Die politische Krise in Tunesien verschärft sich

Die Zeit des Kamikaze

Die ersten Suizidattacken seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Ben Ali im ­Januar 2011 erschüttern Tunesien. Der nationale Dialog zwischen Islamisten und Opposition, der die seit Monaten andauernde politische Krise entschärfen soll, ist auf unbestimmte Zeit suspendiert.

Mittwoch voriger Woche um zwölf Uhr, in einem Buchladen in der Avenue Bourguiba in Tunis. »Ein Kamikaze hat sich vor einem Hotel in Sousse in die Luft gesprengt!« ruft eine schick gekleidete Frau um die 50 aufgeregt. »Und ein anderer hat das Mausoleum von Bourguiba in Monastir attackiert. Das sind keine Tunesier. Das sind Araber aus den Golfstaaten, aus Saudi-Arabien und Katar. Die wollen Tunesien zerstören.« Ein Buchhändler, die schütteren grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, mit großen Ringen an den Fingern und haufenweise Tattoos, sieht das anders: »Die kommen von hier. Aber jetzt ist auch klar, dass die Warnungen vor den Jihadisten, die man seit zehn Jahren kleinzureden versucht, nicht übertrieben waren.« Es ist die erste Suizidattacke in Tunesien seit dem 11. April 2002, als sich ein tunesischer Selbstmordattentäter von al-Qaida vor der Synagoge auf Djerba in einem mit Flüssiggas beladenen Kleinlaster in die Luft sprengte und etwa 20 Menschen in den Tod riss.
Nach und nach sickern die ersten Informationen durch. Um halb zehn, mitten in der touristischen Zone der Stadt Sousse, 140 Kilometer südlich von der Hauptstadt Tunis gelegen, versuchte ein junger Mann Anfang zwanzig, vom öffentlichen Strand auf den privaten des Hotels Riadh Palms zu gelangen. Die Wächter des Hotels wurden auf ihn aufmerksam und verjagten ihn, daraufhin sprengte er sich in die Luft. Keine weiteren Menschen wurden verletzt. Bald kursierten Bilder seiner verstümmelten Leiche im Internet, tags darauf wurden sie auf der ersten Seite vieler tunesischer Tageszeitungen gedruckt. Kurz nach der Explosion in Sousse gab das tunesische Innenministerium bekannt, in Monastir – 25 Kilometer von Sousse entfernt – sei ein 18jähriger verhaftet worden, der mit Sprengstoff im Rucksack in das Mausoleum von Habib Bourguiba, dem ersten Präsidenten Tunesiens nach der Erlangung der Unabhängigkeit, habe eindringen wollen. Keine Organisation bekannte sich zu den fehlgeschlagenen Anschlägen. Am Abend vermeldete das Innenministerium die Verhaftung von sechs mutmaßlichen Komplizen des Kamikaze von Sousse und veröffentlichte die Bilder von zwei weiteren Verdächtigen, beide ohne Bart und mit 20 bzw. 22 Jahren sehr jung.
Erinnerungen wurden wach: Ebenfalls in Sousse und Monastir waren am 2. August 1987, am Tag vor Bourguibas Geburtstag, vier Bomben in Hotels explodiert, die 13 Verletzte forderten. Einem im September 2011 auf der Website Tunisia-live.net veröffentlichten Artikel zufolge bestanden zwei neue, damals den Islamisten nahestehende Zeugen darauf, dass die Bewegung Islamischer Tendenz (MTI), die Vorläuferorganisation von al-Nahda, diese Anschläge organisiert hatte. Es folgte eine Repressionswelle gegen die damaligen islamistischen Anführer, die heute teils in Regierungsämtern sitzen.

