Die drohende Verschärfung der Sozialgesetze

Einfacher schikanieren

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe schlägt vor, wie den Empfängern von Arbeitslosengeld II das Leben noch schwerer gemacht werden könnte.

Vereinfachung – das Wort klingt gut. Wer hat es nicht gern einfacher, also irgendwie angenehmer und besser? Seit einem Jahr befasst sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz des Bundesrats mit Vorschlägen zur »Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II«. Doch angenehmer und besser wird es für die Personen nicht, auf die die Vereinfachung abzielt. Empfänger von Arbeitslosengeld II müssen sich stattdessen auf empfindliche Verschärfungen der bestehenden Sozialgesetze gefasst machen. Wie sich nach der jüngsten Veröffentlichung eines Zwischenberichts der Arbeitsgruppe herausgestellt hat, verbergen sich hinter den »Vereinfachungen« zahlreiche Vorhaben, die große finanzielle Einschnitte und eine weitere Beschneidung der Rechte von ALG-II-Empfängern mit sich bringen würden.

Harald Thomé, Dozent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht aus Wuppertal und Gründungsmitglied des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tacheles e. V., hat den Zwischenbericht veröffentlicht. Bei dem internen Dokument, das Thomé »von Dritten zugesandt« wurde, wie er im Gespräch mit der Jungle World sagt, handelt es sich um das vorläufige Ergebnis der Verhandlungen der Arbeitsgruppe. Diese wurde offiziell ins Leben gerufen, um den Beschwerden von Jobcentern und Sozialgerichten über den hohen bürokratischen Aufwand bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu begegnen. Die Arbeitsgruppe setzt sich zusammen aus Vertretern des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesländer und kommunaler Verbände wie dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städtetag. Herausgekommen sind 124 Vorschläge, die nach Thomés Einschätzung einen »Horrorkatalog« darstellen: »Hier finden sich die Wünsche der beteiligten Akteure nach einer erheblichen Verschärfung der Hartz-IV-Gesetzgebung wieder. Die Umsetzung dieser Vorschläge würde eine deutliche Schwächung der Rechtsposition von ALG-II-Beziehern bedeuten.«
So verbirgt sich hinter der vom Deutschen Landkreistag und den Ministern der Länder Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz eingebrachten Forderung nach einer »gesetzlichen Vermutung der Bedarfsdeckung« der Plan, eine Art Sippenhaftung einzuführen. Menschen, die mit ALG-II-Beziehern in einem Haushalt leben, soll unterstellt werden, dass sie für den Arbeitslosen aufkommen können. Sollte dies nicht der Fall sein, müsste der Bezieher der Leistungen dies beweisen. Auch wenn es um die Gewährung von sogenannten Mehrbedarfen für Alleinerziehende geht, hat der Bericht eine deutliche Tendenz. »Um Fehlanreize zu vermeiden«, soll Mehrbedarf nach Vorstellungen der Vertreter von Rheinland-Pfalz und Niedersachsen künftig nur noch Alleinerziehenden gewährt werden, die erwerbstätig sind und ihr Einkommen mit ALG II aufstocken. Bislang haben alle Alleinerziehenden einen Anspruch auf Mehrbedarf.
Die Liste der »Vereinfachungen« ist noch länger: Das Recht auf freie Wohnungswahl soll eingeschränkt werden, »bei einem Umzug ohne Zustimmung wird stets nur der bisherige Bedarf weitergezahlt«, heißt es unter Punkt 39 des Dokuments. Der Auszug aus der Wohnung der Eltern soll Personen unter 25 Jahren erschwert werden. Außerdem sollen die Möglichkeiten zur Aufstockung des monatlichen Einkommens durch Minijobs begrenzt werden. Auch Selbständige, die ALG II beziehen, müssen mit Verschärfungen rechnen. Ihnen soll einem Vorschlag des Landes Sachsen-Anhalt zufolge eine zweijährige Frist gesetzt werden, nach der sie den Nachweis der Rentabilität ihrer Tätigkeit erbracht haben müssen. Sollte dies nicht der Fall sein, drohen Zwangsmaßnahmen und das Ende des Leistungsbezugs.

