Auszug aus »Nichts Böses. Erzählungen«

Du bist raus

Eine Gruselgeschichte mit linken ­Demonstranten und leisen Polizisten.

Innen an den Scheiben des Wintergartens kleben Papierblumen.
Das Haus liegt auf einer niedrigen Kuppe im Wald, zwischen Nadelbäumen und zwei kleinen, stillen Seen. Es ist alles andere als bequem, hier zu wohnen. Zum Einkaufen muss man 15 Kilometer weit fahren. Man kann nie ausgehen, nicht in den Club, nicht ins Kino, aber wann macht man das schon noch. Dafür wird man Leute um sich haben, denn es ist ein Tagungshaus. Täglich oder wenigstens wöchentlich trifft man interessante Menschen, engagierte Menschen, Gewerkschafter, politische Jugendliche, Kulturschaffende. Natürlich auch Wandervereine, Heimatpfleger und Kegelclubs, und auch von denen kannst du das eine oder andere über Menschen im Allgemeinen lernen. Du bist nicht mehr in dieser Weise borniert, dass du wegen ihres Lebensstils oder der Gesellschaft, mit der sie sich umgeben, über andere Leute urteilst.
Auf jeden Fall bist du damit endlich raus. Das ist dein gar nicht so geheimer Grund dafür, mit Nadja hier in die Tagungsstätte zu ziehen: Du willst draußen sein, so weit weg von allem, dass die anderen euch erst abschreiben und dann vergessen, dass niemand euch mehr anruft, nicht mal eine SMS schreibt, wenn mal wieder ein Einsatzbefehl rausgeht. Einsatzbefehl, das ist deine gar nicht so ironische Bezeichnung dafür, wenn wieder mal eine politische Aktion ansteht. Hier draußen gibt es keine Räumungen besetzter Häuser, keine Demos direkt um die Ecke, bei denen es auch von deiner Teilnahme abhängt, ob der 1. Mai ein politischer Tag bleibt, ob Mumia Abu Jamal weiterleben darf oder ob ein Zeichen gesetzt wird gegen Polizeistaat und Sozialabbau.
Hier rauscht es im September kalt in den Bäumen, hier muss man sich nachts vor den Wildschweinen in Acht nehmen, die den Boden zerwühlen, hier zappeln Kaulquappen in verdunstenden Pfützen. Aber die Polizei ist weit weg und wird dich hier niemals finden.
»Was hältst du von der Sache?« fragt dich Nadja auf der Rückfahrt nach Berlin.
»Ich will da arbeiten«, antwortest du. »Und leben. Mit dir zusammen.« Und du drückst ihren Arm und spürst, wie sie lenkt, und du lächelst in eure Zukunft, als wärst du auf dem Weg und nicht auf der Flucht.

Eine Woche vor eurem Umzug ins Tagungshaus im Wald, als ihr noch immer nicht alles gepackt habt, kommt der Einsatzbefehl. Er kommt per Facebook – nimmst du teil, ja/vielleicht/nein –, per Twitter, per SMS und dann kommt er zu deinem Verhängnis auch per Nadja. Zornesflecken treten ihr auf Stirn und Wangen, als sie berichtet, während du nickst und so tust, als hörtest du zum ersten Mal von der Sache. Die Wolterstraße soll geräumt werden, und diesmal ist es wirklich ganz klar und einfach: Jeder, der heute Abend bei der Solidemo ist, ist ein messbares politisches Wirkungsquant, ein lebender, lachender, kämpfender Beitrag zum Erhalt eines Freiraums zum selbstbestimmten Leben. Und nur, weil du die meisten dieser Worte schon seit Jahren nicht mehr ohne einen ironischen Unterton denken kannst, werden sie dadurch nicht weniger wahr.
»Das ist doch wirklich so richtig scheiße«, sagt Nadja, »das ist doch einfach mal eine authentische Schweinerei.«
»Ja«, antwortest du widerstrebend. Nadja schaut dich überrascht an, sie hat erwartet, dass du einen lakonischen Spruch bringst, eine deiner kunstvollen verbalen Rechenoperationen, mit denen man sich selbst aus der politischen Gleichung kürzt. Aber dir fällt nichts Passendes ein, und außerdem willst du jetzt, vor eurem gemeinsamen großen Schritt nach draußen, noch einmal Mut und Aufrichtigkeit unter Beweis stellen.
