Der Tod von Bauerbeitern in brasilianischen Stadien vor der WM

Dabei sein ist alles

Sklavenarbeit, Lohndumping, Unfallgefahr. Nicht nur in Brasilien sind internationale Sportveranstaltungen wichtiger als Menschen- und Arbeitsrechte.

Fifa-Präsident Sepp Blatter trauert: »Unsere Anteilnahme kommt aus tiefstem Herzen.« Der wichtigste Mann des Weltfußballs spricht, genauer: twittert über den »tragischen Tod der Arbeiter an der Corinthians-Arena«. In der vergangenen Woche stürzte ein Kran auf das Dach des Stadions in São Paulo, in dem in sieben Monaten das Eröffnungsspiel der Fußball-WM stattfinden sollte. Ums Leben kamen ein 42jähriger Kranführer und ein 44jähriger LKW-Fahrer. Ein Bauarbeiter wurde in einem Nachrichtenportal mit den Worten zitiert, es hätte »noch mehr Todesopfer geben können, wenn das Unglück nicht während der Mittagspause geschehen wäre«. Das Organisationskomitee, die Bauunternehmen und der Fußballverband, also all jene, die von der Fußball-WM profitieren wollen, sind aber vor allem bestürzt darüber, dass der Zeitplan für das Ereignis möglicherweise nicht eingehalten werden kann. Schließlich war das Stadion im Stadtteil Itaquera zum Zeitpunkt des Einsturzes bereits zu 94 Prozent fertiggestellt, nur ein Dachteil fehlte noch. Nun muss der Bau in weiten Teilen neu begonnen werden. Zunächst jedoch ruht die Arbeit, weil die Behörden die Unfallursachen ermitteln. Erst einmal mussten 1 500 Arbeiter nach Hause geschickt werden.
Es handelt sich um das dritte Unglück mit Todesopfern bei den Bauarbeiten im Rahmen der geplanten WM. Im Juni 2012 stürzte ein Arbeiter in Brasilia aus 30 Metern Höhe, im März 2013 stürzte ein Arbeiter in der Amazônia-Arena in Manaus in den Tod. Termin- und Kostendruck sind nichts Neues und nichts Ungewöhnliches bei der Vorbereitung von sportlichen Großereignissen, wie sie Fußball-WM und Olympische Spiele – sie finden 2014 und 2016 in Brasilien statt – darstellen. Gespart wird an der Sicherheit der Arbeiter und an den Löhnen. Versprochen werden eine bessere Infrastruktur, höhere internationale Aufmerksamkeit und viele neue und qualifizierte Arbeitsplätze. Der US-amerikanische Sportjournalist Dave Zirin nennt große Sportereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaften dagegen »neoliberale Trojanische Pferde«. Garantierte Arbeitnehmerrechte werden für die internationalen Großveranstaltungen oft vertraglich ausgehebelt: Vor der Fußball-EM 2012 kam es in Polen zu sechs, in der Ukraine gar zu 14 Todesfällen bei den Stadionbauarbeiten. Vor der Fußball-WM 2010 in Südafrika waren in den Arbeitsverträgen Lohnerhöhungen und Absicherung gegen Arbeitslosigkeit weitgehend ausgeschlossen worden – es ging um das große nationale Projekt der Fußball-WM. Erst durch einen Streik von 70 000 Bauarbeitern konnten Mindeststandards durchgesetzt werden. Doch so wie das Ereignis nicht nur sportliche Bedeutung hat, so haben auch die schlechteren Arbeitsverhältnisse größere gesellschaftliche Auswirkungen. Nicht nur, dass es sich bei den versprochenen neuen Arbeitsplätzen meist um kurzfristige, unterbezahlte Security-, Putz-, Service- und Parkplatzwächterjobs handelt. Die moderne Sklavenarbeit ist durch WM und Olympia in Brasilien nicht abgeschafft, sondern ausgeweitet worden. Längst wird der – in den Sozialwissenschaften allerdings umstrittene – Begriff der Sklavenarbeit auch von brasilianischen Behörden gebraucht: trabalho escravo moderno. Jüngst entdeckten Inspektoren bei Arbeiten am Flughafen von São Paulo, dass 111 Menschen unter Bedingungen schuften müssen, die nach dem brasilianischen Gesetz als Sklavenarbeit bezeichnet werden.
