Ethnoreligiöse Konflikte im Irak und in Syrien

Im Krieg der Identitäten

Bei den Konflikten im Irak und in Syrien, die die gesamte Region betreffen, stehen sich eine Vielzahl ethnoreligiöser und sonstiger Gruppen gegenüber. Teils unterstützen ausländische Regierungen mit­einander konkurrierende Strömungen.

Bereits wenige Monate nach dem Angriff auf den Irak vor elf Jahren verloren Öffentlichkeit und Medien in Europa das Interesse am dortigen Geschehen. Auch das Massentöten in Syrien, wo in vergangenen Tagen Dutzende verhungerten, wird schon lange gleichgültig hingenommen. Doch vorige Woche flackerte das Interesse wieder auf, es ging um von al-Qaida eroberte irakische Städte und Kämpfe zwischen verschiedenen Milizen und Rebellengruppen in Syrien. Um die Hintergründe dieser Entwicklungen zu verstehen, muss man in die jüngere Vergangenheit blicken.
Nach der Besetzung des Irak 2003 entließen die US-Militärbehörden Mitglieder der Ba’ath-Partei aus allen staatlichen Einrichtungen und Behörden, die irakischen Sicherheitskräfte wurden zudem fast vollständig aufgelöst. Das hatte nicht nur zur Folge, dass Hunderttausende sunnitische Beamte, Polizisten, Soldaten und Lehrer von einem Tag auf den anderen arbeitslos wurden und sich mangels anderer Perspektiven stärker an ihrer ethnoreligiösen Zugehörigkeit orientierten, sondern auch, dass im gesamten Irak staatliche Verwaltungs-, Versorgungs- und Sicherheitsstrukturen zerstört wurden. In den Folgejahren verloren nach Schätzungen über 400 000 Menschen ihr Leben. Während Regierung, Verwaltung und Armee zu schiitischen Bastionen wurden, befriedeten US-Militär und Besatzungsbehörden nach einigen Jahren Teile der sunnitischen Bevölkerung, indem sie Stammesführer gegen Geld und Waffen in den Kampf insbesondere gegen al-Qaida einbanden. Zuletzt standen die Mitglieder dieser »sunnitischen Erlösungsmilizen« allerdings unter starkem Druck, da sie einerseits als Sunniten diskriminiert und von der Regierung nicht vollständig in die staatlichen Sicherheitskräfte eingebunden und bezahlt wurden und andererseits die Jihadisten des mit al-Qaida verbundenen »Islamischen Staat im Irak« (ISI) Jagd auf sie machten. Tausende starben bei Anschlägen des ISI, der überwiegend schiitische Zivilisten sowie irakische Sicherheitskräfte attackierte. Zuletzt hatte er sich als »Islamischer Staat im Irak und Sham« (ISIS) auch nach Syrien ausgedehnt (Jungle World 49/2013).

In der vorigen Woche nun stand in Fallujah nicht nur der ISIS gegen die irakische Armee und die Stammesmilizen, wie meist berichtet. Vielmehr sollen dort lokale, zumeist tribal strukturierte und teils salafistisch beeinflusste Milizen rebellieren, die ein Ende der »Ent-Ba’athifizierung« und die Freilassung jüngst verhafteter sunnitischer Politiker fordern. Erst vor drei Wochen hatten irakische Ordnungskräfte gewaltsam ein Protestlager geräumt, in dem verschiedene Gruppen gegen die seit 2012 verschärfte Diskriminierung von Sunniten durch die Regierung Nuri al-Malikis demonstriert hatten. Daraufhin war es zur Mobilisierung einiger Milizen gekommen, gleichzeitig hatte der ISIS die Situation genutzt und war in Teile der Städte eingerückt. Dort hatten sich dessen Kämpfer als Speerspitze des Kampfes gegen das »schiitische Regime« exponiert. Die Komplexität der Lage zeigt sich beispielhaft darin, dass irakische Sicherheitskräfte noch vor weniger als einem Jahr versucht hatten, einen sunnitischen Stammesmilizenführer zu verhaften, der auch am Protestlager gegen die Regierung Malikis beteiligt war. Nun aber kämpfte er an der Seite dieser Sicherheitskräfte gegen den ISIS in Ramadi. Er sowie andere Politiker und Stammesvertreter waren von der Übernahme ihrer Parolen und Eroberung ihrer Städte durch den ISIS wenig begeistert, diskreditierte dieser doch ihren Kampf um mehr Einfluss.
Gleichzeitig geriet der ISIS auch in Syrien unter Druck. Seit Monaten hatten seine lokalen Emire und Kämpfer dort die Bevölkerung der »befreiten« Gebiete schikaniert und Hunderte Kämpfer anderer Milizen und Rebellenverbände, Oppositionelle und unpolitische Zivilisten entführt oder getötet. In mehreren Städten war es daher in den vergangenen Monaten zu Demonstra­tionen von Einwohnern gegen den ISIS gekommen. Zuletzt hatten oppositionelle Gruppen und Vertreter anderer Milizen ihm gar unterstellt, vom Regime gesteuert zu werden: Wenn konzeptloses Vorgehen und wahlloser Terror die Perspektive für die Zeit nach Assad sei, würde schließlich kein Syrer mehr dessen Sturz wollen.