Insbesondere die hohe Zahl erfolgreicher Klagen gegen Bescheide und Maßnahmen der Jobcenter dürfte der Arbeitsgruppe ein Ärgernis gewesen sein. Erst im September wurden neue Rekorde bei der Zahl von Klagen und Widersprüchen verzeichnet, von denen der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linkspartei zufolge ungefähr 44 Prozent zumindest teilweise erfolgreich sind und nur jede zehnte als unbegründet abgewiesen wird. Insgesamt sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fast 400 000 Klagen und Widersprüche vor den Sozialgerichten anhängig.
Die Vertreter von Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz haben nun Vorschläge zur Beschränkung des Widerspruchsrechts gemacht. Sie wollen, dass die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Klagen gegen Sanktionsbescheide der Jobcenter abgeschafft wird, diese sollen in Zukunft schon vor Bearbeitung der Beschwerden vollstreckt werden können. Im Fall von Klagen und Widersprüchen soll künftig eine pauschale Gebühr von 20 Euro erhoben und die bislang gesetzlich festgeschriebene Kostenfreiheit für Verfahren bei Behörden aufgehoben werden. Auch die geplante »Einführung einer kostenfreien Mediation oder eines Schiedsverfahrens mit Anwesenheitspflicht für den Kläger« soll offensichtlich vom Gang zum Anwalt abschrecken.
»Das Kalkül hinter diesen Plänen ist klar«, sagt Thomé. »Die Erstellung fehlerhafter Bescheide zuungunsten der Betroffenen geschieht oft nicht aus Zufall, sondern vorsätzlich. Man spekuliert darauf, 95 Prozent davon abzuhalten, Widerspruch einzulegen, und nimmt in Kauf, dass ein Großteil der übrigen fünf Prozent vor Gericht erfolgreich sein wird. Hier liegt systematisch rechtswidriges Verhalten der Jobcentern vor.«
Zwar handelt es sich nur um eine Sammlung von Vorschlägen, die Arbeitsgruppe will ihre Arbeit aber Anfang 2014 fortsetzen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern erscheint eine Verwirklichung der Pläne im Lauf durchaus möglich. Die aktive Rolle sozialdemokratisch regierter Länder wie Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bei der Erstellung des Maßnahmenkatalogs lässt erahnen, dass sich die Sozialdemokraten in einer möglichen großen Koa­lition mit der CDU nicht gegen eine Verschärfung der Hartz-IV-Gesetze aussprechen werden.

Befragt nach dem Papier, hält man sich bei der SPD-Bundestagsfraktion mit Hinweis auf die laufenden Koalitionsverhandlungen bedeckt. Ein Mitarbeiter der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, die der sogenannten Parlamentarischen Linken in der Fraktion angehört, beteuerte jedoch im Gespräch mit der Jungle World, dass man sich gegen weitere Verschärfungen einsetzen werde. Vieles hänge von den fraktionsinternen Machtverhältnissen zwischen Rechten und Linken ab, die aber noch nicht geklärt seien. Nach Einschätzung von Thomé würde es in jedem Fall einen Unterschied machen, wenn der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel oder Andrea Nahles als Vertreterin des sogenannten linken Flügels das Arbeits- und Sozialministerium übernehmen würde. Von der Veröffentlichung des Papiers, für die er »eine sehr deutliche Missfallensbekundung von staatlicher Seite« erntete, erhofft Thomé sich den Beginn einer kritischen Debatte über die anstehende Fortsetzung des Sozialabbaus. So möchte er den politischen Preis für das Vorhaben in die Höhe treiben und Druck auf die Verantwortlichen ausüben. Die Aussichten für einen starken gesellschaftlichen Protest, zu dem das Infoportal gegen-hartz.de und andere Initiativen nach Bekanntwerden der Vorschläge aufriefen, bewertet Thomé jedoch nüchtern: »Momentan sind die Betroffenen vor allem erschlagen von ihren Lebensumständen und der Aussicht auf eine weitere Verschlechterung der Situation.«