Unbeliebte »Armutsflüchtlinge«

Bornierte Europäer

»Sozialtouristen«, »Armutsflüchtlinge«, »Betrüger«: Nicht nur deutsche Politiker hetzen gegen arbeitsuchende und arbeitslose EU-Bürger.

Eigentlich hat die Europäische Union alles geregelt. EU-Bürgerinnen und -Bürger dürfen sich in jedem Mitgliedstaat aufhalten, wenn sie dort eigenständig ihr Leben finanzieren können, legt eine Direktive fest. Eine zweite Regel besagt, dass ausländische Arbeiter aus der EU genauso behandelt werden müssen wie einheimische. Aus diesen Vorgaben ergibt sich alles Weitere: etwa, dass nur Sozialleistungen beziehen darf, wer vorher im Einreiseland gearbeitet hat. Dass vergangene Woche dennoch in Brüssel über die EU-Freizügigkeit gestritten wurde, dürfte kaum damit zu tun haben, dass der Europäische Gerichtshof über einen Fall entscheiden muss, der diese Arbeitsverpflichtung aufheben könnte. Denn ein solches Urteil ist unwahrscheinlich. Vielmehr reagierte der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso auf die rassistischen und antieuropäischen Töne aus Deutschland und Großbritannien. Barroso ist nicht gerade als scharfer Kritiker bekannt. Wenn der Portugiese also von einer »bornierten und chauvinistischen Idee des Schutzes verschiedener Länder« spricht, geht es um mehr als Aufenthaltsfragen. Es geht darum, wer in der Kommission das Sagen hat. Und um die Zukunft des europäischen Bündnisses.
Bereits im vorigen Jahr wollte der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in Brüssel restriktivere Einreisegesetze durchsetzen. Die EU-Kommission reagierte kritisch: Der CSU-Politiker solle erst einmal Zahlen und Fakten nennen, bevor er über »Sozialschmarotzer« und »Armutsflüchtlinge« lamentiere. Das konnte Friedrich nicht. Mit der jüngsten Hetzkampagne »Wer betrügt, der fliegt« verschärfte die CSU erneut den Ton. »Einen Selbstbedienungsladen Deutschland in Europa darf es nicht geben«, dekretierte die Partei. Damit schlug sie vor den im Mai anstehenden Europawahlen den antieuropäischen Ton an, den viele ihrer Anhänger hören wollen: Wir Deutschen zahlen sowieso viel zu viel für die Hungerleider der EU, nun will man uns auch noch vorschreiben, wen wir durchzufüttern haben.
Noch weiter gingen die britischen Tories. Premierminister David Cameron polemisiert zwar schon lange gegen die EU-Freizügigkeit. Jetzt nutzte dessen Vertrauter und Schatzkanzler George Osborne den aufgeregten Brüsseler Diskurs, um mit nationalchauvinistischen Parolen für eine Neuverhandlung der EU-Verträge mobil zu machen. Die Folgen dieser Politik dürften über Großbritannien hinaus zu spüren sein. Solche Szenarien haben nicht nur Barroso beunruhigt. Auch das Europaparlament äußerte sich kritisch und forderte, die Bewegungsfreiheit dürfe nicht mit dem Missbrauch von Sozialsystemen in Verbindung gebracht werden – eine weitgehende Aus­sage für ein Parlament, das nicht einmal die mör­derische Abschottung der EU-Außengrenzen verurteilt. Ihr liegt das Wissen zugrunde, dass von Andalusien bis in den Balkan immer mehr EU-Staaten Migranten exportieren werden. Schon jetzt streitet Polen deshalb mit der britischen Regierung, Rumänien und Bulgarien wehren sich gegen ihre Rolle als Lieferanten von »Sozial­schmarotzern«. Christsoziale, Tories und andere Antieuropäer werden sich davon kaum aufhalten lassen.