani, dessen Tochter in Österreich lebt, wird bald erwartet. Am Sonntag traf Reinhold Lopatka, Staatssekretär im Außenministerium und als neuer Fraktionschef der ÖVP im Gespräch, Zarif in Teheran. Österreich stehe im Iran gut da, erklärte Swoboda ganz ungeniert, »weil wir in schwierigen Zeiten zu Teheran gestanden sind«.
Seit der Wiederaufnahme der Atomgespräche in Genf, die am 7. und 8. November in die nächste Runde gehen, betonen diverse Fraktionen des Iran-Appeasement die »positive« Rolle, die Rohani während seiner Zeit als Chefunterhändler im Streit um die iranische Nuklearrüstung gespielt habe. Dabei hat er das Atomprogramm der Ayatollahs bis 2005 durch sein Verhandlungsgeschick entscheidend vorangebracht. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf wurde er nicht müde, seine Erfolge bei den Verhandlungen zu loben – zu Recht: Er habe Sanktionen vermieden, die von den USA gewünschte Überweisung des Iran-Dossiers an den UN-Sicherheitsrat verhindern können, den Zwist zwischen den USA und den europäischen Staaten verstärkt (was nun auch das öffentlich proklamierte Ziel Zarifs ist) und dafür gesorgt, dass am Ende seiner Zeit als Chefunterhändler 1 550 Zentrifugen mehr installiert waren als bei seinem Amts­antritt.

Bereits in einer Rede, die 2005 veröffentlicht wurde, hatte Rohani unverblümt über die iranische Taktik des Täuschens, Zeitschindens und Faktenschaffens geplaudert – was nichts daran geändert hat, dass er als neuer iranischer Präsident bei seinem Auftritt vor der Uno in New York fast völlig unwidersprochen behaupten konnte, der Iran habe bezüglich seines Atomprogramms nie den Weg der Täuschung und Heimlichtuerei gewählt. Auch andere Vertreter des Regimes haben schon früh sehr offenherzig über sein Kalkül gesprochen. Der langjährige iranische Botschafter in Deutschland, Hossein Mousavian, der vermutlich in so gut wie jeden Terroranschlag auf iranische Oppositionelle in Europa in den neunziger Jahren involviert war und im Oktober auf Einladung der Körber-Stiftung in Hamburg auftreten durfte, erklärte 2005 als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats des Regimes: »Dank der Verhandlungen mit Europa haben wir ein weiteres Jahr gewonnen, in dem wir die Anlage in Isfahan fertiggestellt haben.« In seinem 2012 erschienenen Buch »Iranian Nuclear Crisis« lobt Mousavian, dass das Verhandlungsgeschick von Rohani auch dazu geführt habe, den internationalen Druck »auf Israel zur Abrüstung« deutlich zu erhöhen. Dass Mous­avian heute nicht nur in der EU, sondern auch in den USA ein gefragter Gesprächspartner ist, zeigt, wohin die Reise unter der Präsidentschaft Rohanis gehen könnte.

Von den Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats war vor den Verhandlungen in Genf keine Rede mehr: In ihnen wird eine vollständige Beendigung der Urananreicherung im Iran gefordert, was auch zwingend notwendig wäre, um zu verhindern, dass dessen Regime die nukleare breakout capability erlangt. Offensichtlich ist nicht nur die EU zu so gut wie jedem faulen Kompromiss mit Khamenei bereit, der wenige Tage vor den neuen Verhandlungen abermals zur »Befreiung Palästinas« aufrief und das »kriminelle zionistische Netzwerk« neben den USA als »größten Feind« bezeichnete. Bis zum Beginn der Verhandlungen hat sich sowohl in der EU als auch in der US-Regierung niemand gefunden, der bereit gewesen wäre, die Kernforderungen Israels zu übernehmen oder zu unterstützen. Dazu gehören die vollständige und überprüfbare Beendigung der Urananreicherung, das Außerlandesbringen des bereits angereicherten Urans, die Schließung der unterirdischen Anlage in Fordo, der Abbau der hochentwickelten Zentrifugen in Natanz und die Beendigung der Arbeiten am Schwerwasserreaktor in Arak als Ziel der Verhandlungen. Ohne die Erfüllung dieser Forderungen wird dem iranischen Regime stets die nordkoreanische Möglichkeit offenstehen: Den Juche-Stalinisten ist der Schritt zur Bombe gelungen, nachdem sie 2005 ein aus langwierigen Verhandlungen hervorgegangenes, in fast der ganzen Welt als historischer Durchbruch gefeiertes Abkommen unterzeichnet hatten, mit dem das Atomwaffenprogramm aber nicht beendet, sondern lediglich beschränkt wurde.
Besonders auffällig ist, dass vom Schwerwasserreaktor in Arak, von dem selbst die iranischen Märchenerzähler nicht sagen können, welche Rolle er in einem »friedlichen Atomprogramm« spielen soll, und der 2014 betriebsfertig sein wird, in Genf bisher kaum die Rede ist. Sobald sich nukle­arer Brennstoff in Arak befindet, fällt die Anlage unter den Schutz der IAEO-Resolutionen. Sobald der Reaktor kritisch wird, ist er nur noch unter Inkaufnahme der Freisetzung radioaktiver Strahlung militärisch auszuschalten, weshalb die israelischen Angriffe auf den irakischen Reaktor in Osirak und auf das syrische Atomprogramm zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt sind. Das setzt Israel ebenso unter Zugzwang wie die Mitte September verkündete Entscheidung Wladimir Putins, nun doch jenes hochmoderne S-300-Luftabwehrsystem an den Iran zu liefern, das Russland bislang trotz bestehender Verträge mit dem Iran in Abstimmung mit Israel und den USA zurückgehalten hatte. Das iranische Regime hingegen will Zeit gewinnen, um die Welt hinsichtlich seiner nuklearen Fähigkeiten demnächst vor vollendete Tatsachen stellen zu können. Sollte sich der Westen tatsächlich von den taktischen Manövern der iranischen Machthaber täuschen lassen, wird das dramatische Folgen haben.