Am Tag der fehlgeschlagenen Attentate stufte die Ratingagentur Fitch Tunesien von BB+ auf BB- herab, Prognose negativ. Die vorrangigen Gründe dafür sind Fitch zufolge politisch: Der Übergangsprozess verzögert sich weiter, die Unsicherheit über den Erfolg des Prozesses hat sich verstärkt. Die Ermordung zweier oppositioneller Politiker im Februar und Juli – Chokri BelaÏd und Mohammed Brahmi, beide scharfe Kritiker der die Regierung dominierenden islamistischen Partei al-Nahda und Mitglieder des linken Front populaire – hat zu einer politischen Krise geführt, die die politische Entscheidungsfindung lähmt. Angriffe und Tötungen durch terroristische Gruppen haben sich in den vergangenen Monaten gehäuft und verschlechtern die Sicherheitslage. Die zunächst für 2013 erwarteten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden verschoben. Der Ausgang der Verhandlungen zwischen Regierung und Oppositionsparteien zur Bildung einer Übergangsregierung, die Ende Oktober begonnen haben, bleibt ungewiss. Es ist unwahrscheinlich, dass Wahlen vor der zweiten Jahreshälfte 2014 stattfinden werden, sie sind auch kein Garant für künftige Stabilität inmitten der Risiken weiterer sozialer und politischer Zersplitterung. Die Verzögerungen beim politischen Übergangsprozess schaden der Wirtschaft, Fitch hat die Wachstumsprognosen für Tunesien auf 2,8 Prozent für 2013 und drei Prozent für 2014 gesenkt; die durchschnittliche Inflationsrate für 2013 wird auf sechs Prozent geschätzt. Soweit der nüchterne Blick von Fitch auf Tunesien.
Das etwas grob geschnitzte, düstere Szenario ist realistisch. Geht man in die Details, sieht es nicht besser aus. Die Ermittlungen in den Mordfällen Chokri BelaÏd und Mohammed Brahmi kommen nicht voran. Auf einer Pressekonferenz, die die seit gut einem halben Jahr auf eigene Faust ermittelnde Initiative zur Erforschung der Wahrheit über die Ermordung von Chokri BelaÏd (IRVA) am 2. Oktober abhielt, wurden schwere Anschuldigungen vorgebucht. Einer der mutmaßlich in das Attentat Verwickelten sei am Tag nach dem Mord an BelaÏd von der Polizei in seinem Haus umzingelt worden, aber es sei ein »Gegenbefehl« ergangen: Die Justizpolizei solle sich des Verdächtigen annehmen. Die Polizisten zogen demnach ab, der Verdächtige tauchte unter, der Justizpolizei blieb jede Mühe erspart. Außerdem kritisierte die IRVA ein angeblich von al-Nahda kontrolliertes, unter Ali Laarayedh in seiner Zeit als Innenminister entstandenes paralleles Netzwerk im Innenministerium, das in die Mordanschläge auf BelaÏd und Brahmi verwickelt sei – eine Anschuldigung, die der neue »unabhängige« Innenminister Lotfi Ben Jaddou, der nach dem Mord an BelaÏd im März diese Position von dem Islamisten und heutigen Ministerpräsidenten Laarayedh übernahm, scharf zurückwies.
Bereits Mitte September hatte die IRVA eine schriftliche Notiz aus dem Innenministerium veröffentlicht, nach der die CIA elf Tage vor dem tödlichen Attentat auf Mohammed Brahmi das Innenministerium gewarnt hatte, »einige ihr zur Verfügung stehende Elemente« deuteten auf einen Anschlag »salafistischer Elemente« auf einen Abgeordneten hin, der namentlich genannt wurde: Mohammed Brahmi. Aber im Innenministerium ging die Warnung der CIA irgendwie verschütt. Brahmi wurde aus Sicherheitskreisen nicht darüber informiert, dass sein Leben in Gefahr war; ein Schutz für ihn wurde nicht organisiert. Am 25. Juli wurde er vor seiner Haustür erschossen.

