Wie werden wir in der Zukunft schreiben?

Gedanken, zum Diktat!

Wie werden wir in der Zukunft schreiben? Verschiedenste Schreibgeräte wurden bereits erfunden, trotzdem tippen wir weiterhin mit den Fingern auf Tastaturen herum. Die Gedankenlesemaschine könnte alles verändern.
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Ob wir Buchstaben mit dem Bleistift malen, ­Typen mit der Schreibmaschine ins Papier hämmern, virtuelle Buchstaben auf unseren Bildschirmen zum Leuchten bringen oder das Glas unserer Smartphones streicheln: Wir schreiben mit den Händen. Einen besseren Körperteil dafür hat man noch nicht entdeckt. An Schreibgeräten scheint alles erfunden. Selbst bei Tastaturen, die auf den Tisch projiziert werden, sind es immer noch die Bewegungen unserer Finger, die in Schrift übertragen werden. Dabei gäbe es weitere Quellen, aus denen Texte entstehen könnten. Denn wir sprechen und wir denken.
An Spracherkennung wird seit 50 Jahren geforscht. Das erste funktionierende System, das von IBM entwickelt wurde, lief 1984 auf einem Großrechner und konnte ungefähr 5 000 Wörter erkennen. Zehn Jahre später kam halbwegs brauchbare Spracherkennungssoftware auf den Markt, die allerdings meist mangelhafte Ergebnisse lieferte, es sei denn, wir trainierten sie mühselig auf unsere eigene Stimme.
Google und Apple haben diesen Ansatz perfektioniert: Die Konzerne pflegen riesige Datenbanken mit statistischen Sprachmustern, die aus zahllosen Varianten gesprochener Wörter und Sätze unterschiedlichster Menschen bestehen. Wenn wir etwa »Siri« (der Sprachsteuerung von Apple) Kommandos geben, wird unsere Sprache in Echtzeit mit diesen statistischen Modellen abgeglichen, ohne dass die individuelle Stimme noch besonders ins Gewicht fällt – eine Anwendung von Big Data. Die Zuverlässigkeit ist mittlerweile relativ hoch und wird mit steigender Rechenleistung in absehbarer Zeit perfekt sein. Für Gehörlose gibt es sogar schon Systeme, die Gebärdensprache filmen und in Text umsetzen können.
Es ist eigentlich erstaunlich, dass aus der automatischen Spracherkennung noch keine neuen Textformen erwachsen sind. Die Idee ist so naheliegend, dass vermutlich schon etliche Autoren versucht haben, mit dieser Art des Schreibens einen neuen Stil zu begründen, aber daran gescheitert sind, weil die Ergebnisse zu schlecht waren. Statt neuer Literaturgattungen ist im Internet ein ganzes Genre von Witzbildern entstanden, die lustige Missverständnisse der Autokorrektur in Dialogform wiedergeben: »Mein Hoden ist weiß gestrichen, dadurch wirkt alles gleich viel größer.«

