Verschenkte Organe

Verschenkte Herzen

Nach den Organspendeskandalen des vorigen Jahres hat die Skepsis gegenüber der Transplantationsmedizin zugenommen. Dass der Rechtfertigungsdruck auf jene wächst, die keine Organe spenden möchten, ändert daran nichts.

20 Jahre hat die Krimiautorin Ulrike Sommer unter Zystennieren gelitten, einer Erbkrankheit. Lange konnte sie die Krankheit verdrängen, doch dann ging es rasant bergab. Die Organe arbeiteten immer schlechter, die Lage wurde lebensbedrohlich. Sie hatte Glück. Ihr Mann, der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, schenkte ihr im September eine seiner Nieren. Eine Niere von einem anderen, erst recht von einem Verstorbenen, hätte Ulrike Sommer nicht angenommen. »Es gab die eine Chance oder keine«, sagt sie. Ulrike Sommer selbst hat sich dagegen entschieden, nach ihrem Tod Organe zu spenden. Deshalb könne sie auch kein Organ von einem Toten annehmen, findet die Sozialdemokratin. Von der Zeitschrift Bunte bis zur Talkshow »Beckmann« hat Ulrike Sommer viel Lob für diese Haltung geerntet. Viele halten ihre Auffassung für konsequent und richtig. Die Vorstellung, dass nur Organe bekommen soll, wer auch welche zu spenden bereit ist, klingt jedoch nach einem miesen Tauschhandel.

Bei der Neufassung des Transplantationsgesetzes hat sich die Forderung von Gesundheitsökonomen, die die Sache im Prinzip wie Ulrike Sommer sehen, immerhin nicht durchsetzen können. »Zur Organspende bereite Personen sollten auf der Warteliste einen Bonus erhalten und Personen, die ihren Widerspruch erklärt haben, einen Malus«, forderte die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie, in der gesundheitspolitisch wichtige Meinungsbildner wie die Professoren Jürgen Wasem, Eberhard Wille und Wolfgang Greiner organisiert sind. Dabei sind mehr Menschen zu einer Spende bereit als sie ablehnen. Im Jahr 2012 meldeten Krankenhäuser in Deutschland insgesamt 1 584 hirntote Menschen, die ihres Erachtens für eine Organspende in Frage kamen. 1 046 Toten wurden Organe entnommen, bei 434 geschah das nicht, weil der Verstorbene oder seine Angehörigen es nicht wollten. Bei den übrigen sprachen andere, etwa medizinische Gründe wie ein überraschender Tumorfund dagegen.
Das Misstrauen gegenüber dem Medizinbetrieb ist groß. Nach einer Umfrage im Auftrag der Krankenkasse Barmer-GEK und der Bertelsmann-Stiftung gehen 56 Prozent der Interviewten davon aus, dass bei bekannter Spendenbereitschaft im Ernstfall für die Ärzte nur noch ihre Organe interessant seien und sie selbst nicht mehr. Es ist schwer vorstellbar, dass die Befragten sich darüber im Klaren sind, was sie damit sagen: dass Ärzte sie im Zweifelsfall sterben lassen, um an ihre Organe zu kommen. Hinter einer solchen Auffassung steckt nicht nur ein bemerkenswertes politisches Weltbild, sondern auch ein Gedankenfehler. Transplantationszentren bekommen viel Geld, wenn ihre Ärzte einem Patienten ein Organ einsetzen. Aber Kliniken, in denen Verstorbenen Organe entnommen werden, erhalten dafür wenig Geld. Und das, obwohl der technische Aufwand für das Krankenhaus groß und die psychische Belastung für die Ärzte und Pflegekräfte hoch ist, die den hirntoten Sterbenden behandeln. Und hier liegt auch das eigentliche Problem, das mit Werbekampagnen und moralischem Druck nicht zu lösen ist. Niemand weiß, wie groß die Zahl der potentiellen Spender ist, denn es werden sicher nicht alle von den Kliniken gemeldet. Auch wer mit fester Überzeugung nach seinem Tod seine Organe verschenken will, hat nur geringe Chancen, das zu tun. Nicht einmal jede zweite Klinik beteiligt sich an der Mitteilung potentieller Spender.
Organspenden von Toten werden im Verbund von Eurotransplant vergeben. Neben Deutschland gehören der Stiftung Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Österreich, Kroatien, Ungarn und Slowenien an. Spenderorgane werden innerhalb des Verbundes verteilt. Dadurch steigen die Chancen für Patienten, ein geeignetes Organ zu bekommen. Insgesamt leben im Einzugsgebiet 135 Millionen Menschen, 16 000 Patienten stehen auf der Warteliste für eine Organverpflanzung in einem der 78 angeschlossenen Transplantationszentren.
Jeden Tag sterben drei Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein neues Organ erhalten. Patienten in Deutschland profitieren von dem Verbund mehr als Patienten in den anderen Ländern. Von Januar bis September sind in der Bundesrepublik nach Angaben der zuständigen Koordinierungsstelle Deutsche Stiftung Organspende 1 190 Nieren, 246 Herzen, 677 Lebern und 287 Lungen verpflanzt worden, die Verstorbenen entnommen worden waren. Im selben Zeitraum entnahmen Ärzte in Deutschland Hirntoten aber nur 1 172 Nieren, 236 Herzen, 604 Lebern und 256 Lungen – 15,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Die Kriterien dafür, wer ein Organ bekommt, sind für Laien undurchschaubar. Und sie sind manipulierbar, wie der Transplantationsskandal in Deutschland im vergangenen Jahr gezeigt hat. Ein Göttinger Leberchirurg steht vor Gericht, weil er die Daten von einigen seiner Patienten so verändert haben soll, dass sie auf Wartelisten nach oben rückten und schneller eine neue Leber bekamen. Auch in Münster, Regensburg, Leipzig und München ermitteln Staatsanwälte aus ähnlichen Gründen. Inwieweit bei den Manipulationen wirtschaftliche Interessen im Spiel waren, ist noch nicht abschließend aufgeklärt. Aber eines ist klar, mit jeder Operation, die ein Arzt durchführt, steigt sein Renommee und damit sein Marktwert, von der Vergütung des Krankenhauses ganz zu schweigen. Die einen Patienten wandern aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf der Warteliste nach oben, andere kommen gar nicht erst darauf oder werden heruntergenommen.
Für weitaus weniger Schlagzeilen als der Göttinger Skandal sorgte ein Fall an der Medizinischen Hochschule Hannover: Eine 49jährige türkisch stämmige Patientin wurde von der Warteliste für eine Lungentransplantation gestrichen, weil sie angeblich nicht genügend Deutsch sprach. Dort erhält nur ein neues Organ, wer ausreichende Sprachkenntnisse für das Gespräch mit dem Personal aufweisen kann. Sonst sei die Mitarbeit der Patienten nicht gewährleistet, heißt es.