»Ja«, wiederholst du also wahrheitsgemäß. »Das ist echt eine Schweinerei.«
Nadja überlegt kurz. »Das Wetter ist allerdings scheiße«, sagt sie, um dir noch eine Chance zu geben, aus der Sache rauszukommen. Sie weiß genau, was du für ein Gesicht machst, wenn du tapfer zu sein versuchst, wie jetzt gerade.
Tatsächlich fällt Schneeregen, und du bist sowieso schon erkältet, aber das sind keine vernünftigen Hinderungsgründe. Willst du vielleicht, dass die Wolterstraße wegen deiner Triefnase geräumt wird? Nein, das willst du nicht, und Nadja will es auch nicht.
»Ach komm, wir gehen hin. Ist doch keine große Sache«, sagst du. »Anderswo auf der Welt wird auf Demonstranten geschossen.«
Es gibt trotzdem einen sehr guten Grund dafür, dass du nicht zu der Solidemo »Wolterstraße bleibt!« willst und dass du dir schon beim Gedanken daran den Zahnschmelz wegknirschst. Nämlich die Polizei. Aber davon kannst du Nadja nichts sagen, und deshalb zählt das nicht.

Damals, als die Polizei auf dich aufmerksam geworden ist, war alles noch ein Spiel. Du warst sieben oder acht und wusstest, was für eine ernste Sache ein Spiel ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten hast du das bis heute nicht vergessen.
David hat das Spiel erfunden. Er wohnte an einer kopfsteingepflasterten Straße in einem Wohngebiet, auf der man die vereinzelten Autos aus 50 Meter Entfernung anrollen hörte. Die Autos waren Postkutschen, und ihr wart Indianer, die die Postkutschen mit Speeren bewarfen und ausraubten. Von David hast du gelernt, dass die Indianer die Guten waren und nicht die Cowboys. Ansonsten hast du nichts über Cowboys und Indianer gewusst, weil es bei dir zu Hause keine Western gab, sondern tschechische Kinderfilme um Aschenbrödel und so. Da du also offenbar sehr viel schlechter informiert über die ganze Sache warst als David und da David dein bester Freund war, hast du ihm geglaubt, auch als er erklärt hat, was ihr als gute Indianer zu tun habt, wenn die Postkutsche kommt. Ihr habt also mit euren Speeren, die natürlich nur krumme Stöcke aus dem Garten waren, in der Garagenauffahrt gestanden, und als ihr gehört habt, wie die erste Postkutsche anrollte, habt ihr eure Indianerkriegsschreie ausgestoßen. Die 50 Meter, die das Auto heranrollte, kamen dir plötzlich wahnsinnig kurz vor. Mit einem Mal war die Postkutsche da, und du hast, wie David es erklärt hat, deinen Speer geworfen. Seltsam schwerelos flog er, fast als hätte die Luft ihn dir aus der Hand gepflückt wie das Schirmchen einer Pusteblume, und im selben Moment wusstest du, dass etwas nicht stimmte. Obwohl es nur ein krummer Stock war, ist er gerade seinem Ziel entgegengesaust und scheppernd auf die Motorhaube der Postkutsche geknallt, die mit einem Mal ein blaues Auto war. Das Auto hielt mit quietschenden Reifen. Das Geräusch war so laut und schrill, dass alle Häuser der Straße sich davon zusammenfalteten. Die Fahrertür ging auf, und heraus kam ein dicker, brüllender Mann mit Glatze und blutrotem Gesicht. In der Stirn des Mannes steckte vertikal eine handtellergroße Glasscherbe, die sich bewegte wie ein zuckender Stachel, weil er sein Gesicht beim Brüllen so verzog.
»Ich hol die Polizei!« brüllte er.
