Die Ausstellung »Kunst Aids Aktivismus«

Das Virus, das keine Moral kannte

Eine Ausstellung in der Berliner NGBK erinnert an die Aidskrise und daran, wie die Krankheit aus der Tabuzone geholt wurde.

Angesichts der Wucht der Krankheit scheint es unfassbar: Obwohl den US-amerikanischen Gesundheitsbehörden bereits 1981 erste Erkenntnisse über die Existenz der neuen, tödlichen Immunschwächekrankheit Aids vorlagen, dauerte es noch ganze sechs Jahre, bis der damalige Präsident Ronald Reagan das Wort »Aids« öffentlich in den Mund nahm. Diese Verweigerung vor der Realität hatte ganz praktische Folgen. Wie das Deutsche Ärzteblatt recherchiert hat, gab das »Center for Disease Control« (CDC) im Jahr 1981 nur eine Million Dollar für die Erforschung der bisher unbekannten Krankheit aus, für die eher marginale Legionärskrankheit aber neun Milliarden – obwohl die Opferzahlen bei Aids-Erkrankungen damals zehn Mal so hoch waren wie die bei der Legionärskrankheit. An diesen Zahlen änderte sich lange kaum etwas; die Immunschwächekrankheit galt als Problem von »Randgruppen« wie Schwulen, Drogenabhängigen und Prostituierten und war damit nicht von allgemeinem Interesse.
Dass es im Mai 1987 zu einer öffentlichen Stellungnahme kam, war auch das Verdienst von Aktivisten-Gruppen wie Act Up (Aids Coalition to Unleash Power), die mit Massendemonstrationen, Adbusting und Pressearbeit für die Freigabe neuer Medikamente und ein Ende der Ausgrenzung von Aids-Kranken kämpften. Kurz vor der Rede Reagans hatte eine erste massenwirksame Aktion stattgefunden, eine Verkehrsblockade auf der Wall Street, die sich gegen die Verzögerungen von Medikamententests durch die Pharmaindustrie richtete.
In dem US-amerikanischen Dokumentarfilm »Fight Back, Fight Aids: 15 Years of Act Up« von James Wentzy schildert der später an den Folgen der Immunschwächekrankheit gestorbene Aktivist Vito Russo das Lebensgefühl Betroffener in den achtziger Jahren: »In diesem Land mit Aids zu leben, ist, als lebe man in einer Grauzone. Es ist, als lebe man in einem Krieg, den nur diejenigen erleben, die in den Schützengräben liegen. Jedes Mal, wenn eine Granate explodiert, siehst du dich um und erkennst, dass du weitere Freunde verloren hast, doch niemand anders bekommt etwas davon mit.«
Die Dramatik von Aids, der kulturelle Wandel und der damit verbundene Verlust von gerade erst erkämpften Freiheiten, insbesondere in der Schwulenbewegung, ist heute kaum noch vorstellbar. Eine Ausstellung in der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) ruft die Aidskrise wieder ins Gedächtnis zurück und macht die Bedeutung von Künstlergruppen und Aktivisten für den Kampf gegen die Tabuisierung der Krankheit und die Stigmatisierung Betroffener deutlich.
Im ersten Teil der Ausstellung unter dem programmatischen Titel »Love Aids Riots Sex« waren im Dezember 2013 Werke aus den Jahren 1988 bis 1995 zu sehen. Der zweite Teil der Ausstellung wird am 17. Januar eröffnet, präsentiert Werke von 1995 bis heute. Die zeitliche Gliederung ergibt sich aus der Medizinhistorie: 1995 wurden die ersten Proteasehemmer zugelassen, die den Verlauf von Aids deutlich verlangsamten.
