Ein Nachruf auf Horst Tomayer

Dem Leben die Widerhakenhand geben

Er war der größte Kleinschriftsteller und der am meisten ignorierte Großlyriker: Der Dichter Horst Tomayer starb mit 75 Jahren.

Es muss beinahe 20 Jahre her sein: Horst Tomayer stand, als Vorlesegast von Wiglaf Droste zu dessen allmonatlichem »Benno-Ohnesorg-Theater« eingeladen, spätabends in der Berliner Volksbühne vor seinem Publikum, Hunderten von Leuten, und fotografierte es. »Das glaubt mir daheim keiner«, rief er in bayrischem Dialekt, holte einen kleinen Fotoapparat aus seiner Tasche, fragte das anwesende Publikum, ob es einverstanden damit sei, in toto abgelichtet zu werden, und knipste. »Das glaubt mir keiner in Bayern, dass hier mitten in der Nacht so viele Leute in ein Theater hineingehen, um sich Gedichte vorlesen zu lassen! Aber ich habe jetzt einen Beweis!« Der Mann war ganz aus dem Häuschen.
Zuvor waren die Verse und Anekdoten nur so aus ihm, dem den ganzen Abend enthusiastisch, ja kämpferisch Gedichte Vortragenden, herausgesprudelt. Wer einmal das Vergnügen hatte, »Hotte«, wie ihn seine Freundinnen und Freunde nannten, in einer Bar oder einem Theater lesen zu hören, erlebte einen entflammten, sich vollkommen seinem Gegenstand hingebenden und dabei ganz und gar uneitlen Menschen, der letztgültige Gedichte schrieb, etwa über die Kunst der Dichterbeleidigung (»War ›Du Journalist!‹ wirklich nur ein schlimmes Wort/Wie ›Hodensteckschuss‹ oder ›Robbenbabymord‹?«), fragwürdige Bundespräsidentschaftskandidaten (»Ich schwör dir, eher fress ich eine Frikadelle aus Granit/Als dass du rumfurzst in der Villa Hammerschmidt«) oder gegen Hunde: »Es gibt sehr viel zu sehen auf dem Erdenrunde, das das Bild vom Ebenbilde Gottes nicht grad ziert/Doch keines gleicht dem schwachen Bilde jenes Menschen, der einen Köter an der Endlosleine über eine zugeschissne Wiese führt.«
Über den leidenschaftlichen Fahrradfahrer, Endreimdichter, Schauspieler, Kolumnisten, Satiriker und »Kleinschriftsteller« »Hotte« Tomayer schrieb der Kabarettist Wolfgang Neuss bereits in den achtziger Jahren: »Dem Tomayer sage ick nu seit 30 Jahren, dass er der deutschen Kabarett- und Komikerbühne einen Blödelkomiker aus Fürstenfeldbruck vorenthalten hat.« Hierzu muss man wissen, dass ein heute auf die TV-Comedy-Schießbudenfiguren angewandter, abwertender Begriff wie »Blödelkomiker« seinerzeit nicht den schalen Beigeschmack hatte, den er dieser Tage hat. Als »Geblödel« bezeichnete man – aus Hilflosigkeit und in Ermangelung geeigneter Worte – in der alten Bundesrepublik vielmehr häufig all jene in den sechziger und siebziger Jahren aufgekommenen Humorformen, an die der deutsche Spießbürger nicht gewohnt war und in denen Kritik sich mit Nonsens, Satire und Slapstick mischten, etwa die komischen Dichter der »Neuen Frankfurter Schule« oder den Bühnen- und Fernsehkomiker Otto Waalkes, in dessen Filmen Tomayer gelegentlich in kleineren Rollen zu sehen ist. Denn nebenbei war der Schriftsteller als Kleindarsteller in Film- und Fernsehproduktionen tätig.
In der Zeitschrift Titanic wurde der Verdacht geäußert, Tomayer habe sich »damit abgefunden, dass er sowohl von der Literaturkritik als auch von der Preisjurorenmafia links liegengelassen« wird. Die Titanic wusste jedoch, »dass der späte Horst Tomayer nicht nur als Dichter ein Gigant ist, sondern auch als Vortragskünstler«.
Tomayer, 1938 im Sudetenland geboren, kam aus einfachen Verhältnissen, die Mutter Textilarbeiterin, der Vater Sattler und Tapezierer. Seine Eltern hätten beschlossen, er solle »es einmal besser haben und studieren, in Prag«, schreibt Tomayer. »Dann kam die Nazischeiße dazwischen und ich musste nach dem Krieg (…) als Versicherungslehrling in Oberbayern anfangen. Seitdem hasse ich die Nazischeiße wie die Pest.«
