Zum Lichte empor

Nehmen wir einmal an, über die Geschichte des 20. Jahrhunderts sei in 2 000 Jahren nichts mehr bekannt. Archäologen wollen dem abhelfen, bei ihren Ausgrabungen im ehemaligen China finden sie eine Sammlung maoistischer Propagandaplakate. Welche Schlussfolgerungen würden sie ziehen? Der Mann mit der Halbglatze muss der Sonnengott gewesen sein, wird man wohl mutmaßen, da er meist von einem Strahlenkranz umgeben oder Licht ausstrahlend zu sehen ist und sein Wirken oftmals mit einer guten Ernte in Verbindung gebracht wird. Wie auch immer die Interpretation ausfällt, es käme wohl kein unbefangener Beobachter auf die Idee, dass die Ikonen etwas mit dem wissenschaftlichen Sozialismus und der Befreiung der Arbeiterklasse zu tun haben sollen. Haben sie es denn?
Abgesehen von der nordkoreanischen Kim-Dynastie – ihr Gründer Kim Il-sung, die »Sonne der Nation«, ist auch nach seinem Tod noch Präsident –, die von der Staatspropaganda mit allerlei Wundern in Verbindung gebracht wird, hielten die Stalinisten den Personenkult zwar im Rahmen der Naturgesetze. Doch die Formen der Verehrung Maos hatten religiösen Charakter, man rezitierte aus der heiligen Schrift, der »Mao-Bibel«, trug Lobgedichte vor, sang Loblieder (»Er ist der große Erlöser des Volkes«) und reckte beim »Loyalitätstanz« die Hände zum Himmel. Gänzlich falsch würden die Archäologen der Zukunft also nicht liegen, und wer mit gestandenen Maoisten zu tun hatte, wundert sich gar nicht so sehr über das Sektenleben in Aravindan Balakrishnans Workers’ Institute of Marxism-Leninism-Mao Zedong Thought, das in der vergangenen Woche bekannt wurde. Balakrishnan hielt in London drei Frauen jahrzehntelang gefangen. Doch in den siebziger Jahren kamen die Anhängerinnen und Anhänger freiwillig und mit dem Ziel, ihren Beitrag zu einem globalen Befreiungskampf zu leisten. Das aber hätten sie auch in anderen Gruppen tun können. Der Dogmatismus maoistischer Gruppen war schon damals unübersehbar und für andere Linke oftmals Anlass zur Belustigung. Die Anziehungskraft des Maoismus machte wohl vor allem aus, dass er die Rebellion propagierte, aber die Sicherheit eines Glaubenssystems bot und das Bedürfnis junger Menschen nach Reinheit und uneigennützigem Dienst für eine große Sache befriedigte. »Unsere Genossen haben bewusst ihren bourgeoisen Rechten entsagt und den Weg der Selbstaufopferung gewählt«, verkündete Balakrishnans Workers’ Institute 1977. Diese Haltung war eine gute Grundlage für den späteren Aufbau einer Privatdespotie. Die bizarre Mischung aus Entsagung, dem vorgeblichen Dienst an der Arbeiterklasse, dem Volk oder den 99 Prozent und der Selbsterhöhung zum verkannten, aber allwissenden und letztlich siegreichen Lichtbringer findet sich in anderer Form aber noch heute in der Linken.