Antisemitismus verbreitet sich in Europa

Definitiv umstritten

Eine neue EU-Studie belegt die Verbreitung des Antisemitismus in Europa. Kritik erregt aber vor allem eine Arbeitsdefinition von Antisemitismus.

In Frankreich und Ungarn hat fast die Hälfte der dort lebenden Jüdinnen und Juden bereits erwogen auszuwandern, weil sie sich nicht sicher fühlen, in Deutschland sind es 25 Prozent. Das ist nur eines von vielen Ergebnissen einer Studie der Fundamental Right Agency (FRA), einer 2007 gegründeten EU-Institution zur Überwachung und Bekämpfung von Grundrechtsverletzungen. Die Studie wurde vorige Woche von Rabbi Andrew Baker, dem Antisemitismus-Beauftragten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in den Berliner Räumen des American Jewish Committee (AJC) vorgestellt. Sie basiert auf einer Befragung von Jüdinnen und Juden in acht EU-Ländern. In Ungarn gaben 30 Prozent an, in den vergangenen zwölf Monaten als Juden verbal oder körperlich attackiert worden zu sein, der Durchschnitt lag bei 21 Prozent. In den Statistiken der jeweiligen Ländern tauchen die meisten dieser Angriffe allerdings nicht auf, denn 76 Prozent der Belästigungen, 53 Prozent der Sachbeschädigungen und 64 Prozent der physischen Angriffe mit antisemitischer Motivation wurden nicht zur Anzeige gebracht.
Das Vertrauen in die Behörden ist also gering. Dabei wurde die Notwendigkeit, staatliche wie nichtstaatliche Stellen bei der Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus kompetenter zu machen, bereits von der Vorgängerinstitution der FRA erkannt, der bis 2007 bestehenden Europä­ischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC). In Zusammenarbeit mit Experten und NGOs wurde eine »Arbeitsdefinition des Antisemitismus« erarbeitet, bei der insbesondere die Aufnahme des »neuen« oder »israelbezogenen« Antisemitismus von Bedeutung war. Als Beispiele werden die Behauptung, »die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen«, »doppelte Standards« und »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten« genannt.

Eben jenes Dokument sorgte in den vergangenen Wochen für erheblichen Aufruhr – denn es wurde bei Aufräumarbeiten von der Website der FRA gelöscht, zusammen mit »anderen nichtoffiziellen Dokumenten«. Das konnte nicht völlig überraschen, denn die Arbeitsdefinition war von Beginn an umstritten. Bereits die Erstveröffentlichung erfolgte im Mai 2005 nicht auf der Website des EUMC, sondern auf der des Journalisten Ulrich W. Sahm, der damals schrieb, die EUMC versuche, »ein brisantes Dokument zum Thema Antisemitismus der Öffentlichkeit vorzuenthalten«. Erst nach kritischen Presseberichten wurde die Arbeitsdefinition auf die Seite des EUMC gestellt. Ihr Status blieb aber unklar, tatsächlich gearbeitet haben damit vor allem zahlreiche internationale proisraelische Organisationen wie das AJC, das die Definition in 33 Sprachen verbreitete.
Die Arbeitsdefinition half dabei, antiisraelische Medienberichte oder Boykottkampagnen anhand der Kriterien eines »offiziellen« EU-Dokuments als antisemitisch zu verurteilen, auch außerhalb der EU wurde auf sie verwiesen. Vom Verschwinden des Dokuments wurde so nicht nur die NGO Honest Reporting böse überrascht, die in einer Kampagne bereits über 30 000 Unterschriften für eine Petition gesammelt hat, in der »alle Medien« aufgefordert werden, die Arbeitsdefinition »öffentlich anzuerkennen«. Honest Reporting sieht nun auch den »Kampf gegen Antisemitismus selbst bedroht, insbesondere in Europa«. Gegenteilig reagierte die antiisraelische Seite, etwa auf der Website electronicintifada.net, auf der als Erstes darüber berichtet wurde, dass das »diskreditierte« Dokument verschwunden und damit ein Schlag gegen die »Israel-Lobby« erfolgt sei.

Von der für die FRA zuständigen Justizabteilung der Europäischen Kommission hieß es, dass »weder die Kommission noch die EU eine feste Definition von Antisemitismus haben und dass es keine Bestrebungen gibt, eine zu erschaffen«. Angesichts dieser und ähnlicher distanzierender Aussagen seitens der EU wirkt die Forderung des AJC, die Definition wieder online zu stellen, um »den offensichtlichen Wert, den die Definition immer noch hat, anzuerkennen«, defensiv und wenig überzeugend. Auch wollte Rabbi Baker im Gespräch mit der Jungle World nicht über eine politische Motivation für die Löschung des Dokuments mutmaßen. Klaus Faber vom Koordinierungsrat deutscher Nichtregierungsorganisationen gegen Antisemitismus hingegen sagt, der »politische Verdacht«, dass es genau die auf EU-Ebene neue Definition eines israelbezogenen Antisemitismus war, die gestört und zur Löschung des Dokuments geführt haben könnte, sei für ihn erst widerlegt, wenn sie wieder online gestellt oder durch eine bessere ersetzt wird. Große Hoffnungen auf Initiativen des EU-Parlaments habe er dabei nicht; das Verhalten angesichts der antisemitischen Agitation des Iran sei ein Indiz für das geringe Engagement in derartigen Fragen.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass EU-Institutionen in Sachen Israel nur allzu gut die Bevölkerung repräsentieren. Die häufigste Verbalattacke, mit der fast die Hälfte der in der FRA-Studie Befragten konfrontiert wurde, war der Vorwurf, Israelis verhielten sich gegenüber den Palästinensern »wie Nazis«. »Der auf Israel bezogene Antisemitismus ist seit Jahren die vorherrschende und bedeutendste Form- und Manifestationsvariante der aktuellen Judenfeindschaft«, sagt Monika Schwarz-Friesel, Sprachforscherin an der TU Berlin. Sie hat Tausende antisemitischer Schreiben an den Zentralrat der Juden in Deutschland ausgewertet, von denen weit über 80 Prozent Bezug auf Israel nehmen und dabei »klassische judeophobe Stereotype« kodieren würden. »Jede moderne Definition von Antisemitismus muss daher auch diese Dimension thematisieren.« Dass viele dabei auf ein EU-Dokument mit zweifelhaftem Status gebaut haben, war nicht klug.