Ob Journalisten, Schriftsteller und Liebesbriefschreiber bald anfangen werden, ihre Texte ins Smartphone zu diktieren, bleibt also fraglich. Bereits in der Vergangenheit fand das Diktieren vornehmlich in Büros und Kanzleien statt. Der diktierende Anwalt oder Firmenchef bewegte sich im Rahmen seiner üblichen Musterbriefe, deren Bausteine er ohne Anstrengung herunterleiern konnte. Alle sprachlichen Schnitzer bügelte die meist weibliche Sekretärin bei der Niederschrift aus. Literatur ist so eher selten entstanden.
Viele Schreiber behaupten, sie könnten am Computer nicht schreiben, denn die Ablenkung durch aufploppende E-Mails, sowie Facebook, Twitter und Skype immer in Reichweite, sei zu groß. Viele haben zudem das Gefühl, sich beim Schreiben am Computer nicht anstrengen zu müssen, weil sich ja alles noch einmal ändern lässt. Einige Autoren benutzen deshalb eine altmodische Kladde, sie schreiben weiterhin gerne mit der Hand und setzen sich dazu in einen Park oder ein Café. Ob Kugelschreiber und Spiralblock oder Füller und »Moleskine«: Schreiben ist Handwerk, aber eben auch ein meditativer Prozess.
Alles verändern würde vielleicht die Gedankenlesemaschine, ein Computer, der Gehirnströme liest und alles mitprotokolliert, was wir denken. Als Buchstabiermaschine gibt es das bereits: Bei Locked-in-Patienten – Menschen, die so vollständig gelähmt sind, dass sie nicht einmal mehr sprechen können – misst ein Computer die Hirnströme ähnlich wie bei einem EEG. Denken sie beispielsweise an den Buchstaben A, erzeugt dies ein charakteristisches Muster, das der Computer erkennen kann. Mit reiner Gedankenkraft reiht der Patient Buchstabe an Buchstabe und kann so wieder mit der Außenwelt kommunizieren.
US-Präsident Barack Obama hat gar die kommenden Jahre zum »Jahrzehnt der Hirnforschung« ausgerufen, seine Regierung plant die Förderung des Projekts »Brain Activity Map«, das eine vollständige Kartierung der Gehirnaktivität zum Ziel hat – vergleichbar mit der Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen vor 20 Jahren durch das »Human Genome Project«. Ist das einmal geschafft, wissen wir aber noch immer nicht, wie wir diesen Datenberg entschlüsseln sollen. Eine Idee wäre, das Ganze als Software auf leistungsfähigen Computern laufen zu lassen und dann einfach mal zu schauen, was passiert. Funktioniert das, hätte man eine Gehirnsimulation, die vielleicht sogar ein Bewusstsein entwickelt. Transhumanisten wie Ray Kurzweil, der Leiter der technischen Entwicklung bei Google, träumen schon lange von »Sicherheitskopien des Gehirns« und der Unsterblichkeit, die man erlangen würde, wenn man als digitale Kopie seiner selbst in der Cloud weiterlebte. Das klingt nach Science Fiction und das wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Aber wie viel Science Fiction ist in den vergangenen Jahren wahr geworden – wenngleich ein wenig anders, als wir uns das ursprünglich mal vorgestellt hatten?

Angenommen, ein Abfallprodukt der »Brain Activity Map« wäre auch die Gedankenlesemaschine. Damit könnte man alles protokollieren: all die Geistesblitze, die so schnell wieder verloren gehen, wenn wir sie nicht notieren; die tolle Formulierung, die uns beim Abwaschen einfällt und nicht mehr greifbar ist, wenn wir sie niederschreiben wollen. Die abgründigen Gedanken, die wir uns selbst verbieten. Wir säßen dann auf einem Berg Gedankenmüll und Schreiben würde dann vor allem eines bedeuten: sortieren.
Heute brüten wir einen Text aus, bis wir ihn rauschhaft am Stück herunter schreiben. Oder wir haben viele Textbrocken, die wir mühselig redigieren und hin- und herschieben. Auch der nobelpreisverdächtige Text, den ein zugekokster Nachwuchs-Hemingway in einer Neuköllner Kneipe in sein MacBook klopft, wird sehr wahrscheinlich am Folgetag redigiert werden wollen. Diese ­Arbeit des Redigierens würde durch die Gedanken­lesemaschine noch viel umfangreicher werden. Stellen wir uns vor, Kafka hätte 1912 eine Gedankenlesemaschine benutzt: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Meine Nase juckt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken, im Bordell war es so unbefriedigend und lieblos, stattdessen träumte ich von Milenas schönem Gesicht, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, also sprach Zarathustra, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, ein Gespenst geht um in Europa zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Die Nelke ist mir schon wieder aus dem Knopfloch gefallen. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.«
So etwas klingt grotesk – könnte aber eine völlig neue Form der Reportage, des Tagebuchs, der Literatur werden. Es sei denn, der Computer läse nicht nur unsere Gedanken, sondern brächte sie auch auf Reihe und fände Muster und Sinn im Strom der Bilder und Worte. Statistische Modelle und Big Data könnten das vielleicht tatsächlich. Aber wer schriebe dann den Text? Wir oder die Maschine?