Nachdem er eine Weile vor euch gestanden und gebrüllt hat und du ihn angestarrt hast, hast du gemerkt, dass es keine Glasscherbe in seiner Stirn war, sondern nur Schweiß, der in der Sonne glänzte, und dass sein Gesicht rot vom Blut unter der Haut war und nicht vom Blut auf der Haut. Du hast zwar das Bild vor Augen, wie der Stock seine Scheibe getroffen hat und die Scherben sich wie die Finger einer Hand dem Himmel entgegengestreckt haben und dann von der Welt zurückgezogen worden sind und wie eine davon dem Mann mitten in die Stirn gefahren ist, aber du weißt auch, dass das nicht passiert ist, dass der Mann auch gar nicht hätte aussteigen und euch anbrüllen können, wenn das passiert wäre.
Schließlich hörte der Mann auf zu brüllen und stieg unvermittelt wieder in sein Auto ein. Bevor er losfuhr, schaute er noch einmal aus dem Fenster, zu dir. Er lächelte und sagte bedächtig, als wäre ihm gerade ein ganz neuer Gedanke gekommen: »Ich rufe die Polizei.«
Als er weggefahren war, hat David sich zu dir umgedreht und dich kalt angeschaut. »Und was machen wir, wenn er wirklich die Polizei ruft?« hat er gefragt.
Verzweifelt hast du Ausflüchte hervorgestammelt, hast behauptet, der Stock sei dir aus der Hand gerutscht. David, der dir gesagt hat, dass du werfen sollst, hast du keinen Vorwurf gemacht, denn dann hättest du ja zugeben müssen, dass du zu blöd warst, um den Unterschied zwischen Spiel und Ernst zu begreifen. Du hättest dich als Spielkamerad untragbar gemacht.
David hat dir nicht geglaubt. Die Kälte blieb noch eine Weile in seinem Blick, und heute fragst du dich manchmal, ob es eigentlich widerwillige Bewunderung war. Nach ein, zwei Wochen, in denen die Polizei sich nicht hatte blicken lassen, schien er das Ganze dann zu vergessen.

Ihr schließt eure Räder ein gutes Stück abseits der Auftaktkundgebung an und geht dick eingemummelt durch die lebendigen Straßen. Es ist Abend, der Schneeregen hat aufgehört, das Licht der Straßenlaternen schwimmt in den Schlammpfützen. Es riecht nach Döner und Bier. Eine Straßenzeitungsverkäuferin, die du aus der U-Bahn kennst, die mit der strengen Stimme und der ledrigen Haut, die seit jeher einen unbestimmt politischen Eindruck auf dich gemacht hat, geht herum und sammelt leere Bierflaschen ein. Eine fröhliche Unruhe liegt in der Luft, wie von Menschen, die sagen: »Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht« und das auch aus tiefstem Herzen meinen. Polizisten in klobigen Monturen scherzen am Straßenrand und werfen euch desin­teressierte Blicke zu. Ihr seid ein Paar um die Dreißig, man sieht euch an, dass ihr nur aus Solidarität und zur Pflichterfüllung hier seid – ihr werdet mitlaufen, vielleicht sogar die eine oder andere Parole rufen, euch, wenn es hart auf hart kommt, an eurem Nebenmann festhalten, und – wir nehmen es ganz genau – auch an eurer Nebenfrau. Mehr nicht.
Trotzdem verstärkt sich deine Unruhe, als du siehst, wie fröhlich und sorglos Nadja ihre ehemaligen Mitbewohner begrüßt und mit ihnen ein lachendes Vierergrüppchen bildet. Sie weiß ja nicht, dass jeden Moment die Polizei auftauchen kann, um dich zu holen. Die andere Polizei, nicht diese gelangweilten Demobullen. Hastig nimmst du ihre Hand und drückst sie durch den Handschuh, damit sie nicht einfach weggehen und dich allein lassen kann.
Sie wirft dir ein ermutigendes Lächeln zu, und in ihrem Blick liegt eben der unheilvolle Gedanke, der die Luft schwängert: Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht.

Die Polizei, vor der du dich fürchtest, das sind natürlich nicht diese Leute in den klobigen Monturen. Auch vor denen hast du gehörigen Respekt, aber die eigentliche Polizei ist kleiner und leiser. Sie hat dünne Glieder und spitze Münder und Augen wie Mandarinen, und man sieht sie nur, wenn man aus den Augenwinkeln hinschaut.
