Die deutschen und die Cyber-Überwachung

Elena im Cyberland

Snowden hin, NSA her: Eine Mehrheit der Deutschen vertraut den Geheimdiensten ebenso wie ihrer Regierung. Der soziale Masochismus des unterwürfigen Staatsbürgers zeigt sich auch im Internet.

Wenn andere in Hektik geraten, bleiben Deutsche cool, megacool. Darüber sind sie selbst manchmal erstaunt. »Während die europäischen Nachbarn über steigenden Stress klagen, sind die Deutschen entspannter als vorher«, wunderte sich sogar die Berliner Zeitung einen Tag nach Veröffentlichung des jüngsten »Zufriedenheitsberichts« der »Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung«. Während in den sogenannten EU-Krisenländern, vor allem in Spanien, Italien und Griechenland, die nationale Zufriedenheit auf maximal 20 Prozent sank, zeigten sich im vergangenen Jahr 61 Prozent der Deutschen zufrieden mit ihrem Leben, immerhin acht Prozent mehr als beim Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2008. Es scheint ihnen völlig gleichgültig zu sein, dass die deutschen Einkommen im europäischen Vergleich bestenfalls das Mittelfeld erreichen, dass Deutschland ein Billiglohnland ist, dass viele Arme nicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik vorkommen, weil sie mit Niedrigstlöhnen dahinvegetieren. »Hauptsache Arbeit«, dieser gleichermaßen dreiste wie demagogische Slogan eines sozialdemokratischen big destroyer der Sozialstandards scheint erst unter der Ägide von Angela Merkel seine volle Wirkung zu entfalten.