Zwischen 2003 und 2011 wurden in Brasilien insgesamt 33 392 Menschen von der Polizei aus diesen Arbeitsverhältnissen befreit. »Betroffen sind in erster Linie temporäre Arbeitsmigranten«, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Lisa Carstensen, »die über Arbeitsvermittler oder informelle Zeitarbeitsagenturen in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse geraten.« Meist haben sie sich, um nach Brasilien gelangen zu können, verschuldet und sind daher ihren Vorgesetzten ausgeliefert. Was Brasilien von Katar unterscheidet, ist, dass sich dort eine sozialdemokratische Regierung zumindest offiziell um die Bekämpfung der schlimmsten Auswüchse bemüht. Aber weder Brasilien noch Katar sind Einzelfälle. Mit Blick auf die Olympischen Winterspiele in Russland berichtetete die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober von den »Sklaven von Sotschi«: Etwa 40 000 ausländische Arbeiter schuften meist illegal auf den Baustellen: Sie sind billig, haben keine Rechte und auch kaum eine Möglichkeit, Rechte zu erkämpfen. »Oft sind es die Arbeitgeber, die die Arbeiter zu illegalen Migranten machen«, zitiert die FAZ einen Sprecher der Menschenrechtsorganisation Memorial in Sotschi. Baufirmen behielten die Pässe der Arbeiter ein, beantragten aber nicht die zugesagte Arbeitserlaubnis. So können sie die Baustelle, also den Arbeitsplatz, nicht wechseln, sie können nicht protestieren oder streiken. Die Unternehmen können jederzeit damit drohen, sie an die Einwanderungsbehörde zu verraten. Da Olympische Spiele und Fußball-WM nicht nur profitable Projekte für die beteiligten Firmen sind, sondern auch der Selbstdarstellung von Staaten dienen, sehen die Behörden oft keinen Grund, sich um die Zustände auf den Baustellen zu kümmern.
In Sotschi passiert sogar das Gegenteil: Der für Sotschi zuständige Gouverneur der südrussischen Region Krasnodar, Aleksandr Tkatschow, drohte im Oktober ganz unverhohlen den Arbeitsmigranten: »Von heute an gehen 60 mobile Gruppen auf Streifzüge durch Sotschi. Alle illegalen Migranten müssen nach Hause geschickt werden. Und das unverzüglich. In zwei Monaten darf kein Illegaler mehr hier sein.« Nach den Spielen in Sotschi und dem Fußball­ereignis in Brasilien gehen die sportlichen Großveranstaltungen weiter: Sommerolympiade 2016 in Rio de Janeiro, Winterspiele 2018 in der südkoreanischen Stadt Pyeongchang, Fußball-WM 2018 in Russland und Sommerspiele 2020 in Tokio – die Arbeitsbedingungen auf den dortigen Baustellen sind jeweils sehr ähnlich. Das olympische Motto »Dabei sein ist alles« wird überall, wo diese Ereignisse stattfinden, auf die Situation der Menschen angewendet, die jene durch ihre Arbeitskraft erst möglich machen: Sollen sie doch froh sein, dass sie dabei sein dürfen, und nicht noch die Hand aufhalten!
Die WM-Arena in São Paulo sollte am 25. Januar feierlich eröffnet werden: mit einem Spiel zwischen Mitarbeitern des Clubs Corinthians und Bauarbeitern, die das Stadion errichtet haben. Nicht zuletzt mit der vagen Aussicht, im Stadion kicken zu dürfen, konnten die Löhne niedriggehalten werden. Über das Ergebnis kann der Fifa-Präsident dann twittern.