Die politische schwule Szene und die Homoehe

Spießer im Darkroom

Die schwule Szene, deren politischer Teil stets auf Nonkonformität und Dissidenz achtet, ist angesichts der Homoehe ratlos. Wie normal wird es noch werden?

Einer der besten Kenner der schwulen Szene, ihrer Infrastruktur, Bars, Kneipen, Sexorte, privaten Netzwerke, Theaterfoyers und anderer Plätze des Cruisings, ist Sirko Salka. Er war Chefredakteur des schwulen Stadtmagazins Siegessäule in Berlin, das aus der autonomen Schwulenbewegung der siebziger Jahre hervorgegangen ist, und hat gewissermaßen den Durchblick: Was tut sich, was erlahmt, was steigt auf? Zusammengefasst hat er seine Beobachtungen in einem Buch, das im Berliner Querverlag erschienen ist, der ebenfalls aus der politisch-kulturellen Bewegung der Queers, der Schwulen und Lesben hervorgegangen ist. Der Titel des vermutlich nur die eigene Minderheit erreichenden Büchleins ist so sprechend wie kein anderer Buchtitel der Homoszene in den vergangenen drei Jahrzehnten: »Banal-Sex – Wieso schwules Leben harte Arbeit ist«.
Salka entwickelt die schöne und zugleich ein wenig ungemütliche These, dass schwules Leben der zeitgenössischen Art sich kaum politisch fassen lasse, weil es sich vorwiegend auf Sex beziehe. Nicht nur ein bisschen Sex, sondern viel Sex. Sehr viel davon. Der Autor sagt, was wirklich hübsch zu lesen ist, dass die Essenz schwulen Lebens, zumal in einer Metropole wie Berlin, sich gut eindampfen lasse auf das eine Thema: Sex. Skizziert wird eine Form der Homonormativität, die nicht viel weniger gruselig anmutet als ihre majorative Entsprechung, die Heteronormativität. Das Leben von homosexuellen Männern ist von ebenso vielen Regeln durchdrungen wie die durch Heirat, Familie und Kinder geprägte Welt der Heterosexuellen.
Homonormativ – das ist die schwule Welt, in der es um Abschleppen, Kennenlernen und Abweisung geht; um Sex aber als Grundrauschen immer. Man kommt nach dem Coming-out in die Szene, erfährt Zusammenhalt, stumme Solidarität und kumpanenhafte Geselligkeit. Diese Struktur war wichtig, solange eine ins bürgerliche Leben integrierte Biographie nicht nur nicht existierte, sondern ebenso wenig phantasiert wurde. Schwules Leben, das war auch, vor allem in den Siebzigern, grundiert von der Behauptung, das Schwule sei schon durch den Sexakt an sich ein Angriff auf die patriarchale Ordnung, im heutigen Wording auf die heteronormative Matrix. Wer ständig vögelt, wer dies auch noch mit dauernd wechselnden Partnern in flüchtigen Szenarien macht, ist nicht nur der bürgerlichen Spießigkeit entronnen, sondern greift diese frontal an.
Kein Periodikum der Szenepublizistik hat diese Ordnung des Maschinell-Sexuellen je in Frage gestellt: Die Dinge sind, wie sie sind – und schon immer waren. Ob diese Sexualstrukturen möglicherweise nicht Nähe inszenieren, sondern, die hohe Frequenz von unterschiedlichen Sexualobjekten liefert dafür ein ziemlich starkes Indiz, eher eine Distanz im Sexuellen aufrechterhalten wollten, wäre zu diskutieren. Doch die schwule Szene, Salka unterstreicht diesen Befund, schweigt.
