Deutsche Dörfer II: Schneeberg

Schneeberg: »Wir sind das Volk!«

Mit der Forderung nach echter Demokratie hetzen im Erzgebirge Bürger und Nazis weiter gegen Flüchtlinge.

Es ist Samstagabend in Schneeberg. In der tristen Provinzstadt im Erzgebirge mit knapp 15 000 Einwohnern, in der man sonst kaum jemanden auf der Straße sieht, haben sich rund 2 000 Menschen vor dem Rathaus versammelt, um gegen die vor kurzem eingerichtete Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende zu demonstrieren. Sie sind der NPD gefolgt, die unter dem Deckmantel der Bürgerinitiative »Schneeberg wehrt sich!« zum zweiten »Lichtellauf« aufgerufen hat und damit erfolgreich die Ressentiments der lokalen Bevölkerung bedient.
Das Geschehen in Schneeberg steht in einer Reihe mit fremdenfeindlichen Protesten, die derzeit in Ostdeutschland wieder Konjunktur haben. Die steigende Zahl der Asylanträge führt zur Überbelegung und Neuschaffung von Flüchtlingsunterkünften, anlässlich dessesn haben sich zuvor bereits in anderen Städten ähnliche Bürgerinitia­tiven gegründet. Protest, den die NPD gern aufgreift und mancherorten, wie in Schneeberg, selbst initiiert.
Nachdem sich dort Anfang Oktober zunächst etwa 50 Neonazis unangemeldet versammelt hatten, rief Stefan Hartung, Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Erzgebirge, eine Woche danach auf Facebook zur ersten Kundgebung auf, der sich mehr als 1 000 Menschen anschlossen. Seitdem wird täglich über die Flüchtlinge diskutiert. Obwohl nur wenige Kontakt zu ihnen suchen und sie im Alltag kaum präsent sind, verbreiten sich Gerüchte in Windeseile und finden in den Kommentarspalten auf Facebook ihre Bestätigung. »Die scheißen bei einem auf die Treppe, die stehen in meinem Grundstück drinne, die klauen Kinderspielzeug«, tobte ein Bürger auf einer Informationsveranstaltung der Stadt.
Sauberkeit, Disziplin und Ordnung sind die Kardinaltugenden, die viele Schneeberger durch die Asylsuchenden in Frage gestellt sehen. Ressentiments, die sich bereits vor drei Jahren Geltung verschafften, als für kurze Zeit mazedonische Sinti und Roma in der Stadt untergebracht wurden und Bürgermeister Frieder Stimpel (CDU) einen Anstieg der Kriminalität nicht ausschließen wollte. Damals wurde er vom Zwickauer Polizeichef zur Ordnung gerufen, der derartige Befürchtungen für verantwortungslosen Blödsinn hielt und feststellte, dass Asylsuchende alles andere als kriminell seien.

Doch von Fakten lässt sich die versammelte Masse auch heute nicht beeindrucken. Man wähnt sich als betrogene Gemeinschaft und von der Presse zu Unrecht als Nazis, Rassisten und Fremdenfeinde verunglimpft, wie Hartung an diesem Samstag in seinem Redebeitrag ausführt. Tatsächlich kommen etwa zwei Drittel der Anwesenden aus dem organisierten Neonaziumfeld und sind zum Teil aus anderen Regionen angereist. Die anderen Teilnehmer, überwiegend Jugendliche und Familien mit Kindern nehmen an den Neonazis offenbar keinen Anstoß. Für sie steht das gemeinsame Interesse, die Flüchtlinge wieder loszuwerden, im Vordergrund. Die NPD kommt ihnen entgegen, indem sie immer wieder den parteiunabhängigen Charakter der Veranstaltung in den Vordergrund rückt und auf sichtbare Parteisymbolik bewusst verzichtet.
Mit einem herzlichen Glück auf! begrüßt Mario Löffler, ehemaliger Landesvorsitzender der NPD, die erregte Menge, die er mit der Forderung nach direkter Demokratie und Volksentscheiden auf allen parlamentarischen Ebenen für sich zu gewinnen sucht. »Wir von der NPD-Landtagsfraktion lassen euch mit euren Problemen nicht allein«, stellt er am Ende seiner Rede klar. Seit Jahren arbeitet die Partei in der Region an ihrem Image als heimatverbundener Kümmerer und greift dabei auf regionale Traditionen zurück. Hartung und Löffler verfolgen das Konzept der »seriösen Radikalität« und sprechen damit gleichermaßen national-revolutionäre Kameraden wie auch bornierte Kleinbürger an, wie sich auf dem Schneeberger Markt gut beobachten lässt. Beim anschließenden Umzug marschieren Nazis und andere Bürger gemeinsam mit Fackeln und Lampions in der Hand und dem Ruf »Wir sind das Volk!« auf den Lippen durch die Stadt. Ein Mobilisierungserfolg für die NPD, die zuletzt mit schlechten Wahlergebnissen und Parteiaustritten zu kämpfen hatte. Die nächste Demonstration ist bereits angemeldet.

