Ein Bericht über sexuelle und reproduktive Rechte sorgt im EU-Parlament für Streit

Tea Party im EU-Parlament

Im Europaparlament blockieren rechte und konservative Abgeordnete eine Empfehlung, die sich für den legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und für eine fortschrittliche Sexualerziehung stark macht.

»Das Parlament hat heute gezeigt, dass es in manchen Situationen das Vertrauen der Bürger nicht verdient.« Die sichtlich verärgerte EU-Par­lamentarierin Edite Estrela musste erst einmal die lautstarken Buhrufe zahlreicher Kollegen abwarten, ehe sie am 22. Oktober im stimmungsvoll aufgeheizten Straßburger »Hémicycle« das Wort ergreifen konnte. Soeben war etwas geschehen, was im Europaparlament äußerst selten vorkommt. Eigentlich sollte das Plenum an diesem Tag über den Bericht »Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte« abstimmen. Stattdessen wurde er nach einer hitzigen Verfahrensdebatte und einigen Anträgen zur Geschäftsordnung in den zuständigen Ausschuss zurückverwiesen.
Dabei hatte sich in diesem Gremium eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten für den Text ausgesprochen, weshalb er ordnungsgemäß auf die Tagesordnung des Plenums gekommen war. »Diese Abstimmung sollte respektiert werden«, forderte Estrela und sprach von einem mangelnden Respekt für das Abgeordnetenmandat. Doch die portugiesische Sozialdemokratin kam an diesem Tag nicht gegen die lautstarken Proteste des ultrarechten Flügels an. Angeführt wurde er von dem Briten Ashley Fox (Conservative Party) und dem Franzosen Bruno Gollnisch (Front Nati­onal). Bei ihrem Antrag auf Rückverweis des Estrela-Berichts in den Ausschuss für Gleichstellungsfragen bekamen sie am Ende Unterstützung von der größten Fraktion im Parlament, der Europäischen Volkspartei (EVP). »Wir müssen auch mit dem Minderheitenrecht dieses Hauses ordentlich umgehen«, rief der deutsche Christdemokrat Elmar Brok vor der Abstimmung in die Runde und erntete lang anhaltenden Beifall. Somit gelang der Coup der Konservativen: Der Antrag wurde mit 351 Stimmen zu 319 Gegenstimmen angenommen.
Diesem Votum war eine intensive Lobbyarbeit der sogenannten Lebensschützer vorangegangen. »In den Wochen vor der Abstimmung erhielten die deutschen Abgeordneten jeden Tag rund 500 E-Mails, in denen sie aufgefordert wurden, dem Bericht nicht zuzustimmen«, sagt Cornelia Ernst, die für die Partei »Die Linke« im Europaparlament sitzt. Die Szenen im Parlament verglich sie mit den Kämpfen gegen das Frauenwahlrecht vor über 100 Jahren. Das, was im Plenum stattfand, bezeichnet Ernst als »europäische Tea Party«. Die E-Mail-Kampagne sei von der Europäischen Bürgerinitiative »Einer von uns« und der »Zivilen Koalition« unterstützt worden, die der Alternative für Deutschland (AfD) nahesteht.
In diesen Reihen wurde das Votum im Parlament gebührend gefeiert. Als »wichtigen Sieg« der »Freunde des Lebens«, bezeichnet etwa die »Internet- und Blogzeitung für Zivilgesellschaft«, die Freie Welt, den Vorgang: »Die Verfechter einer Kultur des Todes schäumten vor Wut.« Bei solchen Darstellungen wird den EU-Abgeordneten bewusst weitaus mehr Macht zugesprochen, als ihnen in diesem Bereich in Wirklichkeit zukommt. Tatsächlich handelt es sich bei dem umstrittenen Text um einen Initiativbericht des Parlaments, ein Schreiben also, das nicht wie andere Berichte als Grundlage für europäische Gesetze dienen kann. Ein solcher Text gibt lediglich die Meinung des Parlaments wieder, mit entsprechenden Empfehlungen an die nationalen Regierungen. Die Gesetzgebung in diesem Bereich bleibt hingegen den Nationalstaaten alleine überlassen.

