In Italien entstehen die ersten »Friedhöfe für Ungeborene«

Der ungeborene Staatsbürger

Die Initiative des Bürgermeisters von Florenz, einen »Friedhof für Ungeborene« einzurichten, zeigt, wie stigmatisiert Abtreibung in Italien ist. Anstatt dagegen Sturm zu laufen, spaltet sich die feministische Bewegung jedoch.

Matteo Renzi möchte sich bei den nächsten Parlamentswahlen als Spitzenkandidat des linksliberalen Wahlbündnisses mit einer lagerübergreifenden Politik des »gesunden Menschenverstands« präsentieren. Darauf beruft sich der Bürgermeister von Florenz auch im Streit um die neue Friedhofsordnung, die der Florentiner Stadtrat Ende Oktober erlassen hat. Demnach soll auf dem städtischen Hauptfriedhof Trespiano eine Grabanlage für Föten entstehen, damit Eltern die Möglichkeit haben, »Kinder, die vor der Geburt sterben«, würdig zu begraben, statt sie als »klinischen Sondermüll« zu entsorgen.
Tatsächlich aber gibt es bereits seit 1990 einen Erlass des Staatspräsidenten, der die Bestattung von Totgeburten regelt und auf Wunsch der Betroffenen auch die Beisetzung von Föten, die die 20. Schwangerschaftswoche noch nicht erreicht haben, ausdrücklich erlaubt. Es handelt sich deshalb bei der Initiative nicht, wie Renzi beteuert, um einen »Verwaltungsakt«, der dem Leid der Trauernden einen »respektvollen Rahmen« verschafft, sondern um eine ideologische Stärkung der Abtreibungsgegner.
Florenz ist landesweit die erste linksliberal verwaltete Stadt, die ein eigenes Friedhofsareal für »ungeborene Kinder« ausweisen möchte. Nachdem im Januar 2012 die damalige rechte Stadtregierung in Rom einen 600 Quadratmeter großen »Engelsgarten« für Föten eingeweiht hatte, wurde die Initiative nicht nur von Feministinnen kritisiert, sondern auch von der linksliberalen Opposition. In diesem Herbst brach dagegen über die Schriftstellerin und amtierende Kulturministerin der Region Latium, Lidia Ravera, ein Sturm der Entrüstung los, als sie sich in einem Blogeintrag darüber aufregte, dass ihr Parteifreund Renzi »klumpige Materie« zu einem »Kind« aufwerte. Die gesamte Regionalfraktion der Demokratischen Partei distanzierte sich. Ravera sah sich zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen. Nur sehr vereinzelt meldeten sich weitere kritische Stimmen. Einige Gewerkschafterinnen empörten sich über Renzis Aufwertung von Ungeborenen zu »toten Staatsbürgern« und warnten vor einem Kreuzzug gegen das Abtreibungsgesetz. Tommaso Grassi, der im Stadtrat gegen die Verordnung gestimmt hatte, sprach im Namen der Linksfrak­tion von einem »symbolischen Akt, um bei Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, Schuldgefühle zu wecken«.

Seit 1978 gilt in Italien eine Fristenregelung, deren Bestimmungen 1981 in einem Volksentscheid bekräftigt wurden. Das Gesetz 194 erlaubt den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 90 Tage und ermöglicht einen späteren Abbruch zwischen dem vierten und fünften Schwangerschaftsmonat aus »therapeutischen Gründen«. Einem im September vom Gesundheitsministe­rium vorgelegten Bericht zufolge wurden im vergangenen Jahr 105 968 Schwangerschaften ab­gebrochen. Das Ministerium sieht den Trend der Vorjahre bestätigt, wonach die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche kontinuierlich abnimmt und Italien eine der niedrigsten Abbruchquoten aller industrialisierten Länder hat. Auffallend hoch bleibe allein die Rate der ausländischen Frauen, sie würden ein Drittel der regis­trierten Abbrüche ausmachen. Das Gesundheitsministerium hatte 2010 noch eingestanden, dass möglicherweise bis zu 20 000 illegale Abbrüche hinzugezählt werden müssten, heute wird die Zahl von regierungsunabhängigen Institutionen auf bis zu 50 000 illegale Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr geschätzt. Eine Untersuchung der Univer­sität Padua verweist hierzu auf den außerordentlichen Anstieg der vom staatlichen Statistikamt registrierten Fehlgeburten. Die Demographen deuten den Zuwachs zumindest teilweise als Folge fehlgeschlagener, unprofessioneller Abbruchversuche, die nach einer Notaufnahme in der Klinik als Fehlgeburten klassifiziert werden.
Die »Freie Vereinigung der italienischen Gynäkologen zur Anwendung des Gesetzes 194« (Laiga) stellt entgegen der beschönigenden Darstellung des Ministeriums fest, dass wegen der steigenden Zahl derjenigen, die aus Gewissensgründen weder Schwangerschaftsabbrüche durchführen noch medizinisch begleiten wollen, eine reguläre Anwendung des Gesetzes 194 verunmöglicht werde. Da landesweit über 70 Prozent, im Latium sogar über 90 Prozent der Ärzteschaft Schwangerschaftsabbrüche verweigert, hat sich die gesetzlich garantierte individuelle Verweigerung nach Auffassung der Laiga zu einer »strukturellen Verweigerung« gewandelt. Silvana Agatone, Präsidentin der Laiga, wies darauf hin, dass in einigen Regionen überhaupt nicht mehr legal abgetrieben werden könne. Bei insgesamt nur noch 150 organisierten nicht verweigernden Ärztinnen und Ärzten überschreiten die Wartezeiten für einen Eingriff die gesetzlichen Fristen. Medikamentöse Abbrüche in der Tagesklinik werden erschwert und weiterhin vor allem medizinisch und bürokratisch aufwendigere chirurgische Abbrüche vorgenommen. Außerdem beklagt die Laiga die Schwierigkeiten, in Italien die »Pille danach« zu bekommen, wodurch weitere ungewollte Schwangerschaften nicht verhindert würden.