Warum auch sollte man Unruhe stiften, wo doch der Generalschlüssel der überlieferten Selbstbehauptungen die »Repression« (wahlweise »Unterdrückung« und »Diskriminierung«) war? War es nicht ein freundlich unangetas­tetes Leben, das sogar von gewichtigen heterosexuellen Forscherstimmen beinahe akklamiert wurde? Dagmar Herzog, Sexualhistorikerin aus New York und intime Kennerin der globalen, vor allem deutschen Geschichte der Homosexuellenunterdrückung, und auch ihr Kollege Gunter Schmidt, inzwischen emeritierter Soziologe des legendären Hamburger Instituts für Sexualforschung, priesen beide, die eine in einem Essay, der andere in seinem Standardwerk »Das große Der Die Das«, die Errungenschaften der Schwulen. Die nämlich könnten Sexuelles und Beziehungshaftes nachgerade vorbildlich, um nicht zu sagen: trennscharf unterschiedlich und zusammen leben. So glauben auch tatsächlich schwule Männer selbst, dass die kaum noch existenten Klappen – öffentliche Toiletten sind in den Städten inzwischen eine Seltenheit – Soziotope sexueller Kontaktaufnahme der edelsten Art waren. Wer aber die Gesichter an einem solchen Ort, wer die ernsten Mienen von Männern in Dark­rooms, wer die Anstrengung in der Anbahnung sexueller Kontakte etwa in Saunen gesehen hat, weiß, dass das allenfalls ein Fünftel der Wahrheit ist. Für den Rest muss man, gut freudianisch, fragen: Wofür steht die sexuelle Manie eigentlich? Was soll sie ausdrücken, das woanders nicht zum Gelingen kommt? Was soll sie überspielen? Herzog wie Schmidt sind, so gesehen, gutmeinende Opfer schwuler Selbstpropaganda geworden – und das hat nicht allein mit einem Mangel sexualwissenschaftlicher Empirie zu tun, nicht allein mit der Freundlichkeit, die klassischen Opfern gern entgegengebracht wird. Es könnte auch damit zu tun haben, dass der kritische Blick auf das, was die Sache ist, fehlt, weil das Interesse letztlich gering ist. Sind die Schwulen nach dem En­de des Verbots der Homosexualität in der Bundesrepublik, das war 1969, nicht immer wahnsinnig gehätschelt worden? Die Söhne der Männer mit dem Rosa Winkel, die so nett wie John Boy Walton daherkamen, die besten Partys gaben, Stars in der Mode- und Kunstszene waren, waren die Profiteure der sexuellen Liberalisierung seit den frühen Sechzigern, als Männer, die Männer begehren, langsam begannen, öffentlich die Performance in eigenem Interesse zu wagen.
Seither toben die Kulturkämpfe, und nach einer Reihe von Urteilssprüchen der Verfassungsrichter und -richterinnen in Karlsruhe in jüngster Zeit darf mit einiger Zuversicht angenommen werden: Homosexuelle werden Heterosexuellen rechtlich bald schon gleichgestellt sein. So mahnte der LGBTI*-Forscher Klaus Müller in einem Interview mit der Taz, allein schon um den Putins dieser Welt nicht Nahrung für ihren ideologischen Kampf zu geben, dürfe in Deutschland die klassische Ehe nicht den Heteros vorbehalten bleiben. Die Eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle reiche nicht aus. Die Öffnung der Ehe für Homose­xuelle sei ein letzter Schritt auf dem Weg zu bürgerlicher Rechtsgleichheit, und um diese muss es vor allem in einem liberalen Staat mit bürgerlich verfasster Gesellschaft gehen. Rechtliche Diskriminierung verführt die Zivilgesellschaft stets dazu, diese Differenz moralisch zu rechtfertigen. Wenn jedoch Homosexuelle, Transpersonen und Intersexuelle demnächst Heterosexuellen sexualdemokratisch gleichgestellt sind und keinen Grund mehr haben zu meckern – was dann?
In Szene-Magazinen wie Männer oder Du & Ich sorgt diese Aussicht für Unbehagen: Was kommt nach der »Normalisierung«? Ist es denn wirklich so, dass alles »normal« sein kann? Ist die Furcht, der »Normalität« einverleibt zu werden, ernsthaft der Grund der Nervosität? Ist es nicht die vornehmste Sache im politischen Streit um bürgerliche Gleichberechtigung, alle rechtlichen Beschränkungen zu tilgen, die aus Minderheiten juristisch kodifizierte Sonderlinge machen? Oder könnte die Ablehnung der »Normalität« von der Angst geleitet sein, dass man die Lizenz zur körperlichen Entgrenzung, für die man Sex als Mittel imaginiert, entzogen bekommt? Auffällig ist doch, glaubt man den wenigen Untersuchungen (etwa die Hans-Peter Bubas und Laszlo Vaskovics’ aus Jahr 2000) da dazu, dass das Eintauchen in die promiskuitive schwule Welt nicht mit dem Zeitpunkt der bewussten Selbstanerkennung als schwuler Mann zusammenfällt, sondern – Pointe! – nach dem ersten Liebeskummer erfolgt. Sex diene als Linderung des psychischen Kummers. Wäre es da nicht naheliegend, die auf sexuellen Aktivitäten beruhende Homonormativität als Inszenierung einer endlosen Pubertät zu deuten?
