Die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Kampagne gegen »Armutszuwanderung«

Freistaat gegen Freizügigkeit

Seit dem 1. Januar gilt für Bulgaren und Rumänen die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. Die CSU macht nun Stimmung gegen Migranten aus Osteuropa und fordert ein härteres Vorgehen gegen »Armutszuwanderung«. Unter dem Motto »Wer betrügt, der fliegt« will die Partei bei ihrer Klausurtagung Anfang Januar scharfe ­Regeln beschließen, die den Zugang zum deutschen Sozialsystem erschweren ­sollen.

Der Begriff der »Armutszuwanderung« hat schon jetzt gute Aussichten, zum Unwort des neuen Jahres gekürt zu werden. Seit Wochen warnen die konservativen Parteien der Regierungskoalition vor den Gefahren, die mit der Freizügigkeit verbunden seien. Seit dem 1. Januar können Rumänen und Bulgaren diese in Anspruch nehmen und zumindest theoretisch in Deutschland und Westeuropa eine Arbeit suchen.
Schlaflose Nächte bereiten deutschen Politikern vor allem die damit verbundenen Möglichkeiten, das deutsche Sozialsystem zu nutzen. Aufgrund der Freizügigkeit können beispielweise Rumänen in Deutschland einen Minijob annehmen und anschließend ergänzende Hartz-IV-Leistungen beantragen, wenn der Verdienst nicht für die Familie reicht.
Roma, die nach Berlin oder Dortmund kommen, um dort Sozialhilfe zu kassieren – mit diesem Szenario möchte die CSU nun punkten. So will die Partei auf ihrer Klausurtagung Anfang Januar in Wildbad Kreuth Maßnahmen gegen den »fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung« beschließen und »falsche Anreize zur Zuwanderung verringern«. Dazu will sie »eine generelle Aussetzung des Bezuges von Sozialleistungen für die ersten drei Monate des Aufenthaltes in Deutschland« prüfen. Im Falle eines Sozialbetrugs will man die betroffenen Personen nicht nur ausweisen, sondern auch an der Wiedereinreise hindern. »Wer betrügt, der fliegt«, lautet das Motto der CSU.

Mit solchen Aussagen werden faktisch nicht nur rumänische oder bulgarische Zuwanderer generell verdächtigt, Betrüger und Kriminelle zu sein. Sie unterscheiden sich auch nur noch graduell von der Hetze, wie sie etwa Vertreter der Alternative für Deutschland (AfD) betreiben. Deren hessischer Landesvorsitzender Volker Bartz schwadronierte kürzlich von »Einwanderern und Sozialschmarotzern«, die angeblich die »deutschen Sozialsysteme ausbeuten«. Es ist das erklärte Ziel der CSU, bei den anstehenden Kommunal- und Europawahlen einen Erfolg der AfD zu verhindern – und dafür ist sie offenbar auch bereit, deren Parolen nachzueifern. »Wer eine solche Me­lodie intoniert, bereitet den Tanz für die Rechtsextremen«, sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Hartmann, dem Tagesspiegel am Sonntag.
Hinzu kommt, dass mit Beginn des neuen Jahres Rumänien und Bulgarien eigentlich dem Schengen-Abkommen beitreten sollten. Doch bereits Ende 2013 hatte der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine Grenz­öffnung kategorisch ausgeschlossen. Es seien zwar in beiden Ländern Fortschritte absehbar, diese reichten aber nicht aus, um »die rechtsstaat­lichen Zustände herzustellen, die eine Aufnahme in den Schengen-Raum ermöglichen«, erklärte Friedrich im vergangenen November auf einem Treffen der EU-Innenminister.