Mit der Doppelausstellung begehen Kurator Frank Wagner und das Organisationsteam des Realismusstudios auch ein Jubiläum: 1988 fand in der NGBK die europaweit erste Ausstellung zum Thema Aids statt. Seither hat sich Wagner immer wieder mit dem Thema beschäftigt. Die Ausstellung zeigt, wie mit künstlerischen Mitteln Politik gemacht wurde und wie die Kunstszene das Thema in die öffentliche Debatte brachte.
Die schockartige Wirkung, die das Massensterben in den achtziger Jahren hatte, und die Zeitenwende, die Aids so kurz nach der sexuellen Revolution einläutete, repräsentiert vielleicht am besten ein Kunstwerk der Gruppe General Idea (zwei der ursprünglich drei Mitglieder sind inzwischen an den Folgen von Aids verstorben). In Anlehnung an die berühmte Typographie »LOVE« von Robert Indiana zeigt es die Buchstaben »AIDS«. Lange vor der Einführung sozialer Medien wie Facebook und Twitter, als Flashmobs und Shitstorms noch unbekannt waren, nutzten General Idea Kunst als Intervention im öffentlichen Raum und veranstalteten Straßenaktionen in der Tradition von Agitprop. So wurde das Plakat tausendfach in der New Yorker U-Bahn verklebt, später zudem in anderen amerikanischen Städten. Und auch eine Antwort der Kunstaktivisten Act Up auf das Plakat ist in der Ausstellung zu sehen: Mit dem Motiv »RIOT« fordern sie zum Handeln auf.
Zu dem Zeitpunkt, als Reagan sich endlich zu Aids äußerte, waren die Auswirkungen der Krankheit längst nicht mehr zu ignorieren: Im Jahr 1986 starben 12 000 Menschen in den USA an den Folgen von Aids, 19 000 Menschen hatten sich neu infiziert. Die Kritik der Künstler und Aktivisten richtete sich nicht nur gegen die Gleichgültigkeit gegenüber einem vermeintlichen Randgruppenproblem, sondern gegen eine interessengesteuerte Politik, die die Weiterentwicklung von Medikamenten aus wirtschaftlichen Erwägungen blockierte und jegliche Gegenbewegung unterdrückte.
So hatte der republikanische Senator Jesse Helms 1987 vorgeschlagen, Aufklärungskampagnen zu verbieten, da sie homosexuellen Aktivitäten Vorschub leisteten – schaut man heute nach Russland, gehört solch homophobe Politik keineswegs der Vergangenheit an. Und Helms stand mit seinen Forderungen nicht allein: William F. Buckley, der Gründer der neokonservativen National Review, forderte damals die Kennzeichnung von HIV-Infizierten mit einer Tätowierung – Homosexuelle sollten auf dem Hintern, Drogenuser auf dem Oberarm markiert werden.
Die Aktivisten von Act Up und das mit der Gruppe eng zusammenarbeitende Designerkollektiv Gran Fury griffen diese Symbolpolitik auf und wandten sich mit eigenen Designs und Logos gegen die Propaganda. Als Reaktion auf die Kennzeichnungsideen Buckleys entstand das Logo »Silence = Death«, das den »rosa Winkel« auf den Kopf stellt. Die Installation thematisiert die Ausgrenzung und das Sterben von Kranken durch eine Politik der Gleichgültigkeit. Sie wurde zunächst in einer Galerie auf dem Broadway und später auch in der Berliner Büchergilde Gutenberg ausgestellt – auch in Deutschland hatten sich Aktivisten von Act Up organisiert. So fanden Die-Ins, Kirchenbesetzungen oder ein Boykott der Firma Philip Morris und ihrer Tochterfirma Kraft statt, die hatte in den USA Jesse Helms unterstützt hatten.
Maßnahmen, wie sie Helms und Buckley propagierten, wurden auch in Deutschland gefordert, etwa vom bayerischen Staatssekretär Peter Gauweiler. Er hatte eine Meldepflicht für Angehörige bestimmter Risikogruppen angeregt, etwa Homosexuelle und Nichteuropäer. Auch die Medien waren nicht zimperlich in der Verbreitung von Feindbildern. Schnell war im Spiegel von einer »Lustseuche« die Rede; als bedrohlich wurde vor allem die Möglichkeit empfunden, dass die Krankheit auch auf »normale Menschen« übergreifen könne.
