Boualem Sansal im Gespräch über die politische Lage in Algerien und den »arabischen Frühling«

»Der arabische Frühling war eine Katastrophe«

Der algerische Schriftsteller boualem sansal spricht über die politische Situation in Algerien, die trügerischen Hoffnungen auf eine »Arabellion« und die Affinität zwischen Islamismus und Faschismus.

Boualem Sansal wurde 1949 in Algerien geboren, ist promovierter Volkswirt und arbeitete seit 1992 im algerischen Industrieministerium. 1999 erschien sein erster Roman, »Der Schwur der Barbaren«. Nach der Veröffentlichung seines »Persönlichen und politischen Tagebuchs« 2003 wurde Sansal gekündigt, seither ist er ausschließlich als Schriftsteller tätig. Wegen seiner Kritik am Islam und seiner recht positiven Haltung zu Israel ist er in vielen arabischen Staaten umstritten. 2011 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, in seiner Preisrede plädierte er eher moderat für eine Aussöhnung der Araber mit Israel. Sein neues Buch, »Allahs Narren« (»Gouverner au nom d’ Allah«), gibt einen Abriss der Entwicklung des modernen Islamismus und beschreibt, welche Rolle der Westen bei der Radikalisierung des Islam spielt.

Gab es in Algerien einen gesellschaftlichen Umbruch, der sich mit dem »arabischen Frühling« der vergangenen Jahre vergleichen ließe?
In Algerien gab es im Sommer 1988 einen »algerischen Frühling«, der damals auch so genannt wurde. Im Sommer 1988 waren die Preise für Fleisch gestiegen, und in der Gesellschaft hatte sich viel Wut angestaut. Der algerische Präsident, Chadli Bendjedid, der zwischen der Armee und der Einheitspartei FLN stand, hielt eine Rede, in der er sagte: »Das Volk ist nicht zufrieden, aber das ist unwichtig.« Das führte zu großen Demonstrationen, ähnlich wie in Ägypten im Januar 2011. Die Leute gingen auf die Straße und brannten Ministerien und Verwaltungsgebäude nieder. Die Bevölkerung wandte sich damit hauptsächlich gegen die algerische Einheitspartei, den FLN. Auch der Präsident wollte sich der Einheitspartei entledigen, denn er stammte aus dem Militär und wollte mit dem Militär regieren. Es gab weiterhin täglich Demonstrationen. In der Folge gewannen die Islamisten an Einfluss, von denen man zuvor kaum etwas bemerkt hatte, sie hatten im Verborgenen gearbeitet. Es waren nicht viele, zu den bekannten gehörte Abassi Madani, der 1989 den FIS (die Islamische Heilsfront; die Red.) mitbegründete. Wenn die Bevölkerung glaubt, eine Führungsperson zu sehen, stellt sie sich hinter diese. Heute in Frankreich ist das so ähnlich, wo es Marine Le Pen gibt, und alle stellen sich hinter sie. Die Bevölkerung stellte sich also hinter die Islamisten. Nach einigen Wochen des »algerischen Frühlings« erklärte die Regierung sinngemäß: »Wir werden eine neue Verfassung ausarbeiten, aber wir müssen vernünftig sein, wir benötigen eine Übergangsperiode.« Zunächst war die Rede von einer einjährigen Übergangsperiode. Dann von zwei, von drei Jahren, von fünf Jahren, nun dauert es bereits 25 Jahre. Die alten Machthaber sind immer noch da, das Militär ist immer noch da. In Tunesien und Ägypten ist es ähnlich.
Ist auch die Rolle, die das Militär in Algerien und Ägypten spielt, eine ähnliche?
Es ist dieselbe Situation. In diesen Ländern hat immer das Militär die Macht, aber das Militär besteht aus Leuten, die die Schule des Kriegs absolviert haben, sie wissen, wie man Schlachten schlägt. Sie haben einen Sinn für Strategie und Taktik. Sie ziehen sich zurück, damit sich die Lage beruhigt. Sie schaffen Hinterhalte, sie verhalten sich eben als Militär. Manchmal entscheiden sie sich, die Islamisten für ihre eigenen Interessen vorzuschicken. Dann, so ihr Kalkül, wird das Volk bald mit den Islamisten unzufrieden sein. Ein anderes Mal beschließen sie, die Demokraten vorzuschicken. Und die Demokraten agieren in den arabischen Ländern wie schlechte Manager. Dort Stabilität zu schaffen, das ist zu kompliziert für sie.
