Der antifaschistische »Radnóti-Marsch« in Budapest

Überschaubares Gedenken

Beim »Radnóti-Marsch« am 9. November in Budapest wird der Opfer der National­sozialisten in Ungarn gedacht. Trotz antifaschistischer Unterstützung aus Deutschland kamen dieses Jahr nur Wenige dorthin.

In den vergangenen Wochen haben Faschisten und ihre Gegner in Ungarn mehrfach die Aufmerksamkeit deutscher Medien auf sich gezogen. Nur einige Tage bevor Angehörige der neonazistischen Partei Chrysi Avgi in Griechenland am 1. November erschossen wurden (Seite 12), entstand in Ungarn ein Ableger, die »Ungarische Morgendämmerung«. Ziel der maßgeblich von enttäuschten Anhängern der rechtsextremen Partei Jobbik gegründeten Organisation ist ein »Großungarn« in den Grenzen von vor dem Ersten Weltkrieg und die Annullierung des Vertrags von Trianon, der 1920 die zuvor erfolgten Sezessionen aus dem Königreich Ungarn völkerrechtlich besiegelte. Am 3. November wurde eine Büste für den ungarischen Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy vor einer protestantischen Kirche in Budapest eingeweiht. Begleitet wurde die ­Zeremonie von Horthys Anhängern wie auch antifaschistischen Protesten.

Am 9. November hielten antifaschistische Gruppen zum fünften Mal den »Radnóti-Marsch« in Budapest ab. Sie erinnern damit am Internationalen Tag gegen Faschismus und Antisemitismus, der gleichzeitig der mutmaßliche Todestag des 1944 von den Nationalsozialisten ermordeten ungarischen Dichters Miklós Radnóti ist, an die Taten der Nazis, ihre Opfer sowie den antifaschistischen Widerstand. Darüber hinaus soll auf die Gefahren der autoritären Formierung aufmerksam gemacht werden, die von der Regierungspartei Fidesz und der Partei Jobbik ausgeht. Unterstützung erhielten die Veranstalter des Radnóti-Marsches, die Kohányi-Gesellschaft und die Ungarische Antifaschistische Liga, in diesem Jahr auch von aus Deutschland angereisten Antifaschisten.

Der fast 20 Kilometer lange und den ganzen Tag dauernde Marsch beginnt auf dem Budapester Friedhof, der in jüngster Zeit zum Pilgerort rechter Gruppen geworden ist. Als »nationale Helden, die vom Kommunismus umgebracht wurden«, sind hier nach dem Krieg hingerichtete Kriegsverbrecher wie Ferenc Szálasi neben Menschen begraben, die beim Aufstand von 1956 erschossen wurden. Für ihn sei diese Inszenierung vor allem deshalb ein Skandal, weil die Gräber vom Staat finanziert und gepflegt würden, meint Dénes Lajos, einer der Organisatoren des Radnóti-Marsches. Lajos wurde 1944 in Budapest geboren und überlebte das Ghetto nur knapp.
Einer der etwa 30 ganztägig Teilnehmenden des Gedenkmarsches erklärt den angereisten Antifaschisten den Bezug zu Miklós Radnóti: »Jeder in Ungarn kennt ihn und seine Gedichte aus der Schule. Sie sind sehr berühmt, seine tragische Geschichte jedoch weniger.« Zusammen mit weiteren jüdischen Zwangsarbeitern wurde Radnóti 1944 während eines Gewaltmarsches nahe der österreichischen Grenze erschossen. In dem 1946 exhumierten Massengrab wurden seine letzten Gedichte gefunden, die 1948 in der Sammlung »Tajtékos ég« erschienen. Zu Radnótis Grabstein werden von einer Delegation des Marsches Blumen gebracht.
Anfeindungen sei der Radnóti-Marsch nie ausgesetzt gewesen, erzählt eine Teilnehmerin, doch auch wenn die meisten den Marsch für eine gute Sache hielten, würden sie ihm leider fernbleiben. Viele haben sich nicht eingefunden, mit zunehmender Nähe zum Zentrum Budapests wächst die Zahl der Teilnehmer des Zuges allerdings leicht an. Einige von ihnen reinigen auf dem Weg Stolpersteine, legen Blumen nieder und zünden Kerzen zur Erinnerung an die Deportierten an. Die Stolpersteine, die hier botlatókő heißen, gibt es in Budapest seit 2007. An jeder der neun Stationen des Gedenkmarsches werden Reden gehalten und Gedichte namhafter Künstler wie Robert Garai und Júlia Zsolnai vorgetragen.

In den vergangenen Jahren endete der Marsch an den »Schuhen« am Donau-Ufer. Das 2005 eingeweihte Mahnmal erinnert an die Erschießungen von Jüdinnen und Juden durch Pfeilkreuzler 1944 und 1945. Traurige Berühmtheit erlangte es, als Unbekannte am 15.  Juni 2009 Schweinefüße in die Schuhe steckten. In diesem Jahr ist der Ort nicht für die Abschlusskundgebung nutzbar: Die Stadt baut den Lajos-Kossuth-Platz derzeit um und versetzt ihn so in den Zustand von 1944 zurück. 1945 entfernt, soll das alte Denkmal für Lajos Kossuth, Anführer der »nationalen Revolution« von 1848/49, dort wieder errichtet werden.
Am Ausweichort, dem Geburtshaus Radnótis, finden sich weitere Menschen ein. Viele der etwa 150 Anwesenden sind entweder selbst Überlebende des Holocaust oder Angehörige von Ermordeten und Verfolgten. Protestierten knapp eine Woche zuvor noch viele junge Menschen gegen die Einweihung des nur einige hundert Meter entfernten Horthy-Denkmals, so scheint die jüngere Generation dem Radnóti-Marsch weitgehend fern zu bleiben.
Er habe deswegen wenig Hoffnung für die Zukunft Ungarns, sagt der Organisator Dénes Lajos in seinem Redebeitrag. Hoffnung biete ihm jedoch der internationale Austausch wie auch der Gedanke der Einheit Europas. Im Mittelpunkt, da sind sich hier alle einig, soll eine solidarische Zusammenarbeit stehen. Vor der Gedenktafel für Miklós Radnóti werden ein letztes Mal an diesem Tag Blumen niedergelegt, während einige der Anwesenden ihre persönlichen Geschichten der Verfolgung erzählen. Es sind bewegende Momente, die die wenigen Beteiligten miteinander teilen. Ein anwesender Fotograf wehrt sich jedoch dagegen, ein allzu düsteres Bild von der Gegenwart Ungarns zu zeichnen: »Ich bin selbst nach Ungarn gekommen, weil ich hier einfacher als anderswo ein undogmatisches jüdisches Leben führen kann – und das pulsiert hier.«