Betteln und dessen Kriminalisierung

Geht doch arbeiten

Betteln ist heute keine Straftat mehr. Aber die Ideologie, die die Kriminalisierung einst legitimiert hat, ist noch immer wirkmächtig.

Die Geschichte des Bettelns reicht weit zurück. Bereits die Bibel erwähnt das Betteln, und auch Homer erzählt davon, wie Odysseus sich als Bettler verkleidet. Sehr unterschiedlich war und ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Betteln. In Indien etwa galt Betteln bis ins vorletzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts hinein als anerkannter Beruf, der sogar in offiziellen Statistiken des indischen Staats geführt wurde. Schon in der Geschichte der Erleuchtung des Buddha spielt die Begegnung mit einem Bettler eine wichtige Rolle; im Buddhismus ist das Betteln um Essen denn auch bis heute ein wichtiger Teil der alltäglichen Praxis vieler Mönche.
Auch das Christentum in Europa kennt Bettelmönche. Am bekanntesten sind die Franziskaner, doch auch die Dominikaner, Karmeliten und Augustiner wurden als Bettelorden gegründet. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Orden erreichte im späten Mittelalter ihren Höhepunkt. Aus eben jener Zeit, genauer gesagt aus dem Jahr 1478, stammt auch die älteste bekannte Bettlerordnung im deutschsprachigen Raum.
Das Betteln um Almosen war im christlich geprägten Europa des Mittelalters allgegenwärtig, Armut wurde als ein Zustand begriffen, den es zu ertragen gilt, die Entlohnung wurde auf das Jenseits verschoben. So heißt es in der Bergpredigt: »Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.« Gleichzeitig boten Bettler den weniger Armen die Möglichkeit, Barmherzigkeit zu üben und damit die Chancen auf den Eintritt ins Himmelreich zu verbessern.
Der Umgang mit dem Betteln und den Bettlern änderte sich jedoch grundlegend mit der Reformation, die den Blick der Menschen weg von der kommenden hin auf die gegenwärtige Welt lenkte. Für Calvin hatten Menschen sich bereits im Diesseits ihren Platz in der Nähe Gottes zu erarbeiten; wer das nicht tat, sondern bettelte, übte damit Verrat an Gott selbst. Auch Martin Luther wandte sich gegen das Betteln. Statt Almosen zu geben, sollten lieber die Ursachen der Armut bekämpft werden, forderte er, und das Gegenmittel war für ihn die Arbeit.
Mit dem Siegeszug des Protestantismus in Nordeuropa begann die Kriminalisierung von Existenzweisen, die nicht auf legitimer Arbeit oder legitimem Reichtum beruhten. Ihren konkreten Ausdruck fand diese Politik seit dem 17. Jahrhundert in der Einrichtung sogenannter Arbeitshäuser, in denen die Armen sich ihr Überleben durch knochenharte Arbeit verdienen mussten. In Westdeutschland bestand diese Institution bis 1969, allein in den Jahren nach 1945 wurden noch rund 8 000 Menschen in solche Häuser eingewiesen.
Ihren Höhepunkt erfuhr die Kriminalisierung von Bettlern im Nationalsozialismus. Bettelnde Menschen wurden als »Asoziale« verfolgt und in der Aktion »Arbeitsscheu Reich« zu Zehntausenden in Konzentrationslager verschleppt. Die genauen Opferzahlen lassen sich aufgrund vielfacher Überschneidungen mit anderen Opfergruppen, vor allem mit Sinti und Roma, schwer ermitteln, sie gehen jedoch in die Tausende. Entschädigt wurde diese Opfergruppe bis heute nicht. Das mag auch damit zu haben, dass sich die Haltung der Gesellschaft gegenüber Bettlern nicht grundlegend gewandelt hat und das Unrecht nicht als solches empfunden wird. Noch bis 1974 war Betteln auf der Grundlage eines Gesetzes aus der Kaiserzeit ein Straftatbestand, der mit bis zu sechs Wochen Haft geahndet werden konnte.
Die Ideologie, die die Kriminalisierung des Bettelns einst legitimierte, ist noch immer wirkmächtig: Gesellschaftliche Integration wird vor allem durch Arbeit definiert. Wer nicht arbeitet, hat demnach auch kein Anrecht auf gesellschaftliche Teilhabe. Diese Ideologie findet ihren Ausdruck ebenso in der Abwertung von Arbeitslosen wie in der Anwendung von Gewalt. Seit 1989 wurden mehr als 100 Wohnungslose Opfer tödlicher Angriffe.
In der Populärkultur wird die Figur des »Landstreichers« und »Vagabunden« zumeist positiv dargestellt und ist dem exotisierenden Bild des »Zigeuners« verwandt. Darin äußert sich der unterdrückte Wunsch des bürgerlichen Subjekts nach Freiheit und Selbstbestimmung. Ein Beispiel liefern der Schlager »Der lachende Vagabund« von Fred Bertelmann aus dem Jahr 1957 sowie der gleichnamige Film. In der Realität ist das Leben der Wohnungslosen und Bettler allerdings weniger lustig.
Eine Form, mit der Stigmatisierung spielerisch umzugehen, haben die Lazy Beggars gefunden, zwei selbsternannte »Vagabunden«, die derzeit auf den Straßen Berlins, meist an der Straßenecke Friedrichstraße/Unter den Linden, anzutreffen sind. Statt um Geld für Essen betteln sie ganz offen um Geld für Bier, Joints und Mittel gegen den Kater. »Wenigstens ist das ehrlich«, sagt Lyndon. Vor elf Jahren trafen sich Lyndon und sein Partner José im spanischen Granada. »Vorher habe ich in London im IT-Bereich gearbeitet und lächerlich viel Geld damit verdient, aber irgendwann hatte ich da keinen Bock mehr drauf und bin einfach abgehauen.«
Die Masche der beiden kommt an. Viele Menschen, die an ihnen vorübergehen, können sich ein Lächeln nicht verkneifen. Man könnte sagen, dass Lyndon und José das Betteln modernisiert haben; einen Facebook-Account haben sie genauso wie eine eigene Website, auf der man ihnen via Paypal auch online Geld zukommen lassen kann.
Klar ist, dass die Lazy Beggars zu den priviligierten Bettlern gehören, die sich ihre Lebensweise mehr oder weniger freiwillig gewählt haben und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch in die Mehrheitsgesellschaft zurückkehren könnten. Nicht alle Bettler haben diese Möglichkeit. Menschen haben Gründe dafür, zu betteln und auf der Straße zu leben. Solange Reichtum und Bildung ungleich verteilt sind, wird es Menschen geben, die betteln. Sich der kapitalistischen Ausbeutung entziehen zu wollen, ist ebenso legitim wie der Wunsch der oft entmenschlichenden Behandlung in sozialen und psychiatrischen Einrichtungen zu entkommen. Vielleicht erscheint das Betteln manchen Leuten menschenwürdiger als die Arbeit im Callcenter oder die vierte »Maßnahme«, die das Jobcenter anordnet. »Ich mache das, was ich mache, weil es mir Freude macht«, sagt Lyndon von den Lazy Beggars über das Betteln. Unwahrscheinlich, dass die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung das von sich behaupten kann.