Stehen die Islamisten nicht vor dem gleichen Problem?
Nein, die Islamisten verstehen die Bevölkerung. Die Islamisten kommen selbst aus der Bevölkerung, sie sind in den Stadtteilen, an der Basis organisiert. Die Demokraten in den arabischen Ländern sind in Paris oder in Berlin ausgebildet worden und wenden sich an die Leute in der gleichen Weise, wie sie es in den westlichen Ländern gelernt haben. Die Islamisten hingegen sind in den Moscheen, in den Souks aktiv, sie geben der Bevölkerung das Gefühl, zu sprechen wie sie selbst. Das ist der Unterschied. Die Demokraten kommen von den Universitäten, aus dem bürgerlichen Milieu, sie haben im Ausland studiert, vielleicht in den Vereinigten Staaten, und sie theoretisieren viel. Deshalb ist eine Demokratisierung in diesen Ländern unmöglich. Die Demokraten müssten aus dem Volk selbst kommen, um dort anerkannt zu werden. Die Demokraten, die es gibt, stehen zwischen den Islamisten, die in der Bevölkerung verankert sind, und dem Militär, das über die Waffen verfügt. Anders als diese beiden Gruppen, sind die Demokraten schlecht organisiert und halten Reden, die die Leute nicht verstehen.
In Ägypten scheint die Bevölkerung jetzt genug davon zu haben, dass die Islamisten an der Macht sind.
Nun ja, sie haben genug, aber daraus entsteht noch keine Revolution. Das ist einfach der »Zorn des Volkes«. Die Leute wählen dennoch die Islamisten, weil sie sie eben kennen. Die Demokraten kennen sie nicht.
Was halten Sie von der Metapher des »arabischen Frühlings«, die sich in Westeuropa großer Beliebtheit erfreut?
Als das alles in Tunesien begann, sprach die ganze Welt vom »Frühling«. Ich hingegen habe gesagt, dass es sich dabei um eine Katastrophe handelt, weil es das Terrain entweder für die Herrschaft des Militärs oder der Islamisten bereiten würde. Alle meinten, ich sei verrückt, pessimistisch, ich würde die Menschen entmutigen.
In Tunesien gab es nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Ben Ali große Demons­trationen für Freiheit, für Bürger- und Frauenrechte. Die Proteste waren keineswegs von den Islamisten geprägt.
Nun, das Militär und die Islamisten bedienen sich einer ähnlichen Strategie, sie sind organisiert und reflektieren ihre Situation. Sie treten nie sofort in den Vordergrund, sie warten, bis sich eine Lage ergibt, in der sie die Stimmung für sich nutzen können.
Spielt das Militär in Ägypten gegenüber den Islamisten nicht auch eine fortschrittliche Rolle?
Nein. Es gibt zwar unterschiedliche Tendenzen im Militär, und deren Vertreter diskutieren untereinander. Sie wissen, dass die westlichen Staaten sie beobachten, kurz, es sind Leute, die reflektieren. Aber mit den Islamisten ist es genauso. Sie haben Kontakte zu anderen Islamisten überall auf der Welt. Für sie ist das, was etwa gerade in Tunesien geschieht, zweitrangig. Ihre Pläne sind globaler Art. Hier verliert man, dort gewinnt man, hier greift man an, dort zieht man sich zurück. Der Unterschied ist, dass die Demokraten neu sind in diesen Ländern. Es hat dort nie große demokratische Parteien gegeben, also haben sie auch kaum praktische Erfahrung. Die Islamisten hingegen sind seit langer Zeit aktiv, auch während der Befreiungskriege waren sie es.
