Esther Webman im Gespräch über negative Folgen der arabischen Revolten

»Ich sehe im Moment keinen Ausweg«

Die vom »arabischen Frühling« geweckten Hoffnungen haben sich bislang nicht erfüllt, teilweise kamen Islamisten an die Macht. Dr. Esther Webman forscht am Dayan-Zentrum für Nahost- und Afrika-Studien und am Stephen Roth Institute an der Universität Tel Aviv zu Antisemitismus und Rassismus. Ihre Arbeit legt den Fokus auf moderne islamische Bewegungen, das muslimisch-jüdische Verhältnis und arabischen Antisemitismus sowie die arabische Wahrnehmung des Holocaust. Mit ihr sprach die Jungle World über die Folgen und Probleme der arabischen Revolten und über antisemitische Tendenzen.

In Europa waren angesichts des »arabischen Frühlings« Jubel und die Illusion, die Bewegungen würden in der arabischen Welt die Demokratie einführen, wahrzunehmen . In Israel war man von Anfang an pessimistisch. Was denken Sie über den »arabischen Frühling«?
Zu Beginn gab es vielleicht einen Grund für Optimismus, denn die Medien zeigten junge Menschen, die sich einen Wandel der Regime wünschten, eine offene Gesellschaft, mehr Redefreiheit und, was das wichtigste war, eine Verbesserung des Lebensstandards, weil die wirtschaftliche Situation in den meisten arabischen Ländern sehr schlecht ist. Insbesondere im größten arabischen Land, in Ägypten, gibt es Generationen von Arbeitslosen. Die Suche nach Beschäftigung und das tägliche Überleben sind neben dem sehr schnellen Bevölkerungswachstum die wichtigsten Probleme Ägyptens. Das Regime war nicht fähig, diese zu lösen.
Unter den Massen, die auf die Straße gingen, gab es eine verschwindend kleine Anzahl von Menschen, die wirklich Demokratie wünschten. In Ägypten und in Tunesien kamen Islamisten an die Macht, von denen man behauptete, sie hätten den »arabischen Frühling« entführt, was natürlich unzutreffend ist. Ägypten ist gespalten, einerseits sind da die Islamisten, die Muslimbrüder und die Salafisten, andererseits diejenigen, die ich nicht laizistisch, demokratisch oder liberal nenne, die aber eine andere Denkweise haben. In einem Vortrag, den ich vor eineinhalb Jahren über den »arabischen Frühling« hielt, sagte ich, die Revolution wurde nicht entführt, denn die Muslimbrüder waren ständig in der Bevölkerung aktiv, und das war auch die Ursache dafür, dass die Mehrheit für sie stimmte. Nicht alle waren selbst Muslimbrüder oder Salafisten. Die meisten wählten sie, weil sie einen Wandel wollten und weil die Muslimbrüder die einzige gut organisierte Gruppe waren, die ihnen eine Möglichkeit für einen Wandel bot. Doch anstatt alle Kräfte, die an der Revolution teilgenommen haben, zu kooptieren, versuchten sie, ihre Macht zu stabilisieren, indem sie ihre Leute in wichtige Positionen setzten und ihre Anschauungen – ich sage nicht ihr Programm – der Gesellschaft aufzwangen. Denn obwohl sie seit geraumer Zeit die Regierung stürzen wollten, hatten sie kein Programm.
Ihr Programm hieß zwar »Der Islam ist die Lösung«, sie konnten oder wollten aber die Korruption und den Nepotismus nicht beenden.
Sie haben es gar nicht versucht. Stattdessen haben sie ihre eigenen Leute in die Positionen gesetzt, was ja eine andere Art von Korruption ist. Wenn sie mit anderen Kräften, die es in Ägypten gibt, kooperiert hätten, dann hätten sie Änderungen herbeiführen können. Doch stattdessen zwangen sie ihre Anschauungen den anderen auf.
Das geschah auch in Tunesien.
Ja, das stimmt, doch wir hören viel weniger Berichte über Tunesien, wo es die gleichen Probleme gibt wie in Ägypten.
In Tunesien gibt es aber dank des langjährigen französischen Einflusses mehr Laizisten.
Die gibt es, aber es gibt auch eine Reaktion und der Laizismus wurde vom vorherigen autoritären Regime erzwungen. Es gibt aber auch eine laizistische Schicht der Gesellschaft. Jedes Land, das durch den »arabischen Frühling« ging, ist verschieden von den anderen. Libyen wiederum ist ein ganz anderer Fall.
Doch sind auch viele Gemeinsamkeiten zu beobachten. Es gibt keine Demokratie und die Herrscher in den rohstoffarmen arabischen Ländern sind gar nicht daran interessiert, den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben. Denn wenn die Menschen arm sind, wenn die Beschäftigten dann mit einem Job nicht ihr Auskommen finden, fällt es ihnen schwerer, das System zu ändern.