In der Tat findet das Coming-out ungefähr fünf bis sechs Jahre später statt als die ersten sexuellen Erlebnisse bei heterosexuellen Jungs. Schwule Jungs beginnen sich auszuprobieren, wenn sie bereits volljährig sind. Sie betreten den Sexabenteuerspielplatz also verhältnismäßig spät und haben vielleicht etwas nachzuholen? Das Klagelied von der vergeblichen Liebe, das Cat Stevens mit »First cut is the deepest« anstimmte, kann von schwulen Männern erst dann geklampft werden, wenn Heteromänner längst wissen, welche Wunden die Liebe ihnen schlägt.
In vielen Städten, vor allem aber in Berlin, der traditionellen Kapitale all jener, die zum Regenbogen der sexual otherness zu zählen sind, spürt man die »Normalisierung« längst. Das schwule Netzwerk ist weniger dicht, Kneipen leeren sich, Diskotheken und Eventtempel wie das Berghain leben von Touristen, nicht von den Einheimischen selbst. Sex wird zunehmend über das Internet angebahnt. Aber wohnt der Tendenz zur Entsexualisierung gastronomischer Einrichtungen deshalb schon eine Neigung zum Spießigen inne, wie die allein schon der glatten Oberfläche wegen pornographisch angehauchte Illustrierte Männer kürzlich mutmaßte? Was ist überhaupt Spießigkeit? Haben es die schwule Szene und deren autonomer politischer Teil nötig, wie Kleinstbürger die Männer zu zählen, die einem in den Dünsten der Dark­rooms gewogen waren? Wird hier nicht ein fragwürdiges Erbe jener Ära gefeiert, die Sex mit Befreiung gleichsetzte?
Homoaktivisten wie Michael Holy aus Frankfurt am Main, noble Chronisten der Schwulenbewegung, vertreten die Ansicht, es sei keine Emanzipation, wenn Schwule heiraten dürften, schließlich existiere immer noch das Tabu des Analverkehrs, das es dem Mann verbiete, den Akt in der passiven Rolle zu genießen. Ein Mann werde nicht gefickt – das sei das Gesetz, das immer noch gelte.
Vieles spricht dafür, dass diese These stimmt. Ja, die traditionellen Vorstellungen von dem, was die sexuelle Rolle des Mannes zu sein hat, sind noch immer virulent. Vielleicht nicht mehr in dem Maße wie einst, aber sie existieren. Allenfalls, um eine Wendung der Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau zu gebrauchen, schmelzen die Polkappen der sexuellen Ordnung, die nichts duldet, was ihr nicht entspricht. Die Frau ein Gefäß – der Mann, der es füllt. Zugleich jedoch ist dieser Befund von einem idealistischen Furor geprägt. Es wird so getan, als ob Rollenbilder, die in den Urzeiten menschlicher Geschichte geboren worden sind, sich durch ein Niesen des Emanzipationswillens sprengen ließen. Die sexuelle Aufklärung aber ist eine relativ junge Entwicklung, und sie kommt langsam voran. Aber ändert das etwas daran, dass die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen – in Deutschland – nahezu erreicht ist? Ermöglicht Rechtsgleichheit nicht erst die Erkundung dessen, was mit Sigmund Freud bei beiden biologischen Geschlechtern (und ihren Zwischenstufen) als innere Bisexualität gefasst werden könnte? Ist die Freiheit der Selbstreflexion unter Gleichen (nicht: Selben) nicht erst dann möglich, wenn die Pö­nalisierung des genital gleichgeschlechtlichen Begehrens keine Rolle mehr spielt?
