Alkohol und Politik

Besoffen sind immer die anderen

Großstädte wollen den Alkoholverkauf einschränken. Über den Zusammenhang von Alkohol, Politik und Alkoholpolitik.
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Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD zogen sich wie Kaugummi. Kein Wunder, dass Andrea Nahles (SPD) irgendwann seufzte: »Ich war 2005 auch bei Koalitionsverhandlungen dabei, da gab’s ja wenigstens Alkohol, heute war ja echt nix, ne.« Vielleicht wollte sie damit nur an Gerhard Schröders legendäre Bemerkung »Bring mir mal ’ne Flasche Bier, sonst streik’ ich hier« anknüpfen, oder es sprach ihr einfach aus der Politikerseele. Alkohol und Politik sind in Deutschland traditionell nun mal eng miteinander verbunden. Der allererste Antrag im sich 1949 erstmals konstituierenden Bundestag, der auf eine Verfassungsänderung zielte, stammte von Joseph Baumgartner von der Bayernpartei und forderte, die Biersteuer aus den Händen des Bundes in die der Länder zu geben, weil die Bayern eben eine besonders intensive Beziehung zu dem Gerstensaft pflegen. »Wir trinken nun mal lieber eine Maß Bier als Limonade, wie man sie anderwärts liebt«, erklärte er dem Parlament. Und dass das stimmt, haben die unzähligen alkoholbedingten Rede- und Autounfälle, mit denen vor allem bayerische Politiker in den folgenden Jahrzehnten bekannt geworden sind, nachdrücklich bewiesen. Übrigens wurde der Antrag der Bayernpartei abgelehnt, dennoch senkte der damalige Bundesfinanzminister von der CSU daraufhin die Biersteuer und es konnte innerhalb kürzester Zeit eine Steigerung des Bierkonsums um 20 Prozent in Bayern gemessen werden. Ähnliche Erfolge konnten die später ebenfalls abschlägig beschiedenen Anträge der Bayernpartei für eine »Coca-Cola-Steuer« und eine »Lippenstiftsteuer« auf »alle Artikel für schöne Frauen« allerdings nicht erzielen. Aber dies nur am Rande.

Solcherlei offener Alkohollobbyismus ist heutzutage kaum mehr vorstellbar. Als Günther Beckstein (CSU) 2008 erklärte, zwei Maß Bier seien für ein »g’standenes Mannsbild« kein Hindernis beim Autofahren, hagelte es Kritik. Zwar zeigen sich Politiker gerne volksnah mal mit einem Glas Bier oder Wein in der Hand und beim politischen Aschermittwoch oder beim Bürgerstammtisch will man auch nicht als Spielverderber dastehen, doch Alkoholismus unter Politikern gilt als Tabu. Dass er weit verbreitet ist, ist jedoch kein Geheimnis. »Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt. Je länger die Sitzung dauert, desto intensiver«, bemerkte Joschka Fischer 1983, als er als Neuling in den Bonner Parlamentsbetrieb geriet. Ob Heinrich Lummer (CDU), der mit 1,96 Promille am Steuer erwischt wurde, Otto Wiesheu (CSU), der besoffen einen Rentner totfuhr und erklärte, in der Politik könne man nun mal »nicht monatelang trocken umeinand’ laufen«, oder Bundesbildungsminister Rainer Ortleb (FDP), der aus »gesundheitlichen Gründen« zurücktrat – die Liste der Polittrinker ist lang und der Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff (CDU) war der Erste, der mit seiner Sucht offen umging. »Mir ist bewusst, dass ich alkhol­krank bin«, offenbarte er nach einem 2,3-Promille-Unfall mit Fahrerflucht im Jahr 2011.
Der Suchtforscher Karl Mann sagte der Augsburger Allgemeinen: »Im politischen Berlin wird ziemlich heftig getrunken, wir haben dafür die Bezeichnung ›schädlicher Gebrauch‹. Der ist in der Berufsgruppe der Politiker weit verbreitet. Und er fällt in diesem Umfeld auch nicht so auf.« Der Alkoholismus fällt im Politbetrieb aber nicht nur deshalb weniger auf, weil ohnehin alle so viel saufen, und die Journalisten, die die Politik berichterstattend begleiten, ebenenfalls zur Risikogruppe gehören. Er fällt auch weniger auf, weil der Bundestagsabgeordnete nach durchzechter Sitzung meist nicht auf ein Fahrrad steigt und in weiten Kurven über den Gehweg zirkelt, sondern die Fahrbereitschaft ordert und sich nach Hause chauffieren lässt. Allgemein gesprochen: Alkoholismus muss man sich leisten können. Der erwähnte Otto Wiesheu wurde später übrigens bayerischer Verkehrsminister.
Wie bei anderen Drogen setzt auch die Alkoholpolitik stets bei jenen an, die keine sozialen Privilegien genießen wie Politiker und Richter. Über ein Verbot des Bierverkaufs an Tankstellen oder am Kiosk nach 22 Uhr wird regelmäßig diskutiert, aber ein Rotweinverbot in Edelrestaurants wäre undenkbar. Nach einem brutalen Überfall in einem Berliner U-Bahnhof 2011, bei dem der Täter angab, betrunken gewesen zu sein, forderte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ein Alkoholverbot im öffentlichen Personennahverkehr. Ein Alkoholverbot auf dem Oktoberfest hingegen wird ein bayerischer Politiker nie in Betracht ziehen. In diesem Jahr musste das Rote Kreuz 7 551 Menschen versorgen, es gab 58 Maßkrugschlägereien, 16 Sexualdelikte, 449 Körperverletzungen. »Es war eine normale, man möchte fast sagen, eine ruhige Wiesn«, bilanzierte das DRK.

