Westdeutsche Unternehmen als Profiteure der Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen

Schuften für den Klassenfeind

Wenn es um den Handel ging, wurden sich westdeutsche Firmen und die DDR ohne weiteres einig. Das Geschäftsmodell basierte häufig auf Zwangsarbeit in Gefängnissen der DDR.

Üblicherweise entspricht das Auftreten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) dem Namen seiner Behörde: schwer seriös, aber sturzlangweilig. Ungewöhnlich knallig ist da der Titel einer Studie, die die Aktenhüter Mitte Januar präsentierten: »Knastware für den Klassenfeind – Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit«.

Der für die Behörde tätige Historiker Tobias Wunschik hat herausgefunden, dass zahlreiche Firmen aus der BRD von der Zwangsarbeit in der DDR profitierten. Unternehmen wie Aldi und Volkswagen beauftragten in den siebziger und achtziger Jahren Betriebe in der DDR, in denen auch Häftlinge arbeiteten. Zeitweise mussten bis zu 30 000 Häftlinge in Ostdeutschland teils unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen für volkseigene Betriebe arbeiten. Davon waren etwa zehn Prozent politische Gefangene.
Möbel-, Versand- und Kaufhäuser, aber auch die Auto- und die Stahlindustrie ließen hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang produzieren. Über einen Zwischenhändler wurden, so die Studie, Neckermann, Quelle, Otto, Kaufhof, Horten, Hertie, Karstadt, Möbel Hess und Möbel Steinhoff mit Einrichtungsgegenständen beliefert, die auch von Häftlingen produziert worden waren. Mindestens 200 Millionen D-Mark wurden jährlich mit Waren umgesetzt, die allein in Häftlingsarbeit entstanden waren. So bezog Aldi über den Volkseigenen Betrieb (VEB) Esda Thalheim Strumpfhosen, die auch weibliche Gefangene aus dem DDR-Gefängnis Hoheneck zwangsweise herstellen mussten. Aldi Nord bestätigte gegenüber der ARD nun zwar die Käufe, gab aber an, nicht gewusst zu haben, dass Häftlinge an der Produktion beteiligt waren. Ähnlich äußerte sich Aldi Süd.
Auch Volkswagen habe Fahrzeugteile aus der Zwangsproduktion bezogen, heißt es in der Studie. Das VEB Kombinat Fahrzeugelektrik Ruhla lieferte unter anderem Scheinwerfer und Abdeckklappen, auch dort wurden Gefangene zur Arbeit gezwungen. VW erklärte, man habe den Einsatz von Häftlingen in DDR-Betrieben weder veranlasst noch wissentlich gebilligt oder gar davon profitiert. Das gilt offenbar nicht für alle Firmen. Der BStU berichtet, die Konzernleitung des Versandhändlers Quelle sei schon vor 1989 darüber informiert gewesen, dass die bezogene Ware teilweise von politischen Gefangenen gefertigt worden war. Von dem Geschäft profitierten offenbar nicht nur Unternehmen. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zufolge enthüllt die Studie auch, dass mit den Exportgewinnen aus dem Knastgeschäft zum Teil auch die Deutsche Kommunistische Partei in Westdeutschland finanziert worden sei.
Die DDR handelte nicht nur mit Möbeln, Autoteilen und Strumpfhosen. Wunschik fand auch heraus, dass DDR-Häftlinge zu Blutspenden gezwungen und diese dann gegen Devisen in den Westen verkauft wurden. Es habe mehrere Blutspendetermine in den Gefängnissen Waldheim und Gräfentonna gegeben. Aus den Stasi-Unterlagen gehe hervor, dass die Spenden erzwungen wurden. Das Bayerische Rote Kreuz und dessen Blutspendedienst bestätigten gegenüber der ARD den Bezug von Konzentraten aus der damaligen DDR.