Noch vor zwei Monaten hatte die Führung von al-Qaida versucht, die Wogen zu glätten und den ISIS in den Irak zurückbeordert. Nur die Nusra-Front, ebenfalls unter dem Label al-Qaida operierend, sollte in Syrien kämpfen. Doch die Befehle Ayman al-Zawahiris wurden nicht befolgt. Als schließlich vor etwa zwei Wochen Kämpfe ausbrachen, vertrieben Milizen der »Freien Syrischen Armee« (FSA) und der »Islamischen Front« die Kämpfer des ISIS aus etwa zwei Dritteln ihrer Stützpunkte, wenn auch teilweise nur kurzzeitig. In Kämpfen sowie bei Autobombenanschlägen und Hinrichtungen wurden dabei ­allein bis zum Wochenende über 350 Rebellen und etwa 250 ISIS-Kämpfer getötet. Angeblich soll der ISIS sogar Nusra-Kämpfer hingerichtet haben. Da die gegen Assad kämpfenden Milizen und Verbände jedoch meist nur kurze Zeit geeint und koordiniert agieren, könnte die Vertreibung des ISIS von nur kurzer Dauer sein, zumal die Nusra-Front sich abseits hielt und die Kämpfe unbeschadet überstand. Abgesehen von diesen Auseinandersetzungen ist die Situation in Syrien seit Monaten fest­gefahren, beide Seiten führen einen Abnutzungskrieg, bei dem insbesondere die syrische Armee nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheidet. 45 000 Zivilisten wurden mittlerweile getötet, zudem starben bis zu 30 000 Rebellen und Jihadisten sowie auf Seiten des Regimes über 50 000 Soldaten und paramilitärische Kämpfer. Weit mehr als jeder vierte Syrer ist auf der Flucht. Seit Monaten attackieren darüber hinaus überwiegend islamistische Milizenverbände im Norden nicht mehr die syrische Armee, sondern kurdische Milizen, die »Selbstverteidigungseinheiten« der »selbstverwalteten« Gebiete.
Gleichzeitig greifen die Kämpfe immer mehr auf den Libanon über. So flog die syrische Luftwaffe mehrmals Angriffe auf den Libanon, auf beiden Seiten der Grenze kommt es zudem regelmäßig zu Zusammenstößen syrischer Truppen und libanesischer Milizionäre der Hizbollah mit Rebellen und sunnitischen Jihadisten. Jihadisten verübten Bombenanschläge auf die iranische Botschaft und Hizbollah-Standorte in Beirut, vor kurzem starb ein saudischer Jihadistenführer unter mysteriösen Umständen in einem libanesischen Krankenhaus. Das mit den USA und Deutschland verbündete saudische Regime steuert oder unterstützt in der Region Jihadisten unter dem al-Qaida-Label beim Kampf gegen »iranische Interessen«, in Syrien jedoch Milizen unter dem Label der FSA gegen die Jihadisten. Im Libanon stützt es mit Frankreich die Armee. Der Iran, der mit den USA im Irak die Regierung Maliki unterstützt, finanziert im Libanon die Hizbollah und nimmt vor allem im Süden des Landes auch wirtschaftlich großen Einfluss, gleichzeitig unterstützt er in Syrien das Assad-Regime mit Geld, Militärangehörigen und Waffen. Es sind diese beiden regionalen Großmächte, die die ethnoreli­giöse Polarisierung in der Region seit Jahren fördern, die im Libanon, in Syrien und im Irak teils in der Kolonialzeit unter anderem durch Klientelpolitik und die Bevorzugung beziehungsweise Marginalisierung der Bevölkerungsgruppen vorbereitet wurden. Die US-Politik im Irak seit 2003 wirkte dem nicht entgegen – im Gegenteil.