Was die unterschiedlichen Teilnehmer eint, ist das Fehlen jeglicher Empathie gegenüber der Lebens- und Leidensgeschichte der Menschen, die oftmals unter lebensbedrohlichen Umständen nach Europa flüchteten. Dass viele hier kein besseres Leben fanden, sondern lediglich mit passiven Rechten ausgestattet, ohne Arbeitserlaubnis und von der Bevölkerung isoliert, in meist schäbigen und überfüllten Massenunterkünften der ungewissen Zukunft entgegendämmern, wollen sie nicht wissen. Jeder Fremde ist ihnen potentiell ein Schädling an der Gemeinschaft, der Geld bekommt, ohne dafür zu arbeiten, und eine Bedrohung der eigenen fragilen sozialen Existenz darstellt.
Die unverstandenen Ängste und das gesellschaftlich gestiftete Bedürfnis nach Besitzstandswahrung treiben die Spießbürger sowohl zum Neid als auch zum Hass auf das Fremde und zur Flucht in die verpanzerte Gemeinschaft der sich als bedroht, betrogen und zu kurz gekommen Wähnenden. Indem man die »Fremden« als faul und dennoch besitzend imaginiert – »Die haben doch alle iPhones und schlafen bis nachmittags« – will man sich selbst als ehrliches, ordentliches und diszipliniertes Mitglied der Gemeinschaft verstanden wissen. Damit auch mal richtig durchgegriffen werden kann, will man sich der lästigen Vermittlungsinstanzen der bürgerlichen Gesellschaft entledigen. Die Forderung Hartungs nach direkter Demokratie ist folgerichtig: »Wir erkämpfen uns unsere demokratischen Rechte und zeigen der Politik, wer hier in unserer Heimat und in unserem Land wirklich das Sagen hat!«
Angesichts dessen sind die Reaktionen der »Zivilgesellschaft«, die den Protesten »authentische Erzgebirgskultur« entgegensetzen und den Missbrauch ihrer Traditionen verhindern will, bestenfalls hilflos. So luden die Grünen am Vortag zum »Hutzenobnd für Menschlichkeit«, um die Bevölkerung mit »heimatverbundenen Liedern gegen rechtsextremistisches Gedankengut zu immunisieren«. Bürgermeister Frieder Stimpel wiederum befürchtet vor allem einen Imageschaden und ausbleibende Touristen für das wichtige Weihnachtsgeschäft. Nicht ohne Grund: Es gab bereits Meldungen, dass Reiseveranstalter dieses Jahr das Schneeberger »Lichtelfests« am 2. Advent aus ihrem Programm gestrichen haben. Stimpel wünscht sich die Rückkehr der Ruhe, die vor drei Jahren mit der »freiwilligen Ausreise« der letzten Flüchtlinge eingekehrt ist: »Unser Kleinstadtcharakter sollte nicht überstrapaziert werden.«
Einer antifaschistischen Demonstration unter dem Motto »Refugees Welcome!« folgten am selben Tag etwa 600 Menschen in die Provinz. Sie warnten vor allem vor dem Gewaltpotential des rassistischen Mobs. Doch mit der Realität vor Ort konfrontiert, zeigen sich die routinierte Selbstbezüglichkeit der antifaschistischen Wochenendintervention und ihr skandalisierendes Analysemuster. In Schneeberg droht kein ausländerfeindliches Pogrom wie einst in Rostock, das die Polizei heutzutage ohnehin verhindern würde, sondern die Selbstermächtigung deutscher Fremdenfeinde per Bürgerentscheid. Dass die Forderung nach »echter Demokratie« effektiver ist als dumpfe Gewalt, hat die lokale NPD bereits vor drei Jahren gelernt (Jungle World 1/2011). Damals war das Ergebnis einer von NPD-Stadtrat Rico Illert initiierten Bürgerversammlung die Schließung der Erstaufnahmeeinrichtung.