Bei uns in Algerien gab es etwa die Bewegung der religiösen Ulemas, das waren erstaunliche Strategen. Während des algerischen Befreiungskriegs waren die Islamisten in Algerien auf der Seite Frankreichs, sie wollten keine Unabhängigkeit. Denn wenn Frankreich, beunruhigt durch die Befreiungsbewegung, Tausende Soldaten schicken würde, zerbräche die Unabhängigkeitsbewegung. Also wollten sie, dass Algerien französisch bliebe. Die Franzosen in Algerien fielen politisch nicht ins Gewicht, und man glaubte die Lage beruhigen zu können, wenn man nur dafür sorgte, dass die Leute Arbeit und etwas mehr Geld hätten. Die Kommunisten hingegen waren während des Prozesses der Dekolonisierung die Kader der Kolonisierung: Man verjagte den einen Herren, das kapitalistische Frankreich, um den anderen, kommunistischen Herrn, die Sowjetunion, zu installieren. Man wollte vermeiden, dass die antikoloniale Revolte gegen Frankreich zu einer demokratischen, kapitalistischen oder proamerikanischen würde. Die Kolonisten sind es gewohnt, solche Pläne zu machen. Die Islamisten unterrichteten Arabisch, sie lehrten den Islam in den Koranschulen und behaupteten, religiös zu sein und nichts mit Politik zu schaffen zu haben. Weil sie französisch bleiben wollten, hielt Frankreich sie damals für unpolitisch.
War diese Haltung nicht eher charakteristisch für den traditionellen Islam, hat sich der FIS, als Vertreter der neuen Richtung, nicht erst später gegründet?
Es gab beide Tendenzen. Im Innern des Islam gab es immer auch salafistische Strömungen oder revolutionäre, gemäßigte oder fundamentalistische. Zwei oder drei Jahrhunderte, nachdem der Prophet gestorben war, haben sich die Muslime für diese Epoche sehr, sehr wichtige philosophische Fragen gestellt. Es gab in dieser Zeit eine Form der Aufklärung im Islam. Aber all das ist heute vorbei. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Aufklärung eine Sache des Westens und des Christentums und daher der arabischen Kultur nicht angemessen sei. Unter denen, die diese Auffassung vertraten, kann man zwei Gruppen unterscheiden: die einen, die man die gemäßigten Islamisten nennen könnte und die die arabische Kultur durch das Studium des Koran restituieren wollten, und die revolutionären Islamisten, die ihn mit dem Schwert durchsetzen wollten. Diese beiden Gruppen gab es immer. Diejenigen, die damals in Algerien die »algerische Kultur« wiedererfinden wollten, taten das nicht in Allianz mit den Demokraten, sondern mit denen, die in den Ortschaften als wichtige Persönlichkeiten anerkannt waren. Das typische Beispiel für diese Entwicklung war Marokko: Der König herrschte nicht mittels der Regierung – dieser Eindruck wurde allenfalls gegenüber den westlichen Staaten erweckt –, sondern mit den »großen Fami­lien«, wie man die einflussreichen Persönlichkeiten vor Ort nannte.
In Ihrem neuen Buch, »Allahs Narren«, äußern Sie sich skeptisch gegenüber der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Andererseits haben Sie in einigen Interviews eine »Dekolonisierung« des Islam und seine »Respiritualisierung« gefordert. Wie würden Sie das Verhältnis von Islam und Islamismus beschreiben?
Im Grunde ist der traditionelle Islam schon lange verschwunden. Definiert war er durch die Einheit von Religion und Staat. Seinen Staat hat der Islam schon im 12. Jahrhundert verloren. Seither hat er sich in unterschiedliche Bewegungen zersplittert, die sich auch untereinander bekämpfen. Übrig geblieben war die Religion, aber auch eher nur als eine Art Routine, die sich um die Moscheen zentrierte, die es in jedem Ort gibt. Doch die Religion, wie sie dort praktiziert wurde, war primitiv, eher auf dem Stand von Magie. Deshalb wollte man den Islam wieder zur Sache des Staates machen. Man hat dem Islam Verfassungsrang verliehen, es wurden Imame ausgebildet. Das alles war aber bereits eine Folge der Zersplitterung des Islam. Diese Islamisierung war vor allem eine Gegenbewegung: gegen den Zerfall des traditionellen Islam, gegen den Kolonialismus, gegen den Westen, gegen die modernen Frauen, gegen die Kopten, gegen die Juden und Israel … Dieser Islam konstituiert sich durch den Hass auf die anderen. Auch auf die Neureichen übrigens: In der muslimischen Welt hat man nie diejenigen umgebracht, die immer schon reich waren, sie wurden als Teil der eigenen Kultur geschätzt. Man tötete die neuen Reichen, die Aufsteiger, die gestern noch einfache Funktionäre gewesen waren, weil man sie als Eindringlinge empfand.
Inwiefern ist diese Islamisierung eine Folge der Kolonialgeschichte?
