Ingo Stützle im Gespräch über Austerität als politisches Projekt

»Keynesianismus ist nicht unbedingt links«

Die Austeritätspolitik in der EU wird oft als alternativlos dargestellt. Viele Linke er­hoffen hingegen vom Keynesianismus ein besseres Leben. Die Jungle World sprach mit dem Politikwissenschaftler und Publizisten Ingo Stützle über die Euro-Krise, Austerität und den Keynesianismus. Diesen Herbst erschien Stützles Studie »Austeri­tät als politisches Projekt« (Westfälisches Dampfboot).

Was meinen Sie mit »Austerität als politisches Projekt«?
Der Titel ist den gegenwärtigen Entwicklungen in der Euro-Zone geschuldet. Ich habe mir die Frage gestellt, wie sich mit der Schaffung des Euro das finanzpolitische Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts europäisieren konnte. Schließlich fällt eine solche Politik weder vom Himmel, noch ist sie einfach aus der Akkumulationsdynamik ableitbar. Ein politisches Projekt integriert verschiedene soziale und politische Kräfte, die nicht unbedingt bewusst das gleiche Ziel verfolgen. In einer bestimmten historischen Konstellation laufen ihre Aktivitäten jedoch im Resultat auf Gemeinsames hinaus. So war es mit dem Euro und dem Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts. Inzwischen will auch Kanada den Grundsatz gesetzlich verankern und US-Präsident Obama rief nach dem Haushaltsstreit dazu auf, trotz aller Differenzen mit den Republikanern gemeinsam dafür Sorge zu tragen, bald einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorzulegen.
Aber war nicht gerade die immer weitergehende Verschuldung der Staaten die vorherrschende Tendenz der vergangenen Jahrzehnte, die sich auch in der Krise fortgesetzt hat?
Das stimmt. Aber ein »Regime der Austerität« und hohe Staatsverschuldung sind nicht unbedingt ein Widerspruch, sondern eher zwei Seiten einer Medaille. Die Idee, die Angst vor den Folgen der Verschuldung für eine Politik der Austerität zu nutzen, kennt nicht nur die politische Klasse in Deutschland. Bereits Ronald Reagan kannte sie. Dessen Direktor des Office of Management, Da­vid Stockman, prägte den Begriff des »strategischen Defizits«. Darunter verstand er eine nütz­liche Staatsverschuldung, die es plausibel macht, dass man sparen muss. Und ein solches Defizit erreicht man, indem man die Steuern für Vermögen, Spitzenverdiener und die große Industrie senkt. Ähnliches gibt es aus Großbritannien zu berichten, dem zweiten Land, das bei der Durchsetzung neoliberaler Politik eine Vorreiterrolle spielte. Der leitende Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher, Alan Budd, gab dem Observer Anfang der neunziger Jahre zu Protokoll: »Die Politik der achtziger Jahre, die Inflation durch Druck auf die Wirtschaft und Kürzung der öffentlichen Ausgaben zu bekämpfen, war ein Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen.«
Staatsschulden sind ein Versprechen auf zukünftige Steuern. Kommt nicht jede Regierung an einen Punkt, an dem sie eingestehen muss, dass die Einlösung dieses Versprechens unrealistisch werden dürfte? Ist der Austeritätskurs also nicht die logische Konsequenz daraus, dass Krisen eigentlich nur durch Entwertungen beendet werden können?
Finanzminister Wolfgang Schäuble wurde am Rande der Währungskonferenz im Oktober in Washington gefragt, wann Deutschland seine Schulden zurückzahle. Er antwortete: »Wann sind wir jemals ohne Schulden? Hoffentlich nie.« Entscheidend sei, die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu verringern. Diese Aussage zeigt: Eine wachsende Staatsschuld ist kein Problem, solange die Gläubiger durch Steuereinnahmen, die auf eine wachsende Wirtschaft zurückzuführen sind, bedient werden und sie davon ausgehen, ihre Wertpapiere auch wieder verkaufen zu können. Wenn ein Land zudem alte durch neue Schulden ablösen kann, ist dem Schuldenberg theoretisch keine Grenze gesetzt. Viele Kapitalismuskritiker würden eine solche Grenze gern ­abstrakt benennen. Das ist aber nicht möglich.
Verschuldung als Spiel ohne Grenzen?
Das natürlich nicht. Zum einen muss man sich fragen, wer für die Zinszahlungen aufkommt, und das ist eindeutig eine Klassenfrage. Die Steuerlast wurde in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt auf die Lohnabhängigen verschoben. Die Zinsen kassieren vor allem diejenigen, die in Wertpapiere investieren. Und natürlich entwickelt sich der Kapitalismus krisenhaft, was zu periodischen Entwertungen führt – von Produktivkapital und von fiktivem Kapital. Dazu gehören Aktien genauso wie Staatsanleihen. Nur kann eine Staatspleite eben auch eine Modernisierung bewirken. Das war 2001 in Argentinien der Fall. Nach ein paar Jahren hat das Land freiwillig begonnen, den zunächst ausgesetzten Schuldendienst wieder aufzunehmen. Wie auch Russland nach dem Ende der Sowjetunion wieder damit begann, seine 1917 suspendierten Anleihen zu bedienen. Dafür gibt es einen Grund: die sogenannte Erbschuld. Ist ein Land oder eine Stadt einmal pleite gewesen, müssen sie einen Risikoaufschlag, das heißt höhere Zinsen bezahlen. Auch der Stadt New York geht es so.