Die NGBK zeigte im ersten Teil der Ausstellung einige großformatige Plakate von Gran Fury. Im Stil einer Traueranzeige ist ein Plakat gestaltet, das den Schriftzug »All people with Aids are innocent« trägt. Es wendet sich gegen den Versuch konservativer Politiker und Kirchenvertreter, zwischen »unschuldigen Opfern« und »Perversen und Drogensüchtigen« zu unterscheiden. Auch auf Demonstrationen traten Aktivisten diesen Spaltungsversuchen entgegen: »Auch Frauen sterben« wurde in Sprechchören skandiert.
Ein Plakat der Gruppe zeigt küssende Paare, Schwarze, Weiße, Hetero- und Homosexuelle. Die Ausstellung präsentierte auch die Fotografie einer U-Bahn-Station, auf der das Plakat mit schwarzer Farbe unkenntlich gemacht wurde. Auch gegen künstlerische Interventionen gingen Fernsehprediger wie Politiker massiv vor und riefen zu ihrer Zerstörung auf.
Das NGBK zeigt sowohl Werke aus dem US-amerikanischen und kanadischen wie aus dem westdeutschen Kontext. So umfasst eine Installation des Künstlers ­Piotr Nathan Keramikabdrücke von Einschusslöchern in der Spandauer Vorstadt. Sie sind halb hinter einer Wand versteckt, genauso wie die urinverschmierte Matratze eines verstorbenen Freundes – ein Verweis auf den Versuch vieler Familienangehöriger, den Aids-Tod wie die schwule Beziehung des Toten zu verheimlichen.
Fotografien wie die von Nan Goldin, die ihren Freund und Kollegen Alf Bold vor seinem Tod in Berlin porträtierte, oder die Fotoserie, die Aron Neubert von dem Fotografen Jürgen Baldiga in den Jahren vor seinem Freitod gemacht hat, wenden sich gegen das Verschweigen. Fast vergessen ist heute, welch unterschiedliche Gruppierungen damals in den USA existierten und zusammenarbeiteten. Leider kommt diese Vielfalt, an der sowohl schwule schwarze Aktivisten als auch lesbische Aktivistinnen und Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen beteiligt waren, in der Ausstellung nicht vor.
Der zweite Ausstellungsteil präsentiert Arbeiten von 1995 bis heute und zeigt Werke, die privater, zurückhaltender und biographischer anmuten. Mitte der neunziger Jahre wurde durch die kombinierte Verabreichung von Medikamenten und die Verfügbarkeit neuer antiretroviraler Substanzen ein medizinischer Durchbruch bei der Behandlung erzielt. Bis zur Entwicklung der Kombinationstherapie mussten Menschen nach ihrer HIV-Diagnose damit rechnen, binnen 15 Monaten zu sterben.
Doch die Ziele, für die Vito Russo und seine Mitstreiter kämpften, sind längst nicht erreicht: »Wenn wir die Scheiße aus dieser Krankheit herausgeprügelt haben, werden wir alle noch lebendig sein und die Scheiße aus diesem System heraustreten, damit so etwas nie wieder passiert.«
Mag auch in Ländern wie Deutschland der Zugang zu medizinischer Versorgung die Situation verbessert haben, so ist Aids dennoch weiterhin eine tödliche Krankheit, bestimmen weiterhin die Interessen der Pharmaindustrie über die Verteilung von Medikamenten, richten sich Kirchenvertreter weiterhin gegen die Verwendung von Kondomen, predigen erzkonservative Politiker weiterhin Abstinenz statt Aufklärung.

Kunst Aids Aktivismus – 1995 bis heute. NGBK, Berlin. 18. Januar bis 9. März