Zum ersten Mal gesehen hast du die Polizei vor vielleicht 15 Jahren, nachts auf dem Heimweg vom Plakatieren. Du hattest den Kleister­eimer in einer großen Plastiktüte dabei und einen Rucksack mit einem Rest Plakate, die so ineinander gerollt waren, dass man immer ­eines aus der Mitte herausziehen konnte. Wie das geht, hat dir David gezeigt, der damals schon etwas länger in der Gruppe war. Du bist dann mit Sascha losgezogen, es war dein erstes Mal, alles ist gutgegangen, keine Bullen, keine Nazis weit und breit. Wahrscheinlich hättet ihr ungestört die ganze Schule zukleistern können, aber das war euch dann doch zu heiß.
Das letzte Stück Heimweg bist du über den bewaldeten Stadtwall gegangen. Dort hast du dann gemerkt, dass sie dich verfolgten. Erst dachtest du, es wäre ein Hund im Gebüsch, dann hast du die orangefarbenen Augen gesehen und die Arme, die sich in den Büschen bewegten wie Zweige. Mit zittrigen Fingern, wie Greise, winkten sie dich näher heran, immer, wenn du in ihre Richtung geschaut hast, und irgendwann konntest du dir nicht mehr ein­reden, dass du sie dir einbildest. Dir ist der Schweiß ausgebrochen. Schließlich hast du den Eimer stehengelassen und bist fast gerannt, aber nur fast, so dass du immer noch vorgeben konntest, nur einen zügigen Tritt drauf zu haben. Den ganzen restlichen Weg lang hattest du die leisen Kussgeräusche im Ohr, die die Polizei mit ihren spitzen Lippen machte.

Bei der Auftaktkundgebung trefft ihr Ralf und Sascha und Britta und diesen einen Zwanzigjährigen, der ihr nachläuft. Ihr freut euch, sie alle zu sehen, und nehmt ein paar von ihnen in den Arm, während ihr den anderen bloß zunickt. Das wäre alles nett, wenn du nicht immer wieder zwischen den Beinen der Bullen hindurch nach den kleinen Dingern mit den Mandarinenaugen spähen würdest. Oder nach einem Scherbengesicht hinter einer plastikgepanzerten Schulter. Und obwohl du keines von beidem entdeckst, sackt dir das Herz mit einem Mal in die Hose, denn da steht David. Er hat jetzt kurze Haare und einen Vollbart, ist kantiger geworden, wie es sich für einen erwachsenen Mann gehört. Auch er blickt in die Runde. Als er dich entdeckt, tritt ein offenherziges Lächeln auf seine Züge, und er nickt dir zu, offenbar zufrieden, dass du deinen Weg zurück in den Schoß der Bewegung gefunden hast. Du nickst zurück und wendest dich hastig ab.
Nadja sieht deine zerrüttete Miene. Sie tätschelt dir die Schulter und sagt »He«, und dann bratzt der Lautsprecher, und der erste Redebeitrag fängt an.

Nach dem Plakatieren bist du brummend an deinen Eltern vorbeigeschlurft, hast deinen Rucksack an die Seite und dich selbst auf’s Bett geschmissen, und obwohl das Herz dir immer noch bis zum Hals gepocht hat, bist du einfach eingeschlafen wie ausgeknipst.