Angesichts der Sorgen um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Kreditwürdigkeit könnte man provokativ sagen, die Merkel-Regierung sei so etwas wie der ideelle Gesamtkapitalist der EU und speziell des Euro-Raums gewesen.
Nein. Das unterstellt ja zum einen, dass die Austeritätspolitik die einzig denkbare Möglichkeit ist, den europäischen Kapitalismus zu sanieren. Zum anderen, dass der deutsche Staat die diversen Kapitalinteressen aller europäischen Länder zum Ausdruck bringt. Das ist aber nur bedingt der Fall. Dass Deutschland den Ton angibt, ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass auf europäischer Ebene in den letzten Jahren immer mehr Entscheidungen auf den Rat übergegangen sind, also das Gremium, in dem vor allem die Stärke eines Staates relevant ist. Die Kommission wurde entmachtet, das Parlament hat nie eine große Rolle gespielt. Und Deutschland drängte bereits seit Ende der achtziger Jahre darauf, die Möglichkeit der Staatsverschuldung der anderen Mitgliedsländer zu begrenzen und zu kontrollieren. Aus der ökonomischen Dominanz Deutschlands wurde im Rahmen der monetären Integra­tion eine politische. Die Europäische Zentralbank (EZB) und der Euro sind nach deutschen Vorstellungen konstruiert.
Wenn jemand derzeit ein ideeller Gesamtkapitalist ist, dann eher die EZB. Nur der EZB ist es möglich, gegen alle Euro-Staaten eine Politik durchzusetzen. In beschränktem Maße gilt das auch für Deutschland. Das zeigt sich etwa bei den Anleihekäufen, die die Bundesbank nicht wollte. Trotzdem wird es gemacht, aber unter strikten Auflagen, die den Austeritätskurs nur verstärken. So werden Anleihen nur von den Ländern gekauft, die sich dem Fiskalpakt unterworfen haben.
In Ihrem Buch werden die Unterschiede zwischen französischem Keynesianismus und deutschem Ordoliberalismus diskutiert. Wäre eine von Frankreich dominierte EU die Alter­native zum Austeritätskurs? Oder sind das ideologische Schemata, die vor dem Hintergrund realer Interessen bedeutungslos sind?
Ich würde nicht von einem französischen Keynesianismus sprechen, sondern von einer Spielart neoliberaler Entwicklung – zumindest für die Zeit ab 1983. Kulturelle Eigenheiten der Länder existieren zwar nach wie vor, aber sie sind vor allem auf dem Feld der Geldpolitik in den letzten Jahren geschliffen worden. Bedeutungslos sind sie nicht, aber interessanterweise hat Frankreich und nicht Deutschland für das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts und sogar für eine Null- statt einer Drei-Prozent-Grenze plädiert. Frankreich hoffte, Deutschland durch den Euro ökonomisch einzubinden, dafür musste es dann einen Euro unter deutschen Bedingungen akzeptieren. Dass es vor allem ein rassistisches Stereotyp ist, Politikern aus Südeuropa einen Hang zu lockerer Geldpolitik zu unterstellen, zeigt nicht nur die Politik des EZB-Präsidenten Mario Draghi.
Die Antwort auf die Krise war ja zunächst durch die Konjunkturprogramme und die lockere Geldpolitik der Zentralbanken selbst stark keynesianisch geprägt. Trotz des offensichtlichen Misserfolgs ist für viele Linke der Kampf für einen neuen Keynesianismus und gegen die Austeritätspolitik nicht nur eine Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen, sondern sie verbinden damit auch eine Stabilisierung des Kapitalismus. Wie stehen Sie dazu?
Auch wenn ich nichts gegen höhere Löhne und Sozialeinkommen habe, ganz im Gegenteil, so wird es doch etwas schräg, wenn Linke diese als Mittel einsetzen wollen, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Wenn man sich die historische Herausbildung des Keynesianismus in den USA ­­in Folge der großen Krise von 1929 ansieht, gingen dem eine Phase heftigster Klassenkämpfe und die Selbstorganisation der Lohnabhängigen und Arbeitslosen voran. Gleichzeitig passiert das, was Johannes Agnoli eine institutionelle Strategie nennt: die Einbindung subversiver Kräfte. Aus Klassenkampf wurde Sozialpartnerschaft.
Aber klar: Für die neoklassisch geprägten Ökonomen sind Löhne in erster Linie Kosten für Unternehmen, Sozialausgaben sind unproduktive Staatsausgaben und hohe Steuern nehmen pri­vater Initiative die Luft zum Atmen. An Keynes orientierte Ökonomen fassen Löhne und Staatsausgaben auch als Elemente der gesellschaftlichen Nachfrage auf. Deshalb finden Gewerkschaften und Sozialdemokraten – wozu auch die Partei »Die Linke« gehört – das auch so toll. Mit Keynes können sie Lohnerhöhungen und einen gut ausgebauten Sozialstaat mit »ökonomischer Vernunft« versöhnen. Sabine Nuss hat deshalb für derartige Vorstellungen den Begriff »Gebrauchsanleitungs-Kapitalismus« in die Diskussion ein­gebracht.
Aber hier gibt es zwei Kurzschlüsse. Zum einen ist das nicht unbedingt links, weil keynesianische Politik die kapitalistischen Formen gar nicht überwinden will. Ein gutes Leben wird es nur geben, wenn der Kapitalismus ein Kapitel in den Geschichtsbüchern wird. Zum zweiten setzt sich eine an Keynes orientierte Politik nicht deshalb durch, weil sie scheinbar vernünftiger ist – das ist eine bürgerliche Vorstellung von gesellschaftlicher Veränderung. Welche Politik sich am Ende durchsetzt, ist ein Ergebnis von ökonomischen Bedingungen, aber auch sozialen Kämpfen.