Mit seiner ablehnenden Haltung steht Deutschland in der EU allerdings nicht alleine da. Auch die Niederlande, Großbritannien und Österreich sprachen sich gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens aus, die finnische, schwedische und dänische Regierung zeigten sich »besorgt«.
Aber auch zum Thema Freizügigkeit gibt es in diesen Ländern Vorbehalte. Besonders scharf hatte sich dazu der britische Premierminister David Cameron geäußert. »Wenn die Leute nicht hier sind, um zu arbeiten – wenn sie betteln oder im Freien schlafen –, dann werden sie entfernt«, schrieb er Ende vorigen Jahres in einem Gastbeitrag für die Financial Times. Seiner Ansicht nach sollten die Mitgliedsstaaten der EU die Möglichkeit bekommen, Obergrenzen für die Zahl an Zuwanderern aus anderen EU-Ländern festzusetzen. Diese könnten sich nach dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen in den Herkunftsländern richten: Luxemburger wären demzufolge in Großbritannien weiterhin gern gesehen, Bulgaren könnten hingegen gleich zuhause bleiben. Die Freizügigkeit in der EU wäre de facto abgeschafft.
Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding wies zwar die Pläne Camerons zurück. Wenn Großbritannien Teil der Gemeinschaft bleiben wolle, müsse es auch die Regeln zur Freizügigkeit aller Bürger einhalten. »Sie können nicht das eine ohne das andere haben, Herr Cameron«, sagte Reding. Doch auch die Überlegungen der konservativen Parteien in der Bundesregierung laufen darauf hinaus, bei der Zuwanderung schärfer zu selektieren.

Dabei galt die Freizügigkeit als eines der grundlegenden Vorhaben der Europäischen Union. Nicht nur Waren und Dienstleistungen sollten innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes frei gehandelt werden. Auch alle Bürger sollten das Recht erhalten, sich in jedem EU-Land niederzulassen und eine Stelle annehmen zu können.
Für die osteuropäischen Beitrittsstaaten wurden dazu bestimmte Übergangsfristen vereinbart. Vor drei Jahren, als die Freizügigkeit für Polen in Kraft trat, war die Aufregung in Deutschland ähnlich groß. Doch von dem riesigen Heer polnischer Klempner, die angeblich nur darauf warteten, in deutsche Provinzstädte einzufallen, war damals nicht viel zu sehen. Tatsächlich hatten sich schon Jahre zuvor viele Polen auf den Weg nach Großbritannien und Irland gemacht, um dort zu arbeiten.
Auch heute haben die hysterischen Reaktionen wenig mit der Realität zu tun. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit beziehen derzeit rund 40 000 Bulgaren und Rumänen eine Grundsicherung in Deutschland, was weniger als einem Prozent aller Sozialhilfeempfänger entspricht. Insgesamt rechnet die Agentur mit bis zu 180 000 zusätzlichen Migranten aus Südosteuropa, wenn die Freizügigkeit in Kraft treten sollte. Ein drastischer Anstieg der Migration ist allerdings nach Ansicht sämtlicher Wirtschaftsverbände in den kommenden Jahren dringend nötig, um den derzeitigen Lebensstandard überhaupt aufrechtzuerhalten. Das Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) geht etwa von einem Bedarf von 300 000 Zuwanderern jährlich aus.
»Wir werden die Willkommens- und Anerkennungskultur in unserem Land stärken«, heißt es daher im schwarz-roten Koalitionsvertrag. Allerdings ist solchen Bemühungen bislang nur mäßiger Erfolg beschieden. Qualifizierte ausländische Fachleute machen zumeist einen großen Bogen um die Bundesrepublik. Nicht nur wegen formaler Schwierigkeiten wie der fehlende Anerkennung von Abschlüssen oder sprachlicher Probleme, sondern weil Zuwanderung in Deutschland bestenfalls als hinzunehmendes Übel betrachtet wird. Willkommen fühlt sich kaum jemand.
Allein der Euro-Krise ist es zu verdanken, dass in den vergangenen Jahren aus Süd- und Osteuropa viele Arbeitssuchende nach Deutschland kamen. Auch Rumänien und Bulgarien leiden seit geraumer Zeit unter tiefgreifenden Wirtschaftsproblemen. Insbesondere in Bulgarien hatten die von der EU und internationalen Finanz­institutionen geforderten Sparmaßnahmen drastische soziale Folgen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent, jeder fünfte Bulgare lebt unter der Armutsgrenze, das Durchschnittsgehalt beträgt 370 Euro. Besonders hart trifft die Krise die Minderheit der Roma. Kein Wunder also, dass viele Bulgaren im westlichen Europa eine neue Perspektive suchen.
Dort aber wächst die Ablehnung einer weiteren Öffnung des Binnenmarkts. Wer keine unmittelbar verwertbaren Fähigkeiten besitzt und eventuell Sozialleistungen in Anspruch nehmen könnte, soll draußen bleiben. Nicht nur die rechtspopulistischen Parteien werden das Thema in den kommenden Monaten weiter aufgreifen. Der Wahlkampf gegen Europa hat begonnen.