Die große Koalition will das Streikrecht einschränken

Ruhe in der Kartonfabrik

Die Unionsparteien und die SPD wollen die Tarifeinheit gesetzlich vorschreiben. Es geht dabei um nicht weniger als die Einschränkung des Streikrechts.

Otto von Bismarcks politischer Grundsatz »Zuckerbrot und Peitsche« mag alt sein. Aus der Mode ist er nicht. Das zeigt der Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU auch unter dem Punkt »Gute Arbeit«. Die Anlehnung an den Jargon des DGB ist kein Zufall. Die Parteien planen zum Beispiel die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Branchen. Vorgesehen ist auch ein Mindestlohn als »angemessener Mindestschutz« sowie die Regelung von Werkverträgen und Leiharbeit. Angedeutet wird zudem die Aussicht auf Besserstellung von Teilzeitbeschäftigten, besseren »Datenschutz im Arbeitsleben« und größeren Schutz für »Whistleblower«. All diese Punkte wollen SPD und Union offenbar als Versprechen an die Beschäftigten und Gewerkschaften verstanden wissen.

Der Wirtschaftsflügel der CDU mag deshalb unken, Angela Merkel führe keine große, sondern eine sozialdemokratische Koalition. Wie sehr die schwarz-rote Koalition in spe um wirtschaftsfreundliche Stabilität besorgt ist, zeigt sich allerdings unter anderem in einem kurzen Passus zur gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit, der bei seiner tatsächlichen Anwendung zur Einschränkung des Streikrechts führen würde. Im Koalitionsvertrag heißt es, der »Grundsatz der Tarif­einheit nach dem Mehrheitsprinzip« solle gesetzlich festgeschrieben werden, um »den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken«.
Durch die restriktive Praxis und Rechtsprechung, wenn es um Arbeitskämpfe geht, ist das Streikrecht in Deutschland eng gekoppelt an tarifliche Forderungen. Die sogenannte Tarifeinheit hatte den DGB-Gewerkschaften jahrzehntelang die Rolle der Platzhirsche gesichert: ein Betrieb, ein Tarif. War ein Vertrag erstmal unterzeichnet, galt Friedenspflicht: Ruhe im Karton! Wenn nun also die Tarifautonomie von Minderheitsgewerkschaften zur Diskussion steht, geht es immer auch ums Streikrecht – und das ist für die Gewerkschaften, was das Budgetrecht für die Parlamente ist. Betroffen und in ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt wären nicht nur die Berufs- und Spartengewerkschaften der Lokführer (GdL), Ärzte (Marburger Bund), Flugbegleiter (UFO), Piloten (Cockpit) und der Flugsicherung (GdF) sowie der Journalistenverband DJV und der Beamtenbund DBB, sondern auch die Hafengewerkschaft Contterm und die anarchosyndikalistische Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Zusammen vertreten diese Gewerkschaften und Vereinigungen etwa 700 000 Beschäftigte.
Der Grund für das geplante Gesetz ist eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Es hob im Sommer 2010 den »Grundsatz der Tarif­einheit« auf. Seither ist allein die Gewerkschaftszugehörigkeit der Beschäftigten ausschlaggebend für die Frage, welcher Kollektivvertrag für sie gilt, wenn eine Tarifpluralität vorliegt. Damit verabschiedete sich das BAG vom bis dahin bestehenden Prinzip, »dass der speziellere Tarifvertrag den anderen Tarifvertrag im Betrieb verdrängt« – dies hatte es unter anderem christlichen Gewerkschaften ermöglicht, Flächentarife etwa der IG Metall zu unterlaufen. Die Tarifpluralität eröffnete aber auch vorher unbekannte Möglichkeiten für Gewerkschaftsneugründungen, weil die Friedenspflicht nur noch die vertragsschließende Organisation bindet. Das Ende der Tarifeinheit war die rechtliche Bedingung dafür, dass sich kämpferische Belegschaften von Gewerkschaftsapparaten emanzipierten.

Die Reaktion der »Sozialpartner« kam prompt. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) forderten von der Politik sogleich die Wiederherstellung der Tarifeinheit (Jungle World 26/2010) und legten auch sofort einen Gesetzentwurf vor. Einmütig befürchteten Bosse und Genossen, dass die Zahl der Gewerkschaften und das Streikaufkommen größer würden. Dieser Argumentation folgt auch der neu gewählte Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, der durch »eine bessere Systematik« einen »Wildwuchs in den Betrieben« gesetzlich verhindert sehen will.
Empirisch belegt sind die Befürchtungen nicht. So räumte Hagen Lesch für das unternehmernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im September ein, dass »weder ein Anstieg der arbeitskampfbedingt ausgefallenen Arbeitstage noch eine Zunahme der bestreikten Betriebe« zu erkennen sei. Doch »ohne Gewerkschaftswettbewerb liegt die Konfliktintensität deutlich niedriger«, stellte das IW fest. Eine über Jahrzehnte hinweg etablierte Gewerkschafts- und Betriebspolitik wird eben nicht binnen weniger Jahre völlig auf den Kopf gestellt. Auch die »Konfliktintensität« der Spartengewerkschaften, so Lesch, sei »nicht generell größer als bei den Branchengewerkschaften«.
»Geordnete Bahnen – schon die Formulierung ist absurd«, sagt der Sprecher des Marburger Bundes, Hans-Jörg Freese, im Gespräch mit der Jungle World über den Passus im Koalitionsvertrag. Denn die Tarifpluralität sei Ausdruck eines pluralen gesellschaftlichen Grundverständnisses. Damit hätten insbesondere die Sozialdemokraten ihre Probleme, »weil sie das nicht richtig verstehen«. Anders verhält es sich beim Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske. Dieser versicherte in einem Interview, Verdi werde sich »als Gewerkschaft nicht selbst delegitimieren«, indem man Tarifverträge anderer Gewerkschaften »tunneln« würde. Freese merkt jedoch kritisch an: »Ob das eine belastbare Aussage ist, wird man sehen.« Wie belastbar die Verurteilung der Pläne durch den ersten Vorsitzenden des Marburger Bundes, Rudolf Henke, ist, muss sich ebenfalls noch zeigen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete hat in seiner Fraktion offenbar nicht gegen den Koalitionsvertrag votiert.

Belastbar ist aber wohl die Ankündigung der Ärztevertretung und der Lokführergewerkschaft, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, sollte ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden. Denn von den praktischen Problemen etwa der Mehrheitsfeststellung im Betrieb abgesehen, ist völlig unklar, wie das Prinzip der Tarifeinheit verfassungsgemäß zur Anwendung kommen soll. Der Vorsitzende des DJV, Michael Konken, wird mit der Einschätzung zitiert, das Vorhaben sei »verfassungsfeindlich«. Schließlich ist die Koalitionsfreiheit ein Grundrecht, das für alle gilt. »Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig«, ist im Grundgesetz festgelegt. Dass sich Gewerkschaften auf staatliche Instanzen verlassen müssen, wenn es dieses Freiheitsrecht zu verteidigen gilt, zeugt von ihrer tatsächlichen politischen Schwäche.