Dass gerade an dieser Rechtsgleichheit alles hängt, erkennt man leicht, wenn man sich den menschenrechtlichen Backlash ansieht, der zurzeit von Russland ausgeht und in Kroatien mit der Festschreibung der Ehe als ausschließlich heterosexuelle Verbindung beglaubigt wurde. Ist der Homophobie, auf die sich alle antiplural und faktisch nichtdemokratisch verfassten Länder als gemeinsamen Nenner des Unbehagens an der Moderne einigen können, nicht auch eine »antisemitische Matrix« nach der Definition Shulamith Volkovs eingeschrieben? Antisemitismus ist demnach nicht mit Judenfeindschaft gleichzusetzen, sondern ist als eine Haltung zur Welt definiert, die sich im gründlich empfundenen Hass auf das imaginiert ungleichförmig Andere richtet, auf Pluralität, auf Diversifikation, und das Völkische will, eine Gesellschaft der Uniformität.
»Normalisierung«, so gesehen, kann ein explosiver Akt sein – wenn er, wie Homosexuelle es in vielen Ländern können, die heterosexuelle Struktur der Ehe unterläuft. Was zwei Leute miteinander machen, was sie aus ihren Leben entwickeln, geht nur sie etwas an. Eine schwule Gemeinschaft, eine »Community«, wie es heißt, die sich – wahlweise – auf Subversion, Männerbündischkeit oder sonstwas Elitäres einbildet, wird auf diese Weise immer weniger gebraucht.
Aber würde dann, um eine These des Soziologen Rüdiger Lautmann, die er in den Siebzigern formulierte, zutreffen, was ungefähr so umrissen werden kann: Die schwule Infrastruktur stirbt, wenn die Diskriminierung abnimmt? Eventuell stand hinter dieser Idee auch der Wunsch eines sexualsoziologisch orientierten Wissenschaftlers, der seine biographischen Wurzeln in den mittleren dreißiger Jahren hat und seine homosexuelle Reifung unter dem bis 1969 gültigen Naziparagraphen 175 leben musste. Die Idee selbst ist so irrig wie jene, derzufolge die Erbschaften des Heterosexuellen durch fromme oder freche Reden aus der Welt geschafft werden können: sofern das überhaupt ein Ziel sein könnte. Schwule aber – nicht minder Lesben, die freilich anders, auf ihre historisch bedingte Art – werden ihre Netzwerke behalten und sich weiterhin als schwule Männer identifizieren. Nicht an seltsamen Augenbrauen, an, wie Heteros immer dachten, feminin phantasierten Gesten oder hüftwackelndem Gang erkennt man einander. Sondern an kulturell bedingten Zeichen und Symbolen. An der nicht ganz so glühenden Leidenschaft für bestimmte Mann-balzt-um-Frau-Imponierposen; an gewissen und ziemlich subtilen Interessen, die es gibt – und sei es der an den kulturellen Hervorbringungen des Camp. Denn: Welcher heterosexuelle Mann könnte deart für Barbara Streisand schwärmen, wie es schwule Männer eben tun? Die Kommunikations- und Wahrnehmungstraditionen werden überliefert, sie müssen nicht erst in der schwulen Szene herausgebildet werden. Sie sind längst da: Ein Junge, der etwa mit Brüdern aufwächst, wird sich vielleicht genauso sehr für Fußball interessieren wie seine Geschwister; aber er wird sich vielleicht andere weibliche Idole suchen als seine heterosexuellen Brüder, so wie Schwule vielleicht eher einen Sinn für Desirée Nick als für Daniela Katzenberger haben. Letzlich hängt es aber von der Person ab – nichts geschieht automatisch, nichts ist naturgegeben: Aber dass schwule Männer sich weltweit über einen kulturellen Symbolvorrat verständigen können, bestreiten selbst jene nicht, die Sex für das Elixier einer geglückten schwulen Biographie halten.

Der Autor ist »Taz«-Redakteur und Gründungsmitglied der Initiative Queer Nations e. V. Er ist verheiratet und lebt in Berlin und Hamburg.