Du bist im Dunkeln erwacht. Zwei Gerüche hingen in der Luft: flüchtiges Ozon und klebriges Blut. Nervös ist dein Blick zum Fenster gehuscht. Du hast damals im niedrigen Dachzimmer in einem Fachwerkaltbau gewohnt, deshalb gab es nur zwei kleine Giebelfenster, durch die scharf gebündelt das Mondlicht einfiel, wenn es von der richtigen Seite kam, wie jetzt. Das Fenster war geschlossen. Du hast den Blick über die blau erleuchteten Dielen wandern lassen, bis zum Stützbalken in der Mitte des Zimmers, der die seidige Lichtbahn in zwei Hälften schnitt, die schließlich ausfransten und sich zwischen deinem Schreibtisch, deinen Büchern und Spielen und dem Korbstuhl verloren. Etwas Glänzendes stach aus der blaudurchwirkten Dunkelheit hervor, vielleicht die starre Plastikverpackung des Modellautos, das dein beknackter Onkel dir geschenkt hat und das du – ohne es auszupacken – in dein Bücherregal gestellt hast, oder die Hülle einer Hörspielkassette, oder eine leere Cola-Flasche. Du arbeitest all die Erklärungen im Kopf ab, ehe dir klar wird, warum du überhaupt so dringend eine Erklärung suchst: Das glänzende Ding bewegt sich. Unmerklich schiebt es sich vor und zurück und auf und ab, wie der harte Stachel, der aus dem pumpenden Hinterleib einer Wespe schaut. Während du gebannt darauf starrst, tritt langsam der Rest der Gestalt aus dem Dunkel hervor, wie ein Muster aus Eisenspänen, das sich in einem Magnetfeld anordnet.
Es ist der dicke Mann mit der Glatze. Aus seiner Stirn ragt die Glasscherbe, die sich ganz leicht im Takt seiner ruhigen, tiefen Atemzüge bewegt. »Man kann mich durchaus als einen Zauberer bezeichnen«, sagte er, als wärt ihr gerade mitten in einer Unterhaltung gewesen. Seine Stimme ist tief und ruhig, hat aber auch etwas von dem listigen Unterton, mit dem er damals, unmittelbar bevor er weggefahren ist, gesagt hat: »Ich rufe die Polizei.«
Er tritt näher an dein Bett heran. Du kannst dich nicht rühren, doch ein Laut wie von einem ertrinkenden Hund dringt aus deiner Kehle, ein Geräusch, von dem dir regelrecht übel wird. Lächelnd legt der Mann sich einen Finger an die Lippen, und dann macht er es sich in deinem Korbstuhl gemütlich, der unter seinem Gewicht knarrt.
»Du musst wissen, dass du mich tatsächlich getötet hast, als du den Stock geworfen hast. Meine Windschutzscheibe ist gesprungen, ich bin gegen eine Hauswand geknallt, und ein Stück von dem Sicherheitsglas hat sich gelöst und mich erwischt. Ein unwahrscheinliches Unglück, aber nicht unmöglich.
Doch ein Zauberer muss nicht sterben, wenn er nicht will, er kann verändern, wie sich die Menschen an die Abläufe erinnern. Das ist fast so gut, wie wenn man die Wirklichkeit verändern kann. Dann muss man nicht sterben. Man muss nur dafür sorgen, dass die Leute einen im Gedächtnis behalten, sonst verschlingt einen die angestaute Wirklichkeit irgendwann.« Er lehnte sich im Stuhl zurück. Das Gesicht mit der Scherbe verschwand in der Dunkelheit, aber er war noch da. »Du wirst mich nicht so schnell vergessen«, stellte er fest. »Aber das reicht nicht. Nicht auf Dauer. Deshalb musste ich die Polizei rufen. Nicht, um dich zu bestrafen. Verstehst du? Wenn ein Zauberer gegen seinen Willen stirbt, wenn er umgebracht wird, dann muss man die Polizei rufen.« Ein Knarren ertönte, als er wieder aufstand. »Damit sie den Täter im Auge behält. Damit sie ihn an seine Tat erinnert, sein Leben lang und noch über seinen eigenen Tod hinaus. Er darf seine Schuld niemals vergessen. Du bist doch schuld an meinem Tod, nicht wahr?«
Du hast keinen Ton herausgebracht, also hast du ihm mit deinem Schweigen Recht gegeben.