Auch im Polizeiapparat und im Innenministerium wachsen die Spannungen. Nachdem bereits Ende Juli Jihadisten acht Mitglieder von Nationalgarde und Armee in einem Hinterhalt auf dem Berg Chaambi nahe der algerischen Grenze in einem Hinterhalt getötet hatten, erklärte die tunesische Regierung einen Monat später die salafistisch-jihadistische Organisation Ansar al-Sharia, die sie auch für die Ermordung von Chokri BelaÏd und Mohhamed Brahmi verantwortlich macht, zur terroristischen Vereinigung. In den vergangenen Wochen eskalierte die Lage weiter. Am 17. Oktober kamen bei einem Feuergefecht in Goubellat zwei Nationalgardisten und sechs Jihadisten ums Leben, von der Trauerzeremonie in der Kaserne l’Aouina nahe Tunis verscheuchten gegen die Regierung protestierende Sicherheitskräfte den Übergangspräsidenten Moncef Marzouki und den Ministerpräsidenten Ali Laarayedh mit dem berühmten, ursprünglich auf den im Januar 2011 gestürzten autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali gemünzten Ruf »Dégage!« (Hau ab!).
Am 23. Oktober erschossen in Sidi Ali Ben Aoun in der Provinz Sidi Bouzid im Landesinnern Jihadisten sechs Nationalgardisten, als diese ein Haus durchsuchen wollten, in dem später nach Angaben der Behörden hunderte Kilogramm Sprengstoff gefunden wurden. Auch ein junger Offizier mit dem Vornamen Socrate kam dabei ums Leben, worauf der Spruch kursierte: »In Tunesien haben sie Sokrates erschossen.«
Das Konterfei von Socrate war omnipräsent auf der Demonstration mit einigen hundert Beteiligten, die eine Polizeigewerkschaft am Dienstag vergangener Woche in Tunis vor dem Innenministerium abhielt. Zu den Forderungen der Demonstranten gehörten bessere Ausrüstung, aber auch die Wiedereinstellung von Sicherheitskräften, die nach dem Sturz von Ben Ali entlassen wurden und durch al-Nahda Nahestehende ersetzt worden seien. Nach Angaben von Le Monde wurde vor dem Innenministerium der kürzlich von Jihadisten Erschossenen gedacht, aber auch der Sicherheitskräfte, die bei dem Aufstand gegen Ben Alis Polizeistaat ums Leben gekommen waren. Ein stämmiger Grauhaariger wurde von Demonstranten vertrieben. »Der ist von al-Nahda«, sagte ein Teenie mit Basecap. »Das ist ein Böser.«
Doch die Polizeikräfte machen nicht nur mit ihrer Kritik an der Regierung Schlagzeilen. Am Freitag voriger Woche wurde Walid Danguir, ein 32jähriger aus einem armen Stadtteil von Tunis, von der Polizei offenbar wegen Drogengeschichten verhaftet. Tags darauf war er tot. Sein Körper trug Folterspuren. Und so verhält es sich mit dem von der Opposition erhofften Ende der sich immer weiter verlängernden islamistischen Regierungszeit wie in dem amerikanischen Bonmot: Sieht man das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels, kann es auch von einem Güterzug stammen, der einem entgegenrast.

Unterdessen ist der sogenannte nationale Dialog zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien auf dem besten Weg zu entgleisen. Er soll zur Ablösung der von den Islamisten dominierten Regierung durch eine Neuwahlen organisierende Technokratenregierung und zu der seit einem Jahr überfälligen Verabschiedung einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes führen. »Wir haben keinen Konsens über die Person erreicht, die die Regierung leiten soll«, befand am Dienstag der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT, der als wichtigster Vermittler in der politischen Krise fungiert. »Wir haben beschlossen, den nationalen Dialog zu suspendieren, bis es ein für seinen Erfolg günstiges Terrain gibt.« Nach endlosen Verhandlungen hatte Ministerpräsident Laarayedh Ende Oktober zugestimmt, seinen Posten zu verlassen. Al-Nahda besteht darauf, Ahmed Mestiri als neuen Regierungschef zu instal­lieren, einen 88jährigen, der bereits unter Bourguiba als Minister fungierte und den die Oppo­sition als zu alt und zu schwach für den Posten erachtet. »Wir sehen keine Alternative zu Mestiri«, bekräftigte Rachid Ghannouchi, der Vorsitzende von al-Nahda, nach dem Scheitern der Gespräche. Die regierende Dreierkoalition, »insbesondere al-Nahda, hat den Dialog scheitern lassen«, sagte Hamma Hammami, Sprecher des linken Front populaire. »Sie versuchen mit allen Mitteln, an der Macht zu bleiben.«