Zufrieden sind die Deutschen aber nicht nur mit ihrer Regierung. Auch die Aktivitäten fremder Souveräne können ihnen keine Sorgen bereiten. So wird einer am 2. November veröffentlichten Umfrage der Meinungsforschungsfirma Allensbach zufolge die Massenbespitzelung durch den US-Geheimdienst nur von 24 Prozent der Deutschen als »sehr besorgniserregend« eingeschätzt, während für 76 Prozent keinerlei persönliche Nachteile vorstellbar sind. Zum Vergleich: US-Bürger, die vom gewöhnlichen deutschen Alltagsverstand häufig als oberflächlich eingeschätzt werden, sprachen sich einer ebenfalls Anfang November veröffentlichten Studie des Pew Research Center zufolge zu 56 Prozent gegen Spitzelaktivitäten in »befreundeten« Ländern aus, 36 Prozent waren dafür, acht Prozent votierten mit »weiß nicht«.
Bereits im Juni hatte eine von Zeit Online in Auftrag gegebene Untersuchung gezeigt, dass 40 Prozent der befragten Internetnutzer in Deutschland die staatliche Überwachung persönlicher Kommunikation ausdrücklich befürworten, wenn sie Staatszwecken – selbstverständlich Verbrechens- und Terrorbekämpfung – dient. 49 Prozent dieser Befragten, darunter auch solche, die der Staatskontrolle distanziert gegenüberstehen, fühlten sich von der gerade offenbar gewordenen Überwachung überhaupt nicht beeinträchtigt. Seinerzeit waren auch die Zuträgerarbeiten, die Facebook, Youtube und Skype für die US-Geheimdienste leisten, ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Wiederum kein Grund für deutsche Besorgnis: Nur knapp ein Drittel der Befragten wollte künftig erwägen, diese Dienste nicht mehr zu nutzen.
Die einfachste Erklärung hierfür ist: Diese Leute sind eben loyale Staatsbürger und handeln nach der Staatsbürgerdevise »Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten«. Doch ist diese Erklärung wirklich zufriedenstellend? Muss man nicht auch bei Deutschen davon ausgehen, dass sie, wenn auch nicht so ausgeprägt wie ihre Nachbarn, die Bedeutung traditioneller bürger­licher Wertvorstellungen wie Privatheit und Intimität zu schätzen wissen? Dieser ist zwar die Ideologi­sierung des Irrtums, in Familie und emotionalen Beziehungen seien Schutzräume vor den Zumutungen des ständigen Konkurrenzkampfes zu finden. Aber er ist in seiner ganzen ideologischen Fragwürdigkeit auch so etwas wie der letzte Bereich eines wie auch immer deformierten Eigenen gegenüber der Übermacht des gesellschaftlichen Allgemeinen. Staatsbürger, die wie die erwähnten Deutschen freiwillig ihren Anspruch auf Privatheit und Intimität aufgeben, sind eher Soldaten als Bürger, stets bereit, sich lückenlos dem staat­lichen Kommando zu offenbaren und zu unterwerfen.
Wenn man hier, neben ideologiekritischen Erwägungen, auch den von der Psychoanalyse untersuchten, »sozialen Masochismus« in Betracht zieht, versteht man zudem, dass so ein unterwürfiges Offenbaren des Privaten den Leuten auch Spaß machen kann. Dass, zumindest mittelbar, solche Unterwerfung – auch unter abstrakte Institutionen, wie sie Geheimdienste im Alltagsbewusstsein zunächst sind – auch etwas mit Lust zu tun haben kann.
Manchmal auch ganz unmittelbar: Ende Oktober kam das Berliner Stadtmagazin Tip mit einem seiner Sex-sells-Aufmacher heraus: »Die heimliche Sexwelle«. Es geht um gutsituierte Bürger wie »Elena, 46 … Leiterin einer Berliner Kindertagesstätte«, die im Internet Sexpartner für sowohl kürzere als auch längere Zeit suchen. Das Netz erscheint ihnen wegen seiner Anonymität als Ort der Sicherheit, denn Ehepartner, Freunde, Kollegen und Vorgesetzte sollen von den Kontakten nichts erfahren. Im zentralen Artikel werden die für diesen Zweck wichtigsten Internetportale vorgestellt. Die Autorin schreibt: »Glaubt man den Portalangaben zu den jeweiligen Mitgliederzahlen, dann scheint dort, in der Anonymität der Cyberwelt, die halbe Bundesrepublik auf der Suche nach ›Kuschelsex‹, ›Rollenspielen‹, ›Gang-Bang‹, ›Analsex‹, ›frivolem Ausgehen‹, ›SM‹ oder ›Natursekt-Spielchen‹ unterwegs zu sein.«
Die halbe Bundesrepublik ist es dann doch nicht, Übertreibungen der Portale in Sachen Mitgliederzahlen werden eingeräumt. Aber doch sind jede Menge Deutsche dort unterwegs. Nur konnte eben die schöne Cyberwelt zur Zeit der Erstellung und Veröffentlichung der Geschichte von der »heimlichen Sexwelle« längst nicht mehr als anonym gelten. Seit Juni wissen die Leute um die Cyber-Überwachung. Die ungeheure Menge der Überwachungsdaten legt nahe, dass so gut wie jeder, also auch Menschen wie »Elena, 46«, davon betroffen sein könnte. Freilich legt die riesige Datenmenge auch nahe, dass die Mehrheit der Ausspionierten nie in einem realen nachrichtendienstlichen Sinn analysiert wird. Denn auch das effektivste Algorithmensystem und die größtmögliche Anzahl qualifizierter Auswerter vermögen es nicht, sämtliche Daten noch zu Lebzeiten der Überwachten zu überprüfen. Aber gerade dies kann so etwas wie Angstlust erzeugen, ergänzt von der prickelnden Spannung einer Lotterie: Wird meine Akte nun gezogen oder nicht?

Dass die statistisch nicht Erfassten, aber gleichwohl Zahlreichen, die sich auf Websites wie »Kredite ohne Schufa-Auskunft« herumtreiben, ähnliche affektive Erfahrungen wie die Sexabenteurer machen, darf bezweifelt werden. Doch eines ist beiden Gruppen gemeinsam: Not – und welche ihrer Varianten könnte hierzulande übler sein als finanzielle und sexuelle – macht erfinderisch. Und erpressbar. Das könnte den geheimdienstlichen Hütern deutscher Staatssouverä­nität Sorgen bereiten. Möglicherweise malt man sich in ihren Kreisen schon Szenen wie diese aus: In einem frisch gentrifizierten Berliner Wohngebiet klingelt es eines Morgens an der Tür einer renovierten Eigentumswohnung. Draußen stehen zwei sympathische junge Leute und begrüßen die öffnende Frau mit den Worten: »Guten Morgen, Elena. Wir sind von der NSA und möchten gemeinsam mit Ihnen überlegen, wie Ihre Daten in Zukunft sicher sein können.«