Der Zauberer trat nun direkt an dein Bett und ging mit einem leisen Ächzen in die Hocke. Aus der Nähe sahst du die dunklen Lippen aus getrockneten Blut um die spitze Glaszunge in seiner Stirn herum. Er hob deinen Rucksack auf und hielt ihn wie ein Kätzchen am Nackenfell hoch. Mit der anderen Hand zog er die übrig gebliebenen Plakate heraus. »Eines würde ich aber noch gern wissen«, sagte er. »Wer hat dir gezeigt, wie man die so rollt?«

Die Solidemo für die Wolterstraße geht los. Du hängst zwischen Nadja und Ralf in der Kette wie ein Boxer in den Seilen. Dir ist kotzübel, und um dich herum ist die Welt ein Rauschen aus Reden, Rufen, Bellen und buntem Licht. Dabei passiert ja noch gar nichts, es gab noch keine Böller, keinen Polizeieinsatz, keinen Druck von Leibern an Leiber, kein tief gebrülltes »Eeeyyyy!« aus der Demo und kein schrilles »Aufhörn!« Das wird alles noch kommen, es liegt in der Luft. Und wenn es so weit ist, dann quillt aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen die Polizei hervor und huscht inmitten von Gebrüll und schweren Leibern umher, wo nur du sie sehen kannst. Die richtige Polizei kommt nicht aus der Kaserne und nicht von der Regierung. Sie kommt aus der Erde, wann immer die Welt am Rande der Legalität verschwimmt.
Nadja ruft laut neben dir: »Nie … nie … nie wieder Deutschland!« Anscheinend hat sie ganz vergessen, wie befreiend sich das anfühlt, und einen Moment lang ergreift dich vor lauter Neid der Abscheu. Wenn du dich nur auch so leicht befreien könntest, einfach alles in einem Wut­schrei von dir werfen. Als du den Arm aus ihrer Ellenbeuge ziehst, wirft sie dir einen verwirrten Blick zu. Du kramst mit säuerlicher Miene ein Taschentuch hervor und tust so, als müsstest du dir nur die Nase putzen, und sie schaut beruhigt wieder weg. Und genau in dem Moment, als sie dich nicht festhält, kommt der Schrei, schneller als erwartet: »Eeeeyyyyy!!!«
Irgendwo links von euch wogt es, jemand reckt mit aufgerissenem Mund den Kopf aus der Menge. Ein paar Standbilder, in denen jemand am Kragen von einem Bullen rückwärts geschleift wird, in denen jemand sich in ein Transparent gewickelt in eine Polizeikette wirft, in denen eine Kopfhaut reißt. David steht gegenüber am Straßenrand, knallt einen Mülltonnendeckel auf und zu und pumpt Parolen aus seiner Kehle. Du beobachtest ihn eine Weile und merkst erst dann, dass Nadja fort ist, dass alle fort sind und dass eine blaue Woge aus Stoff, Gummi und Plastik auf dich zurollt.
Wie nach einem Filmriss liegst du irgendwann später unter einem gepanzerten Polizisten. Zwischen euch ist ein Transparent, ihr grapscht beide an dem von der Abtönfarbe steifen, nassen Stoff herum und wisst nicht so recht, was ihr dabei zu fassen kriegen wollt. Die glatten Plastikpanzerteile drücken hart gegen deine Rippen und dein Becken, eine behandschuhte Hand zwingt deinen Kopf herunter. Gleichzeitig flitzt etwas zwischen den Stofffalten umher, berührt die Innenseite deines Oberschenkels. Es ist, als wollte dich jemand in einen Sack mit einer Schlange darin stecken, und panisch beginnst du zu strampeln, wirfst den Kopf hin und her und beißt so fest in den Handschuh, dass du fast einen Zahn verlierst. Plötzlich löst sich der Druck von deinen Rippen, als der Polizist aufsteht. Er schüttelt den behelmten Kopf, anscheinend verwirrt über deine heftige Reaktion, und geht einfach weg, um sich jemand anders vorzunehmen. Du versuchst, dich aus dem Transparent zu wühlen, um deine Genossen zu suchen, aber der Stoff zieht sich wie aus eigener Kraft fester um dich. Kleine dürre Arme tasten sich zwischen den Falten hervor, haken die spitzen Fingernägel in das Tuch, durchstechen deine Kleidung und ziehen an deiner Haut, und dann wird dir das Transparent über den Kopf gezogen, nimmt dir die Sicht und lässt nur noch einen winzigen Strom muffiger Luft zu deinem Mund und deiner Nase durchdringen. Du hast das Gefühl, hochgehoben und schaukelnd davongetragen zu werden.