Die Bigotterie ist augenfällig: Es gibt geduldeten und geförderten Alkoholismus, nämlich den eigenen beziehungsweise den der eigenen Klientel, und es gibt den Alkoholismus der anderen, den man umso konsequenter verbannt sehen möchte. Ein Bündnis von elf Großstädten fordert nun die Länder erneut auf, den Verkauf von Alkoholika am Abend einzuschränken. In Baden-Württemberg werden bereits seit 2010 an Tankstellen, Kiosken und in Supermärkten zwischen 22 Uhr und fünf Uhr keine alkoholischen Getränke mehr verkauft. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann würde gerne auch den Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen verbieten, findet damit aber bisher keine Mehrheit. Bayern bereitet ein solches Gesetz vor, seit einem Jahr gibt es auch dort an Tankstellen nach 22 Uhr kein Bier mehr, weil man »nächtliche Saufgelage vor Tankstellen« verhindern wolle. Aber warum gerade jene? Ein Bonner Stadtverordneter der FDP, der jugendpolitische Sprecher Achim Kansy, kritisierte derlei Überlegungen: »Mir ist nicht bekannt, dass Alkohol in der Nacht andere Wirkung entfalten sollte als am Tage.« Eben. Darum geht es auch nicht, sondern um etwas anderes: Außerhalb von Gaststätten billiges Kioskbier zu trinken, wird verfolgt, in Fraktionssitzungen, im Restaurant und im Lokal, wo das Bier gerne mal drei oder mehr Euro kostet, darf weiter gebechert werden. Es ist ein »Klassenkampf von oben«, wie der Sozialdemokrat Christian Soeder im Online-Magazin Ruhrbarone schrieb.

Einige Landesverkehrsminister fordern zudem seit Jahren, Radfahrer sollten bestraft werden, wenn man sie mit 1,1 oder mehr Promille erwischt. Bei der Herbsttagung der Verkehrsminister in Suhl vor drei Wochen wurde zwar vorerst die Beibehaltung der 1,6-Promille-Grenze beschlossen, doch im kommenden Jahr will man erneut darüber befinden. »Wir sind uns einig, dass die 1,6 Promille auf den Prüfstand gehören«, sagte Sachsen-Anhalts Minister Thomas Webel (CDU). Dass Radfahrer nur bei jedem vierten Unfall, in dem sie verwickelt sind, auch die Unfallverursacher sind und dass lediglich 4,6 Prozent von ihnen überhaupt getrunken haben, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die Zahl der Alkoholunfälle mit Fahrradbeteiligung in den vergangenen zehn Jahren ab- und nicht etwa zugenommen hat.
Eine Logik hinter diesen Forderungen erschließt sich kaum. Wenn Menschen davon abgehalten werden sollen, besoffen Auto zu fahren, ist es denkbar kontraproduktiv, ihnen Alternativen des Heimwegs zu erschweren. Wo keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Hand sind, bleibt nur das Taxi. Das aber können sich nicht alle leisten. Man kann schon verstehen, dass Berufspolitiker sauer sind, dass für ihr bevorzugtes Verkehrsmittel, das Auto, strenge Promillevorschriften gelten, die sie in ihrer Trinkfreiheit einschränken, während sich diese ganzen minderbemittelten Studenten und Proleten einfach die Hucke zusaufen und dann ungestraft in die U-Bahn oder aufs Rad steigen. Dass Repression gegen Alkoholkonsum immer wieder bei dem verschwindend kleinen Prozentsatz der Straßentrinker ansetzt, ist vor diesem Hintergrund nur als sozialchauvinistische Schikane zu verstehen.