Big Mother is watching you

Seltsamerweise gilt man als Feind des technologischen Fortschritts, wenn man die gebührende Begeisterung über den Elektronikschrott vermissen lässt, der ständig auf den Markt geworfen wird. In Wahrheit ist es umgekehrt, die vermeintlich Technikbegeisterten behindern den Fortschritt, weil sie viel zu leicht zufriedenzustellen sind. Denn warum sollte die Industrie viel Geld aufwenden, um etwas wirklich Cooles zu erfinden, wenn die Leute schon für die neue Version eines Smartphone Schlange stehen? Statt des Antigravitationsgürtels, der uns bequem von der Kneipe nach Hause bringt, oder eines künstlichen Doubles, das sich den lästigen Angelegenheiten widmet, während wir unseren Interessen nachgehen, bekommen wir eine hässliche Brille, die überflüssige Informationen einblendet, und Mother, die uns schurigelt, als wären wir bockige Kinder.
Iss mehr Gemüse! Schling nicht so! Mach das Computerspiel aus, treib Sport! Putz deine Zähne! Geh endlich ins Bett, damit du morgen fit für die Arbeit bist! Wollen Sie sich so etwas von einem birnenförmigen Kunststoffmonstrum mit eingestanztem Grinsen sagen lassen? Anders als früher, als Sie Ihre Mutter hin und wieder mit dem Befeuchten der Zahnbürste täuschen und heimlich von der Nutella naschen konnten, entfällt auch noch die Chance zur Schummelei. Denn Mother kommuniziert mit den in Ihren Räumlichkeiten installierten elektronischen Geräten und »weiß alles, ohne fragen zu müssen«, wie die Herstellerfirma Sen.se droht, die das furchterregende Produkt kürzlich bei einer Messe für Konsumelektronik in Las Vegas vorstellte. »Sie ist weder Krankenschwester noch Gärtnerin oder Polizist – sie ist alles zugleich«, schwärmt Rafi Haladjian, CEO von Sen.se. Selbst wenn man davon absieht, dass neben Mother wohl auch der für Sie zuständige Geheimdienst und vielleicht bald auch Ihre Krankenkasse und Ihr Chef erfahren könnten, wie viele Flaschen Bier Sie gestern abend aus dem Kühlschrank genommen haben, stellt sich die Frage: Wer braucht so etwas? Bedauerlicherweise scheinen viele Menschen das unstillbare Bedürfnis zu empfinden, sich gängeln zu lassen. Der Weg in die selbstgewählte Unmündigkeit ist mit elektronischen Geräten zur Optimierung für den Verwertungsprozess gepflastert. Solche Geräte verkaufen sich erschreckend gut. Noch keine Firma ist hingegen auf die Idee gekommen, einen hedonistischen Kühlschrank (»Was, schon satt? Das leckere Eis in meinem obersten Fach wirst du ja wohl noch schaffen!«), eine Feierabendwächter-App, die nach Dienstschluss eintreffende Firmen-Mails automatisch löscht, oder den Chef-Warner, der bei Annäherung eines Vorgesetzten Vibrationsalarm gibt und so die rechtzeitige Einnahme einer Arbeit vortäuschenden Haltung ermöglicht, zu erfinden. Es bekommt wohl jede Gesellschaft den Elekronikschrott, den sie verdient.