Stimmt, doch es wurde klar, dass diese Regime nicht fähig sind, diese Situation zu ändern.
Es gibt in der arabischen Welt, mit Ausnahme der erdölreichen Golfstaaten, kein Land, das aus diesem Teufelskreis herauskommt.
Sie hätten zum Beispiel eine Industrie aufbauen können.
Um dann Arbeiterunruhen zu haben …
Sadat und Mubarak haben versucht, Investitionen aus dem Ausland zu erhalten, und das war im Vergleich zum »arabischen Sozialismus« Nassers ein Fortschritt, denn dieser führte fast zum Zusammenbruch der Wirtschaft.
Zuerst gab es den arabischen Nationalismus, dann den arabischen Sozialismus, dann kam der Islamismus, der die Lösung bringen sollte. Jetzt sehen wir, wie in Syrien der arabische Nationalismus gescheitert ist. Sehen Sie da einen Grund zum Optimismus?
Ich sehe im Moment keinen Ausweg und bin nicht optimistisch. Aber, und das muss betont werden, es könnte einen geben, wenn es in all den erwähnten Länder gelingt, aus den inneren Konflikten herauszukommen. Die meisten von ihnen sind künstliche Länder.
Der Irak und Syrien.
Ja, der Irak ist de facto dreigeteilt. Es ist weder im Irak noch in Syrien gelungen, einen Zusammenhalt aller ethnischen und religiösen Gruppen zu erreichen. Sowohl unter Saddam als auch unter Assad konnte durch Terror und Indoktrination der Schein einer Einigkeit erweckt werden. Im Irak waren die Sunniten, in Syrien die Alawiten bevorzugt. Nun ist die Situation derart chaotisch, dass niemand voraussagen kann, was noch passieren wird.
Früher wurde in den Medien nur das gebracht, was dem jeweiligen Regime recht war. Die Massen wurden beziehungsweise werden mit Antiamerikanismus, Antiisraelismus und mit arabischem Nationalismus oder Islamismus berieselt. Hat das Erscheinen von al-Jazeera daran etwas geändert?
Al-Jazeera hat die Art der Berichterstattung verändert, die Reporter sind auf die Straße gegangen und haben von realen Ereignissen und Zuständen berichtet, was bei uns alltäglich ist, in Ägypten und Tunesien, wo Islamisten laizistische Politiker ermordeten, aber neu war. Die lassen sogar Israelis zu Wort kommen. Allerdings ist al-Jazeera voreingenommen.
Kein Wunder, gehört der Sender doch Katar, dem Hauptfinanzier der Muslimbruderschaft.
Stimmt. Nach der »zweiten Revolution« wurde al-Jazeera aus Ägypten vertrieben. Wichtiger noch für den »arabischen Frühling« waren die sozialen Medien, die Computer- und Handybesitzer auf die Straße brachten. Viele machten Bilder und posteten diese auf Youtube. Übrigens wächst die Anzahl derer, die das Internet nutzen, in den arabischen Ländern rasant.
Hat sich das Verhältnis der arabischen Medien zu Juden und Israel seit dem »arabischen Frühling« geändert?
Ich sehe keine wesentliche Änderung, insbesondere weil es viele islamistische Fernsehsender gibt. Diese verbreiten Verschwörungstheorien und Programme über die gewünschte Niederlage der Juden, sie sind wirklich übel. Die anderen Sender halten sich mehr zurück und es gibt weniger Artikel über oder gegen Israel in den arabischen Zeitungen. Sie beschäftigen sich stärker mit ihren eigenen Problemen. Es gibt manchmal auch die üblichen Beschuldigungen gegen Juden und Israel. Die einen beschuldigen Israel, hinter General al-Sisi zu stehen, die anderen behaupten, es unterstütze die Muslimbrüder.
Es kursierte auch eine »Erklärung« für die Niederlagen der ägyptischen Armee: Die Offiziere und insbesondere al-Sisi sollen von konvertierten Juden abstammen. Das ist zwar verrückt, hat aber System.
In einem sozialen Medium in Ägypten erschien ein Plakat, das Hitler und al-Sisi nebeneinander zeigt. Darunter folgender Text: »Was ist der Unterschied zwischen Hitler und al-Sisi? Hitler tötete die Juden, um seinem Volk zu helfen, al-Sisi tötet sein Volk, um den Juden zu helfen.«
Wie Sie richtig bemerkt haben, erwartete man zu Beginn des »arabischen Frühlings« im Westen eine Entwicklung zur Demokratie und ich hoffte auch darauf, doch sehr bald kamen die Islamisten an die Macht und ich musste einsehen, mich getäuscht zu haben. Doch gab es auch positive Zeichen, junge Menschen, die im Fernsehen erklärten, Frieden zu wollen und keinen Konflikt. Gestern erfuhr ich von einer Wissenschaftlerin, die Medien in den palästinensischen Autonomiegebieten und im Libanon beobachtet, dass unter weltoffenen Palästinensern und Libanesen die Stimmung herrscht, genug vom Konflikt mit Israel zu haben.