Skepsis gegenüber der Transplantationsmedizin ist mehr als berechtigt. Doch in den diversen Kampagnen für mehr Spenden hat das keinen Platz. Da geht es um positive Botschaften. »Organspende schenkt Leben«, lautet der Standard­slogan. Aber es geht nicht ums Schenken. Es soll gezielt moralischer Druck aufgebaut werden. Mit dem »Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz« von 2012 ist das Ziel, die Organspendebereitschaft in Deutschland zu erhöhen, gesetzlich verankert worden. Krankenkassen müssen nun ihre Mitglieder über das Thema informieren und ihnen Spenderausweise zuschicken. Vor der Verabschiedung des Gesetzes waren auch andere Lösungen diskutiert worden, etwa dass bei der Ausstellung des Personalausweises beim Einwohnermeldeamt abgefragt wird, ob der Angesprochene nach seinem Tod bereit wäre, Organe zu spenden. Das ist eine haarsträubende Idee. Auch wer die Frage, ob der hirntote Mensch wirklich tot und eine Organentnahme an ihm zu verantworten ist, klar mit Ja beantwortet, kann nicht ernsthaft wollen, dass Themen dieser Tragweite in einer Schalterhalle unter Zeitdruck verhandelt werden.
Es ist nie trivial, wenn es um Leben und Tod geht. Der Rechtfertigungsdruck auf Spendeunwillige oder Unentschlossene ist verheerend, weil die Debatte dadurch nahelegt, den Individuen solle die postmortale Verfügungsgewalt über den eigenen Körper genommen werden. Das ist nicht nur menschenverachtend, sondern auch kontraproduktiv.