Eine im Frühjahr von der Tageszeitung La Repubblica veröffentlichter Bericht spricht von einer wachsenden Zahl von Frauen, die sich über den Schwarzmarkt gefälschte Abtreibungspillen besorgen, nach illegalen Abbrüchen verbluten, an Infektionen sterben oder nach regulären chirurgischen Notfalleingriffen in den Krankenhäusern vom Ärzte- und Pflegepersonal drangsaliert werden. Im April verurteilte das Kassationsgericht eine Ärztin zu einem Jahr Haft mit anschließendem Berufsverbot, nachdem sie sich geweigert hatte, bei einer Patientin nach bereits vollzogenem Abbruch eine Nachblutung zu stillen.
Dass der Kampf der Abtreibungsgegner für das Leben der Ungeborenen vor allem ein Kampf gegen das selbstbestimmte Sexualleben von Frauen ist, bezeugt exemplarisch der Konflikt um die in den siebziger Jahren aus der autonomen Frauenbewegung hervorgegangenen, seit 1975 institu­tionalisierten »Familienberatungszentren«. Sie sollen Aufklärungsarbeit leisten und die kostenlose medizinische und psychologische Grundversorgung von Mädchen und Frauen sichern. Unter Missachtung der gesetzlichen Vorgaben sind die Einrichtungen in den vergangenen Jahren chronisch unterfinanziert, viele mussten aufgrund mangelnder technischer Grundausstattung und fehlendem Personal geschlossen werden.
Im Latium kämpft Olimpia Tarzia, eine katholische Lebensschützerin, die im Frühjahr über die Liste der rechtsextremen Partei »La Destra« ins Regionalparlament gewählt wurde, seit drei Jahren für eine »Neudefinition« der Beratungszentren: Sie sollen zukünftig zur »Unterstützung und Förderung der traditionellen Familie und ihrer Werte« dienen. Nachdem ihr Gesetzentwurf in der vorigen Legislaturperiode auch wegen einer riesigen Unterschriftenkampagne abgewehrt werden konnte, brachte die Aktivistin des »Movimento per la vita« ihn im Frühjahr erneut ein. Unterstützt wird die »Reform Tarzia« von einem breiten Bündnis aus Neofaschisten, Erzkonservativen und katholischen Zentrumsparteien.
Renzis Friedhofsinitiative ist keine bloße wahltaktische Anbiederung an die Fraktion der Abtreibungsgegner, sie ist Ausdruck einer neuen kulturellen Hegemonie. Aus dem Protest gegen Silvio Berlusconis Sexskandale entstand eine Frauenbewegung, die sich nicht mehr über die politische Selbstbestimmung, sondern über die moralische Abgrenzung der beschämten Frauen und Mütter von den schamlosen Sexarbeiterinnen der Bunga-Bunga-Partys definiert. Weibliche Freiheit scheint auch immer mehr Demokratinnen mit »gesundem Menschenverstand« suspekt. Ihr Engagement galt zuletzt der Verabschiedung eines Gesetzes zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Wer ein paternalistisches Strafrecht, in dem Frauen von vornherein nur als Opfer betrachtet werden, die der staatliche Repressionsapparat zu schützen hat, als Erfolg feiert, hat dem schleichenden Abbau von Selbstbestimmungsrechten nichts entgegenzusetzen.