In Libyen wird wieder gekämpft

Die Macht der Milizen

In den libyschen Städten wird wieder gekämpft. Doch es ist nur eine bewaffnete Minderheit, die sich dem nation building widersetzt.

Im Hinblick auf die Unterstützung für die Demokratie hat Libyen Deutschland bereits überholt. Bei einer Umfrage des American National Democratic Institute sagten 85 Prozent der Libyerinnen und Libyer, die Demokratie sei die beste Staatsform. In Deutschland findet diese Aussage nur bei 75 Prozent der Bevölkerung Zustimmung. Zwar will in Libyen die Mehrheit die Sharia als eine Quelle der Gesetzgebung verstanden wissen, doch nur 25 Prozent stimmen der islamistischen Forderung zu, sie solle die einzige Grundlage des Justizsystems sein. Immerhin 70 Prozent wollen die Gleichberechtigung der Frauen in der Verfassung verankern.
An der Mehrheit der Libyerinnen und Libyer liegt es also nicht, wenn das nation building kaum vorankommt. Milizionäre genießen der Umfrage zufolge Respekt, sofern sie sich am Kampf gegen die Diktatur Muammar al-Gaddafis beteiligt haben, sollen aber entwaffnet werden. Das derzei­tige Chaos ist ein Erbe des Herrschaftssystems Gaddafis. Jahrzehntelang mit dessen obskurantistischer Ideologie indoktriniert und weitgehend isoliert vom Rest der Welt, hat die Bevölkerung erst seit zwei Jahren die Möglichkeit, zu diskutieren, sich zu informieren und zu organisieren. Weil die Diktatur des »Revolutionsführers« extrem personalisiert war und kein Staat sein sollte, fehlt überdies in Libyen etwas, das niemand mag, aber jeder braucht: eine Bürokratie. Es gab nach dem Sturz Gaddafis praktisch keine Verwaltungsinstitutionen, vor allem deshalb fiel es einflussreichen Interessengruppen und Milizen leicht, vielerorts die Macht zu übernehmen.
Die Wut darüber gärte schon lange, Mitte November kam es nach einem Massaker an Protestierenden in Tripolis zur Eskalation. Gegen die Milizenherrschaft wird in mehreren Städten demonstriert und gestreikt, das Militär bemüht sich, die Milizionäre zu vertreiben. Gemessen an den Ausgangsbedingungen ist die Lage daher keineswegs so schlecht, wie die nicht selten gehässige Berichterstattung insbesondere in vielen linken Medien glauben machen will. Nachdem die Libyer und Libyerinnen sich ihres Diktators entledigt haben, kämpfen sie nun in einer zweiten Phase der politischen Revolution gegen den Milizenterror und für ihr Recht, sich eine Verfassung zu geben.
Die Mehrheit der Bevölkerung denkt gesellschaftspolitisch konservativ, aber nicht fundamentalistisch – islamistische Parteien erhielten in Libyen wesentlich weniger Stimmen als in Ägypten und Tunesien –, während in ökonomischen Fragen sozialdemokratische Ansichten vorherrschen. Etwa 90 Prozent der Befragten wollen das Recht auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Wohnraum in der Verfassung verankern. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens über eine demokratische Regierungsform, die Garantie der Menschenrechte und die Notwendigkeit eines Sozialstaats – und es gibt eine bewaffnete Minderheit, die sich dem nation building widersetzt. Zumindest die jihadistischen Milizen können nur militärisch besiegt werden, die nationale Armee aber ist noch nicht sehr kampfstark. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben ist in Libyen nicht verflogen, 61 Prozent der Bevölkerung blicken optimistisch in die Zukunft.