Seit 1982 verfasste er Monat für Monat für die linke Zeitschrift Konkret seine Kolumne »Tomayers ehrliches Tagebuch«, in der er Alltagsbeobachtungen notierte, seine Fax-Korrespondenzen mit Politikern, Sendeanstalten oder Firmeninhabern öffentlich machte oder die Leserschaft per wissenschaftlicher Beweisführung über die Absurdität rassistischer Vorurteile aufklärte: »Der Auslandsmensch kann von außen ausschaun, wie er will (…) auch sein Gebaren mag ein zutiefst undeutsches sein, egal, von Grundriss und Innerei her sind Inlands- und Auslandsmensch eigleich: Viereinhalb Kilo Hirn, Sockengröße neuneinhalb bis zwölf, Hunger, Geilheit, Narreteien allerwege – alles ein und dieselbe Wixe.«
Was der ehemalige Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn kultivierte und bis heute erfolgreich praktiziert, hat Tomayer miterfunden: den Telefonstreich als satirische Methode. In seinen »Deutschen Gesprächen«, die er für sein Hausblatt Konkret führte, machte Tomayer es zu einer eigenen Kunstform, unter Angabe einer falschen Identität bei Prominenten, Politikern und anderen unangenehmen Figuren der Öffentlichkeit anzurufen und sie in ein oft hochkomisches Gespräch zu verwickeln, in dessen Verlauf die Angerufenen (u. a. Schönhuber, Carstens, Konsalik usw.) kenntlich und als eitle Gecks und Heuchler überführt wurden. Legendär geworden ist sein Anruf bei dem Schriftsteller und Kommisskopf Ernst Jünger, dem gegenüber er sich als der Alpenschrat und Nazi-Filmemacher Luis Trenker ausgab.
Tomayer: »Der Goebbels war a böser Mensch, aber was a guata Fülm war, dös hat er verstanden.«
Jünger: »Aaaah, den kenn ich ja auch persönlich (…) Auf mich hat der Goebbels keinen so großen Eindruck gemacht (…).«
In Jüngers später veröffentlichten Tagebüchern konnte man über Tomayers Anruf dann lesen: »Anruf von Luis Trenker (›Berge in Flammen‹), der etwas mit mir ›zusammen machen‹ will.«
Dieter Hildebrandt schrieb damals, Tomayer habe sich mit diesen Gesprächen »um die Bundesrepublik verdient gemacht«. Doch das Verdienst eines Menschen und seine Popularität sind zweierlei.
»Berühmt werden konnte Horst Tomayer aber schon deshalb nicht, weil er nicht korrumpierbar war«, schrieb René Martens in der Taz. Denn er war nun mal kein Urkundenentgegennehmer, kein Abgreifer, keiner, der bei Bedarf anderen Honig ums Maul schmierte, kein sich in die Warteschlange fürs Bundesverdienstkreuz Drängender, sondern einer, der im Kommunismus das »Glühwürmchen im finsteren Kaos namens Kapitalismus« sah, ein dezidiert linker Künstler, der das eine liebte (Menschen mit Herz und Verstand, ein kaltes Bier, die Sprache) und das andere (die Bild-Zeitung, die Heuchelei) verachtete. Zu seinen Bewunderern gehör(t)en, so heißt es auf der Homepage der Zeitschrift Konkret, neben vielen anderen auch »die Schriftsteller Peter Hacks, Dietmar Dath, Robert Gernhardt, Hermann Kant, F. W. Bernstein«.
In Tomayers in den Achtzigern entstandenem »Lied vom kleinen Glück des Kleinschriftstellers« ist auch von dessen Pflicht die Rede: »Nämlich den gutwillig (!) lesenden Leuten/Ein bisschen Feierabendspaß zu bereiten/In diesen wirklich finsteren Zeiten/Wo wir uns alle so furchtbar quälen/Mit dem Rickedirackeraketenzählen.« Mit Spaß allein ist es aber noch nicht getan. Es braucht vor allem, so schrieb Tomayer in der Jungle World, die Emanzipation vom Religionsquatsch und das Nichteinverstandensein mit den gesellschaftlichen Verhältnissen: »Von einer intakten kleinen heilen Welt kann lang schon keine Red’ mehr sein. Doch hilft es, wegen der Verschlimmerung der Heilekleineweltüberlebensbedingungen das Höh’re Wesen anzuflehen oder anzuschrein? Oh nein, Amiga Antoinette, oh nein, Amigo Hein. In der immer mehr verunheilten kleinen heilen Welt zu leben – heißt: Dem Leben dreimal täglich vor dem Essen die Widerhakenhand zu geben!«
Am Freitag, dem 13. Dezember, ist Horst Tomayer im Alter von 75 Jahren in einem Hamburger Krankenhaus an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben.