Die gesamte offizielle Diskographie von Bob Dylan ist erschienen

Aus der Werkstatt des Meisters

Das Jahr 2013 war seines. Über Bob Dylan und sein gerade erschienenes umfangreiches Box-Set »The Complete Album Collection Vol. 1«, das die gesamte offizielle Diskographie umfasst.

Das Jahr 2013 ist ein vielleicht unscheinbares, aber dennoch bedeutendes Datum im fünf Jahrzehnte umfassenden künstlerischen Schaffen von Bob Dylan. In der New York Times wurde er, wieder einmal vergeblich, für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen. Die diesjährige Europa-Tour, die Ende November mit drei Konzerten in der Londoner Royal Albert Hall abgeschlossen wurde, stieß auf wohlwollende bis euphorische Reaktionen in der Fangemeinde. In London wurde zudem die Ausstellung »Mood Swings« eröffnet, die Dylans aus Eisen gefertigte Skulpturen präsentiert; ein Material, das bereits 1963 in »North Country Blues« als Rohstoff urame­rikanischer Mythen besungen wurde. Schließlich wurde in diesem Jahr durch die Veröffent­lichung der zehnten Folge der offiziellen »Bootleg Series« mit »Another Self Portrait« auch eines der umstrittensten Dylan-Alben rehabilitiert. Selbst Greil Marcus, der das Original-Album »Self Portrait« 1970 im amerikanischen Rolling Stone mit den berühmt gewordenen Worten »What is this shit?« verhöhnte, fällt in den Liner-Notes ein freundliches Urteil.
Seit Anfang November liegt nun auch noch die gesamte offizielle Diskographie unter dem Titel »The Complete Album Collection Vol. 1« vor: 35 Studioalben und sechs Livemitschnitte, 14 davon neu gemastert. Dazu gibt es die Doppel-CD »Side Tracks« mit seltenen Aufnahmen sowie ein ansprechend gestaltetes Booklet mit ausführlichen Liner-Notes des amerikanischen Autors Bill Flanagan und des britischen Dylan-Biographen Clinton Heylin. Doch obwohl der globale Versandhändler, in dessen Werkhallen Arbeitsverhältnisse wie auf »Maggie’s Farm« herrschen, diese schöne kompakte Box für einen akzeptablen Preis anbietet, stellen sich zunächst Zweifel am Gebrauchswert der voluminösen Kompilation ein. Wer seit Jahrzehnten Dylan hört, dürfte die Platten bereits besitzen und sich längst auf die zahllosen Live-Mitschnitte konzentrieren. Und wer bislang fünf oder sechs Alben des Œuvres verschmähte, wird dafür seine guten Gründe gehabt haben. Wer sich über Kratzer auf seinen Vinylplatten ärgert, wird hier jedoch auf seine Kosten kommen. Und für Novizen lohnt sich dieses opus magnum ­allemal.
Bereits das anregend bebilderte kleine Booklet bietet reichlich Stoff. Flanagan weist auf den Zeitkern von Dylans dennoch zeitlosen Songs hin und würdigt einen Musiker, der für viele ein »wise comrade on life’s journey« war und ist. Heylin führt prägnant und kundig in die Geschichte der regulären Alben ein. Enttäuschend bleibt lediglich die Beigabe »Side Tracks«, die maßgeblich aus Aufnahmen besteht, die bereits in der vielbeachteten Werkschau »Biograph« von 1985 enthalten waren. Natürlich sind die Aufnahmen großartig, doch die Überraschungen bleiben aus.
Deutlich wird bei Sichtung dieser Box nochmals, wie radikal die Umstellung von Vinyl auf CD und Stream die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt hat. Platten von Dylan zeichneten sich zwar kaum durch ein avanciertes Artwork aus, das gerade limitierte Vinylcover zu Kunstwerken adelte, die trotz ihrer technischen Reproduktion über eine beinahe auratische Ausstrahlung verfügten. Durch den Abdruck experimenteller Erzähltexte wie »Three Kings« (auf dem Cover von »John Wesley Harding«, 1967) waren Dylans Alben jedoch immer auch literarische Gesamtkunstwerke. Im Booklet werden die literarischen Notizen, die auf den CD-Hüllen nur mit der Lupe lesbar sind, gesondert gewürdigt. Entscheidend bei dieser Sammlung ist der Zusatz im Titel, der da lautet »Vol. 1«. Dylan ist weiterhin hochproduktiv, und seit Jahren findet sein künstlerisches Schaffen auf der Bühne statt. Die offiziellen Bootlegs dokumentieren seit Anfang der neunziger Jahre, dass sich unter den Studio- und Liveaufnahmen noch zahlreiche unentdeckte Schätze befinden.
