Berlin Beatet Bestes. Folge 217

Herz, was willst du mehr

Berlin Beatet Bestes. Folge 217. Alarm: Die schönste Zeit im Leben (1978).

Dass Kinder nicht nur in der DDR politisch agitiert wurden, sondern auch in West-Deutschland, hat Richard David Precht in seiner Autobiographie »Lenin kam nur bis Lüdenscheid« beschrieben. Wer die Kindheit in den siebziger Jahren nicht ausgerechnet in einer CDU-Familie verbringen musste, wird vermutlich irgendwann mit dem Grips-Theater in Berührung gekommen sein. Meine Freundin, die in West-Berlin aufwuchs, ist stolz darauf, immer noch Lieder aus Stücken auswendig zu kennen, die sie dort damals gesehen hat: »Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind (der spinnt)«, »Meins oder Deins«, »Doof geboren ist keiner«. Mit Recht, denn an den Inhalten ist trotz der angestaubten Agit-Prop-Masche nichts auszusetzen. Als Hamburger besuchte ich mit meiner Familie regelmäßig das Klecks-Theater. In dem linken Kindertheater spielte Jan Fedder viele Jahre lang, bevor er durch das »Großstadtrevier« bekannt wurde.
Eine Grips-LP schaffte es sogar in unsere Siebziger-Jahre-Kinderzimmer, die vermutlich mein Onkel, der in West-Berlin studierte, mitgebracht hatte. Das Theaterstück »Balle Malle, Hupe und Arthur« erschien 1972 als Hörspielplatte im Verlag Klaus Wagenbach. Schon als Kind befremdeten mich allerdings die Abbildungen von Lenin und Hans-Martin Schleyer auf dem Cover (mit angemaltem Bart und Augenklappe).
Vergangene Woche stieß ich auf eine weitere Platte aus einer Grips-Theaterproduktion. »Die schönste Zeit im Leben«, ein sogenanntes Jugendstück, entstand 1978. Außer Heinz Hoenig, der übrigens genau wie Fedder 1981 durch den Film »Das Boot« bekannt wurde, kenne ich keinen der damaligen Schauspieler. Beide singen auf den vier Stücken der EP und werden von der Rockgruppe Alarm begleitet. Richtig lustig ist der Boogie »Herz, was willst du mehr (Punk)«:

»Ich steh in der Scheiße/Ich seh’ kein Licht/Über mir steht Schweinchen Schlau und kackt mir ins Gesicht (…)/Ich ritze mit dem Messer/ein Lied in meine Haut/Ich bin punk/Ich bin krank/Ich bin out/Ich hab genug zum Hassen/Ich hab genug zum Treten/Ich hab genug zum Kotzen/Herz, was willst du mehr.«

Überraschend berührt hat mich der von Christina Grabowsky glasklar und leicht lispelnd vorgetragene Titelsong, eine wunderschöne, traurige Protestballade, irgendwo zwischen »Cello« von Udo Lindenberg und »Am Tag als Conny Cramer starb« von Juliane Werding:

»Meine Mutter sagt/die Jugendzeit/ist die schönste Zeit im Leben/Du bist hoffnungsfroh/jung und verliebt/– det Schönste, was es gibt/Genieß diese Zeit, so gut es geht/Sie ist verdammt kurz, und dann ist es zu spät/
Die schönste Zeit im Leben/die war noch gar nicht dran/Die müssen wir uns nehmen/sonst fängt sie niemals an/Die ganzen hohlen Sprüche/von Gleichheit und Demokratie/von Freiheit und Gerechtigkeit/die nagelt euch ans Knie/solang ihr Hunderttausende von uns/glatt auf die Straße setzt/und sagt: »Haltet’s Maul, in zehn Jahr’n vielleicht/gibt’s mehr Arbeit als jetzt!«

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.