Erst im Sommer war bekannt geworden, dass westliche Pharmakonzerne in mehr als 50 Kliniken in der DDR etwa 600 Medikamentenstudien in Auftrag gegeben hatten. Bis 1989 waren an mehr als 50 000 Menschen Medikamente gegen Krebs und Herzkrankheiten getestet worden. Die Probanden wussten nichts von den Versuchen. Der Spiegel hatte Einsicht in Akten des DDR-Gesundheitsministeriums, der Stasi und des Instituts für Arzneimittelwesen bekommen, die die Versuche belegen. In einigen Fällen waren Patienten gestorben. So erging es beispielsweise zwei Patienten der Lungenklinik Lostau bei Magdeburg, denen ein neues Mittel zur Blutdrucksenkung des Herstellers Sandoz verabreicht worden war. Die Tests wurden deshalb nicht weiter geführt. An der Berliner Charité hatte Boehringer-Mannheim eine Substanz an Frühchen testen lassen, Bayer bezahlte die DDR für Versuche mit Alkoholikern im akuten Delirium. Es flossen bis zu 800 000 D-Mark pro Studie. Die Schering AG, die mittlerweile zu Bayer gehört, wollte das Testvolumen gar auf sechs Millionen Mark ausweiten.
Die Auftraggeber hatten teilweise akzeptiert, dass den Patienten Informationen über die Risiken der Tests vorenthalten wurden. Nach Bekanntwerden der Versuche sagten die betreffenden Pharmafirmen, dass klinische Tests prinzipiell nach strengen Vorschriften erfolgen würden. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller behauptete im Juni, er habe »bisher keine Verdachtsmomente, dass irgendetwas faul gewesen wäre«.
Im vergangenen Winter war bereits der schwedische Möbelkonzern Ikea in die Schlagzeilen geraten. Schon lange war bekannt, dass das sich so gern skandinavisch-locker gebende Unternehmen seine Regale in DDR-Knästen zimmern lassen hatte. Nach wachsender Kritik beauftragte Ikea eine Unternehmensberatung, Akten der Unterlagenbehörde zu sichten und Betroffene zu befragen. Das entstandene Gutachten hielt Ikea allerdings größtenteils zurück, angeblich aus Datenschutzgründen. Bekannt gab das Unternehmen hingegen, dass politische Häftlinge und Strafgefangene aus den Knästen Waldheim, Naumburg und möglicherweise weiteren Gefängnissen der DDR für Ikea Möbel bauen mussten.
Der Direktor der Gedenkstätte für Stasiopfer in Berlin-Hohenschönhausen kritisierte, dass der Konzern als Beschuldigter »seine Taten selbst untersucht«, weder Wissenschaftler noch DDR-Experten seien an der Untersuchung beteiligt worden. Auch der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, sagte, Ikea habe »nicht beantwortet, warum es damals nicht konsequent gehandelt hat«. Die FDP lud Ikea zu einer Bundestagsanhörung zum Thema Zwangsarbeit in der DDR ein, das Unternehmen lehnte jedoch eine Teilnahme ab. »Wir sind der Meinung, dass das Augenmerk nun nicht alleine auf dem Unternehmen Ikea liegen sollte«, sagte damals die Unternehmenssprecherin Sabine Nold.
Das ist nun der Fall und könnte auch so bleiben. Denn als Reaktion auf die Enthüllungen stellte Ikea 120 000 Euro für ein Forschungsprojekt der Union der Opferverbände kommunistischer ­Gewaltherrschaft (UOKG) bereit. Die beauftragten Wissenschaftler sollen die Arbeitsbedingungen von politischen Häftlingen in der DDR, das Strafsystem bei Nichterfüllung der Normen und Arbeitsverweigerung sowie mögliche gesundheitliche und finanzielle Folgen untersuchen. Außerdem sollen sie die Rolle von »körperlicher Schwerst­arbeit« in Ziegelbrennereien, Tongruben, Tagebauen und Ähnlichem in den Blick nehmen. Diese war in Lagern, Jugendhäusern und Jugendwerkhöfen bis Mitte der siebziger Jahre üblich. Vor allem aber will die UOKG eine Liste der Betriebe und Firmen erstellen, für die in Haftanstalten, Arbeitserziehungslagern, Jugendwerkhöfen und ähnlichen Einrichtungen produziert werden musste.

Auf Grundlage dieser Liste wollen die Opfervertreter dann mit Verhandlungen über die Entschä­digung von ehemaligen DDR-Zwangsarbeitern beginnen. »Wir wollen einen Rentenfonds für die Betroffenen erreichen«, sagte der UOKG-Bundesvorsitzende Rainer Wagner der Agentur EPD. »Durch die neuen Erkenntnisse der Stasi-Unterlagen-Behörde hat sich unser Zeitplan verändert.« Bislang wollte Wagner mit den Verhandlungen beginnen, sobald die von Ikea finanzierte Studie vorliegt. »Jetzt können wir endlich belastbares Material vorlegen«, befand Wagner angesichts der neuen Studie. Bislang hatte die UOKG weder bei Firmen noch beim Bundesfinanzministerium Erfolg. Weil die meisten DDR-Betriebe nach der Wende über die Treuhand abgewickelt wurden, verlangen die DDR-Zwangsarbeiter auch vom Bund Entschädigungen. »Schließlich kamen die Einnahmen dieser Firmen nach dem Aufkauf der Bundesregierung zugute«, unterstützt Wagner die Forderung.