Schließlich schlägt jemand das Transparent zurück. Du holst krampfhaft Atem. Über dir glitzert der Scherbenmund in der Stirn des Zauberers rötlich im Schein einer Sparkassen-Leuchtreklame. Die echte Polizei, die aus der Erde, blinzelt dich von den Rändern her an und macht ihre leisen Kussgeräusche. Aus der Ferne hört man Lautsprecherdurchsagen, und einen schrillen, rasenden Schrei.
»Ich gebe dir noch eine letzte Chance«, sagt der Zauberer traurig. »Ich kann nicht zulassen, dass du dich einfach so absetzt. Die Polizei wird Maßnahmen gegen dich ergreifen müssen, hast du das verstanden? Du musst mir jetzt die Wahrheit sagen: Wer hat das Indianerspiel erfunden? Wer hat dir gezeigt, wie man die Plakate rollt? Wer hat dir über Facebook den Demoaufruf geschickt, und die SMS?«
Damals, in deinem Zimmer, hast du geschwiegen, du hast vor Angst ins Bett geschissen und dich am nächsten Morgen vor deinen Eltern zu Tode geschämt, aber du hast geschwiegen. Du hast David nicht verpetzt, obwohl du genau wusstest, dass der Zauberer die Antwort auf seine Frage ohnehin kannte.
Später ist er noch vier oder fünf Mal mit der Polizei aufgetaucht, und du hast nichts gesagt. Jedes Mal hat er dir schlimme Konsequenzen angedroht, und jedes Mal hat er dich davonkommen lassen. Dir ist klar geworden, dass er es in Wirklichkeit gut mit dir meinte, dass er dich im Laufe der Jahre regelrecht ins Herz geschlossen hat. Aber wenn er weiterleben will, braucht er jemanden, der die Schuld trägt und sich erinnert. Er kann nicht zulassen, dass du dich verdrückst, solange du nicht den wahren Schuldigen benannt hast. Die Kussgeräusche von der Polizei werden schneller und gieriger.
Weil es also deine letzte Chance ist, und weil das Leben, in dem es wütende Parolen und Bullen in Plastikrüstung und den Einsatz für die richtige Sache gibt, ohnehin bald hinter dir liegen wird, sagst du: »Das war David.«
Der glatzköpfige Zauberer lächelt über sein ganzes Mondgesicht, so breit, dass die vertikale Wunde in seiner Stirn weit aufklafft. Die Scherbe rutscht heraus und landet mit einem harmlosen kleinen Laut neben dir auf der Straße. Um dich herum setzt die Polizei sich raschelnd in Bewegung. Es fühlt sich an, als ob ein Windhauch Brackwassergestank vertreibt. Du atmest durch und siehst zu, wie der Zauberer ich verflüchtigt. Es ist still. Der Straßenkampf ist vorbei.

Du findest Nadja wieder. Sie hat eine Platzwunde auf der Stirn, und du küsst ihr tröstend das Blut von der Nase. Sie ist mehr wütend als erschreckt. Ihr fahrt ins Krankenhaus, wo die Wunde genäht wird, und in den frühen Morgenstunden legt ihr euch ins Bett. Als Nadja schläft, stehst du auf, rufst bei David an und hinterlässt eine Nachricht auf seiner Mailbox. Er meldet sich nicht zurück. Du rufst beim Ermittlungsausschuss an und erfährst, dass sich schon mehrere Leute nach ihm erkundigt haben. Wahrscheinlich ist er verhaftet.
David, dein ehemals bester Freund, den du zwei Jahre lang nicht ein einziges Mal angerufen und dann noch einmal kurz auf der Wolterstraße-bleibt-Demo getroffen hast, ist verschwunden. Nadja liest in der Zeitung davon und fragt erschreckt, ob du davon gehört hast. Du tust überrascht und versicherst ihr hastig, dass du dich da mal informieren und dranbleiben würdest. Nadja merkt, wie ertappt du dich fühlst, und wirft dir einen misstrauischen Blick zu, sagt aber nichts weiter. Als ihr nur Tage später umzieht, ist Davids Verschwinden zwar noch nicht vergessen, wohl aber deine seltsame Reaktion darauf.