Der Estrela-Bericht wolle die »Tötung ungeborener Kinder als Menschenrecht« festschreiben und verlange eine »Zwangsschulsexualerziehung, in deren Rahmen die Kinder zur Homosexualität erzogen werden sollen«, schreibt Katholisches.info, das »Magazin für Kirche und Kultur«. Ziel sei es, alle EU-Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, »Abtreibung und Homosexualität zu sponsern«.
In der Debatte im Parlament, die einen Tag vor der Abstimmung stattgefunden hatte, war Ähnliches geäußert worden. Dieser Bericht beeinträchtige die Souveränität der Mitgliedstaaten, regte sich dort der polnische Konservative Marek Migalski auf. Als Polen der EU beigetreten sei, habe man dem Land versichert, es dürfe über moralische Werte und Fragen der Abtreibung selbst entscheiden. Zudem drehe der Bericht alles um. »Die Sicht des Kindes, das getötet wird, wird nicht gesehen«, so der Politologe Migalski, der vor drei Jahren die Partei »Polen ist das Wichtigste« mit gründete.
Tatsächlich beschränkt sich der Bericht auf die Empfehlung, »aus Erwägung der Menschenrechte und der öffentlichen Gesundheit« allen Frauen in der Europäischen Union einen legalen Zugang zu »hochwertigen Diensten im Bereich des Schwangerschaftsabbruches« zu gewährleisten. Zudem werden die Länder aufgefordert, sicherzustellen, dass medizinische Fachkräfte im Falle von Abtreibungen nicht strafrechtlich verfolgt werden. »Hier werden die Freiheit und die Rechte von Bürgerinnen beschnitten, die nicht damit einverstanden sind, Leben auszulöschen«, kommentierte in der Debatte der kroatische Christdemokrat Davor Ivo Stier diese Empfehlung.
Auch so manche Passage im Text über Sexual­erziehung stieß auf Kritik. Die Betonung im Bericht, dass Sexualunterricht nicht diskriminierende Informationen beinhalten und eine positive Sichtweise von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Intersexuellen und Transgender-Personen vermitteln müsse, rief den italienische Rechtsextremen Claudio Morganti (Lega Nord) auf den Plan. Er regte sich über eine derart »positive Aussprache für Schwule und Lesben« auf und meinte, dass es in der Natur um die Vereinigung von Mann und Frau gehe und dies »nicht umkehrbar« sei. Woraufhin er von der Grünen Ulrike Lunacek aufgefordert wurde, die Aussage, Homosexuelle seien anormal, zurückzunehmen. »Solche Aussagen sollte man in diesem Parlament nicht zu hören bekommen«, sagte die Österreicherin und stellte Morganti in der Debatte die Frage: »Hatten Sie jemals Sex, ohne das Ziel zu verfolgen, sich fortpflanzen zu wollen?« Dies ging jedoch dem Vorsitzenden Rainer Wieland (CDU) im Gegensatz zu den vorangegangenen Äußerungen zu weit. Solche Fragen müssten im Parlament nicht beantwortet werden, stellte der Schwabe klar.

Draußen vor dem Parlamentsgebäude hatten sich am Tag der Abstimmung etwa 100 Menschen aus Frankreich und Deutschland zu einer »Blitzdemo« zusammengefunden. Vor dem Transparent mit der Aufschrift »Tabufreier interaktiver Sex-Unterricht? Nein!« stellten sich auch Kinder fürs Pressefoto auf. Aufgerufen hatte die Initiative »Einer von uns«. Die Verabschiedung einer Entschließung wie dem Estrela-Bericht würde »massiv gegen das Elternrecht verstoßen« und einer »wertfreien und enthemmten Sexualerziehung Tür und Tor öffnen«, sagt Hedwig von Beverfoede, die Koordinatorin der europäischen Bürgerini­tiative.
Die Opposition der Konservativen habe gezeigt, wie wichtig die Behandlung dieses Themas sei, stellte die Berichterstatterin Estrela am Ende fest. Darüber gehen die Meinungen im Parlament auseinander. Manchen wäre es lieber, sie müssten hierzu in der breiten Öffentlichkeit nicht eindeutig Stellung beziehen. »Wir brauchen solche Berichte nicht«, sagt die CDU-Abgeordnete Christa Klaß im Interview mit der Freien Welt. Sie würden lediglich als »Spielwiese für nicht aus­gefüllte Europaabgeordnete gemacht«.
Edite Estrela legte ihren Text knapp eine Woche nach dem Votum im Plenum unverändert im Parlamentsausschuss zur Abstimmung vor. Diese fiel beim zweiten Mal knapper aus. Dennoch wurde der Bericht mit 19 Ja- und 15 Neinstimmen eindeutig angenommen. Er landet somit wieder im Plenum. »Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass der Bericht keine Mehrheit findet«, kündigt Christa Klaß in einem Brief an die »SOS-Leben-Aktion« an. »Der Kampf geht also weiter«, schreibt die Freie Welt.