Nehmen wir Algerien als Beispiel: Als die Franzosen dort angekommen waren, haben sie Araber, Juden und Berber vorgefunden, insgesamt drei Millionen Menschen – das waren nicht viele für solch ein großes Gebiet. Die Grenzen zwischen den kolonisierten Staaten wurden dann auf dem Berliner Kongress 1878 unter Bismarck nach machtpolitischen Kriterien gezogen. Und nach der Unabhängigkeit hat Frankreich sich, ebenfalls aus taktischen Gründen, entschieden, mit einem einzigen Clan unter den Revolutionären zusammenzuarbeiten, deren Mitglieder alle aus einer Region kamen. Das hat dann auch viel später noch, unter Bouteflika, den Nepotismus stark befördert, alle politisch Einflussreichen kamen aus denselben Fami­lien, die Berber zum Beispiel wurden nie an der Macht beteiligt. Unter solchen Bedingungen kann sich eine Demokratie nicht entwickeln. Zumal der Islam stets als arabisch, die Einheit der muslimischen Welt als arabische bestimmt wurde, weil der Islam in der arabischen Welt entstanden und der Prophet arabisch gewesen sei. Die Araber würden heute nie akzeptieren, dass die islamischen Staaten von Schiiten, Persern oder Türken regiert würden. Daher braucht es sehr viel Zeit und günstige Um­stände, damit dort eine Demokratisierung stattfinden kann.
Sie sind in Europa als algerischer Schriftsteller bekannt, aber Sie schreiben auf Französisch und orientieren sich an der Literatur der europäischen Moderne. Gibt es in Algerien eine eigene Tradition der ästhetischen Moderne?
Es gibt eine lange französischsprachige, algerisch-maghrebinische Literaturtradition, aber keine eigenständige arabische. Das liegt daran, dass es dort lange Zeit kaum literarische Bildung gab. Die einzigen Araber, die gebildet waren, gab es in den Moscheen, und die arabische Sprache galt seit jeher als heilig, als Sprache des Koran, fernab der profanen Welt und des Alltags. Personen zu schaffen, wie es die Literatur tut, sich Personen auszudenken, das ist diesem Denken zufolge verboten, es ist Gott vorbehalten, zu schaffen. Das Gleiche gilt für Fotografien und andere Abbildungen, künstlerische »Repräsentation« ist verboten. Daher ist fiktionale Literatur dort, wenn überhaupt, im Verborgenen entstanden, oder die Bücher und die Verleger der Werke waren französischsprachig.
In Ihrem Buch »Das Dorf der Deutschen« beschreiben Sie die Zusammenarbeit eines Nazis mit den Kämpfern des FLN. Welche Affinität gibt es Ihrer Ansicht nach zwischen dem Nationalsozialismus und dem Islamismus?
Es gibt natürlich ideologische Ähnlichkeiten. Die verschiedenen Faschismen, der italienische Faschismus, der Nazismus und der Islamismus, auch der Stalinismus oder etwa die Ideologie der Roten Khmer, haben viele Gemeinsamkeiten: das Führerprinzip, das Prinzip der Einheitspartei, die Militarisierung der Gesellschaft. Aber es gibt auch eine spezifische historische Nähe zwischen Nationalsozialismus und Islam: Schon kurz nach der Machtergreifung 1933 begann Hitler, Kontakte zu arabischen Nationalisten zu knüpfen, und wollte, dass sie Teil der Achsenmächte im Kampf gegen die Franzosen und Engländer werden. Und es gab gerade unter jungen Leuten in der arabischen Welt eine ungeheuere Bewunderung von Hitler und den Nationalsozialisten. Außerdem gab es um 1943, als die Niederlage der Nazis im Grunde absehbar war, auch die Idee, das »Dritte Reich« in der arabischen Welt zu rekonstituieren. In den kolonisierten arabischen Staaten verbanden viele die Idee der nationalen Befreiung mit dem Nazismus. Es gab daher viele Ex-Nazis, die zum Beispiel in Ägypten seit den fünfziger Jahren für Nasser gearbeitet haben. Noch in meiner Jugend gab es in meinem Umfeld unter meinen Altersgenossen und bei den Erwachsenen eine enorme Bewunderung für Hitler – nicht allein auf dem Land, sondern überall. Während des Befreiungskrieges gegen Frankreich war das für viele das Modell.