Die Euphorie, die Dylan nach wie vor auslöst, war besonders auf dem diesjährigen Americanamara Festival spürbar, wo er nach Richard Thompson, My Morning Jacket oder Wilco auch beim jungen Publikum in den USA der unangefochtene Headliner war. Dylans tief in der amerikanischen Tradition des Folk, Blues, Country und Rock ’n’ Roll verwurzelten Songs lassen auch in Europa regelmäßig Tausende Zuhörer zu den Konzerten pilgern. Ihnen begegnet ein zuweilen kauziger oder gelangweilt-abgeklärter, dann aber wieder gelöst wirkender Bühnenarbeiter, der dafür Sorge trägt, dass seine Lieder nicht zu Gassenhauern degradiert werden. Gerade die alten Klassiker unter seinen über 600 Songs werden Jahr für Jahr neu arrangiert oder gar umgedichtet. Einige der besten Cover-Versionen stammen deshalb von Dylan selbst. Dylan, der seiner vielen Wandlungen wegen schon mal als »Judas« gescholten wurde, ist ein Künstler, der sich dem Zwang zum Bekenntnis verweigert und sich den Erwartungshaltungen von Publikum und Presse immer wieder entzogen hat.
Seine legendäre Stimme ist von den Spuren vergangener Zeiten gezeichnet. Die Rezeption seiner Lyrics ist durch die große Erzählung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Erinnerung an die Kuba-Krise und den Vietnamkrieg überdeterminiert. Paradoxerweise ist Dylan eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem Authentischen. Dabei zeugt doch bereits sein Künstlername von der Lust an der Inszenierung und dem Fabulieren, die den jungen Robert Allen Zimmerman aus Minnesota antrieb. Seine Songs sind Zitate des alten Amerika. In ihnen erklingen die Stimmen von Blind Lemon Jefferson oder Woody Guthrie, von Huckleberry Finn oder Walt Whitman. Neben Tom Waits, Neil Young, Joni Mitchell und Leonard Cohen gehört Dylan zum ­lebendigen Teil der bereits musealisierten Rockgeschichte. Seine Bühnenpräsenz erlaubt nostalgische Reminiszenzen an die verklärten analogen Zeiten, die sich doch längst geändert haben. Seine Konzerte beginnen auch nicht mehr mit der ironischen Collage aus alten Presseartikeln, die ihn beispielsweise zum »Poet Laureate des Rock ’n’ Roll« stilisierten. Dylan spielte die Rolle des Dichters mit dem Lorbeerkranz im Jahr 2012, als Präsident Barack Obama ihm die Freiheitsmedaille verlieh, mit stoischer Ruhe.
Aber auch wenn er es nicht sein wollte, war Dylan noch in späteren Jahren ein wichtiger Protestsänger. Ob 1975 in »Hurricane«, der Hymne gegen die rassistische Vorverurteilung des Boxers Rubin »Hurricane« Carter, oder in »Workingman’s Blues #2« (2006), der Elegie auf das amerikanische Blue-Collar-Pro­letariat, war er mehr als nur der Folk-Epigone oder der Surrealist. Seine Wirkung entfaltet er ohnehin nicht durch seine klassischen fingerpointing songs. Dylans zentrale Themen sind zeitlos: Vergänglichkeit, Einsamkeit, Hass, Liebe, Erlösung. Er hat seinem Publikum weniger Botschaften mitgeteilt als Rätsel aufgegeben. Die Exegese seiner ebenso enigmatischen wie deutungsoffenen Verse, die nicht selten moderne Psalmen sind, wird noch Generationen an Schriftgelehrten beschäftigen. Zentrale Referenz für seine Lyrics ist die Bibel. Dabei mag der »wiedergeborene« Dylan der frühen Achtziger eine fragwürdige Figur sein. Doch mit Songs wie »Every Grain of Sand« hat er auch Klassiker geschrieben. Und Stücke wie »When the Ships Come In« wurden zu stark von Brecht oder vom Erlösungspostulat der »Internationale« (»Uns aus dem Elend zu erlösen/können wir nur selber tun«) inspiriert, als dass sie als frömmelndes Kirchenlied in evangelikalen Gemeinden erklingen könnten.
Für das Publikum existiert Bob Dylan in zahllosen Varianten – als Legende, Mythos oder einfach nur als bühnensüchtiger Musiker und Dichter. Sein unvollendetes Werk aber verweigert sich einer einfachen Kanonisierung. Die nun erschienene Diskographie ist deshalb vor allem ein opulenter Werkstattbericht.

Bob Dylan: The Complete Album Collection Vol. 1. ­Columbia/Sony Music Entertainment (2013)