Eure ersten Tagungsgäste treffen ein und reisen wieder ab – ein Jugendverband der IG Metall. An einem Abend trinkt ihr mit den Betreuern, die in eurem Alter sind, und redet gepflegt über Politik, über die Totreformierung der Krankenversicherung und darüber, dass es in Deutschland einfach keine fortschrittliche politische Widerstandskultur gibt.
»Das ist doch alles bloß entweder Jugendprotest oder reaktionäre Empörung«, erklärst du welterfahren, und die Betreuer sehen es nicht anders. Entspannt hältst du Nadja im Arm, ihr Kopf schmiegt sich unter dein Kinn.
Als du am Sonntagabend, nachdem alle abgereist sind, das Tagungszimmer im Wintergarten aufräumst, fühlst du dich beobachtet. Du schaltest den Staubsauger ab. Das Betriebsgeräusch verebbt, und unwillkürlich spitzt du die Ohren, auf der Suche nach einem anderen Laut. Unten in der Küche klappert Nadja. Dann hörst du es: das leise, vielstimmige Schmatzen spitzer Kussmünder. Kalter Schweiß bricht dir aus, und dir wird übel. Langsam drehst du dich zur Fensterfront um. Draußen führt eine Feuertreppe hinunter auf den Parkplatz, und ein paar Meter weiter fängt der Wald an, ein niedriges, dichtes Nadelgehölz.
Direkt am Waldrand, im blassen Licht, das durch die Glasfront zu ihm hinabfällt, steht David, schlammverschmiert und mit totem Laub im Bart. An seinem Leib hängen die Polizisten. Zum ersten Mal hast du Gelegenheit, sie dir genauer zu betrachten. Ihre Arme und Beine sind Zweige, ihre Leiber Äste, ihre Köpfe Wurzelknoten und die Augen darin viel zu groß. Mit einem Mal wird dir klar, dass du dich die ganze Zeit geirrt hast: Die Polizisten kommen nicht aus dem Erdboden unter der Stadt, sondern von hier draußen, aus dem Wald. Hierher hat der Zauberer sie gerufen, und dorthin nehmen sie dich irgendwann mit, wenn du jemanden umgebracht hast. Das ist der Ort, an den du dann hingehörst, zu den Wildschweinen, die Schneckenhäuser knacken, und zu den Kaulquappen in den verdunstenden Pfützen. Hier graben sie ein Loch für dich und füttern dich mit Würmern und Käfern, damit du lebst und dich erinnerst. Irgendwann wirst du zu Erde, und auch dann, wenn die Bäume aus dir trinken und die Larven in dir wohnen, kümmern sie sich noch um dich, damit du nicht vergisst.
Sie haben David die dünnen Finger unter die Haut geschoben. An den meisten Stellen sieht man es nicht, weil er immer noch die schwarzen, bollerigen Demoklamotten trägt, aber einer sitzt auf seinem Kopf, und seine Finger zeichnen sich wie Wurzelwerk an Davids Stirn ab. Der zuckt jetzt mit der Hand, wie ein Marionettenspieler. David legt den Kopf in den Nacken und bleckt stumm die Zähne, als ob man ihm so starke Schmerzen zufüge, dass er nicht mal mehr einen Schrei herausbringt. Seine rotgeäderten Augen stieren zu dir empor, doch du weißt, dass er nicht dich sieht, sondern einen Mann, dem eine Scherbenzunge aus der Stirn leckt. Er wird dieses Bild so lange sehen, bis dem Zauberer eines Tages danach ist zu sterben.
Dann schließt David ruckartig den Mund und geht, die Augen immer noch weit aufgerissen, steif, gelenkt von den Spinnenfingern der Polizei, rückwärts in den Wald zurück. Als er der letzte Schimmer des letzten Mandarinenauges ins Dunkel eintaucht, durchströmt dich grenzenlose Erleichterung.
Ihr seid beide raus, David und du, wenn auch nicht auf die gleiche Art. Euch trennt eine Glasscheibe mit Papierblumen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Jakob Schmidt: Nichts Böses. Erzählungen, Medusenblut-Verlag, Berlin 2013, 196 Seiten, 13 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.