Internet kaputt? Eine Antwort auf Sascha Lobo

Lebenslüge Internet

Eine Antwort auf Sascha Lobos Gekränktheit.
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Das Internet sei kaputt – verkündete Sascha Lobo Mitte Januar in einem vielbeachteten Aufsatz in der FAZ. Kaputt deshalb, weil seit den Enthüllungen Edward Snowdens klar sei, dass das Internet nicht mehr eine Befreiungs-, Demokratie- und Emanzipationsmaschine, sondern im Gegenteil zum allumfassenden Überwachungsapparat mutiert sei. »Digitale Kränkung« nennt Sascha Lobo das und erklärt diese zur »vierten Kränkung der Menschheit«. Die ersten drei Kränkungen der Menschheit sind, laut Sigmund Freud, Kopernikus’ Feststellung, dass der Mensch nicht der Mittelpunkt des Universums ist; Darwins Feststellung, dass der Mensch vom Tier abstammt; und Freuds eigene Feststellung, dass der Mensch nicht Herr seiner eigenen Gedanken und Gefühle ist.
Die Überwachung der Kommunikation durch Geheimdienste als »nächste große Kränkung« in dieser Reihe zu bezeichnen, zeugt von einer quasi religiösen Überhöhung des Internet. Nur wer an dessen heilsbringende Wirkung wie an Jesus Christus glaubt, kann dermaßen tief gekränkt sein, wenn sich dieser Glaube als Illusion herausstellt. Die Datenkopiermaschine Internet ist nicht kaputt – sie funktioniert nur zu gut und zeigt einmal mehr, dass Utopien immer auch voraussetzen, dass der Mensch sich ändert. Was er selten tut. Auf kaum etwas reagieren wir so empfindlich wie auf das Aufdecken unserer Lebenslügen.

Erste  Lebenslüge: Rechtsstaat Deutschland
Die DDR und die Stasi dienten jahrzehntelang als Kontrast zur leuchtenden westdeutschen Demokratie – dabei wurde von Anfang an auch in der Bonner Republik kräftig überwacht. Berufsverbote und Rasterfahndung scheinen Beispiele aus dem vergangenen Jahrhundert zu sein. Und nach 1989 hat sich wenig geändert, wie der Fall des Sozialwissenschaftlers Andrej Holm zeigt. Er und seine Familie mussten 2007 geheimdienstliche Überwachung, er selbst eine lange Untersuchungshaft über sich ergehen lassen, nur weil Formulierungen aus seinen wissenschaftlichen Arbeiten in Flugblättern von Gentrifizierungsgegnern aufgetaucht waren.
Der NSA-Skandal ist ein gefundenes Fressen für deutsche und europäische Politiker, lenkt er doch bestens von den eigenen Versuchen ab, die Bevölkerung zu überwachen. Die folgenlose, aber populäre Forderung nach einem No-spy-Abkommen mit den USA ist für deutsche Politiker viel bequemer als unangenehme Fragen zur illegalen Funkzellenabfragen in Sachsen, zu den Versuchen, einen »Staatstrojaner« in unsere Rechner einzuschleusen oder zum bewussten Verzicht auf Verschlüsselung in »DE-Mail«, damit der Staat im Zweifel dort mitlesen kann.

Zweite Lebenslüge: Gute und böse Staaten
Die USA sind eine befreundete Nation. Das hindert sie aber nicht daran, den Internetverkehr von Freund und Feind in ganz großem Stil zu überwachen – bis hin zu Botschaften, Institutionen und Regierungen. Dieser feindliche Akt eines Freundes ist irritierend, aber viel irritierender ist, dass die deutsche Regierung seltsam ruhig bleibt. Das liegt vor allem daran, dass sie selbst von der Überwachung profitiert, ohne sich die Finger schmutzig zu machen – die NSA arbeitet eng mit dem BND zusammen. Der »feindliche Akt« ist also eigentlich keiner, sondern eher eine stille Übereinkunft unter Verbündeten. Dabei ist aus dem Musterland der Demokratie längst auch ein Musterland der Überwachung geworden. Von einem kaputten Internet kann nicht die Rede sein, wenn die Homeland Security gezielt mit Denunziation arbeitet, die USA den kompletten Briefverkehr scannen oder bekannt wird, dass die Hardware in unseren Computern gezielt manipuliert wurde, um Hintertüren für US-Behörden zu schaffen.
Spitzenpolitiker aller im Bundestag vertretenen Parteien gaben sich überrascht und manche taten entrüstet, als Edward Snowden an die Öffentlichkeit trat, dabei war die Überwachung durch die NSA schon lange ein offenes Geheimnis. Spätestens seit 2001 ist gesichert, dass US-Behörden via Echelon große Teile unserer Kommunikation mithören. Aber bereits 1990 mussten zumindest Spitzenpolitiker genau wissen, wie intensiv die USA uns überwachen. Da wurde nämlich im Rahmen der Zwei-plus-vier-Gespräche vereinbart, dass die USA einen großen Teil ihrer Befugnisse aus der Besatzungszeit behalten dürfen – wozu unter anderem gehört, die Kommunikation in Deutschland großflächig abzuhören.
Das ist seit Adenauer so und war auch diesem schon genau bekannt. Überwachung ist in Deutschland und den westlichen Staaten nichts Neues, sondern seit Jahrzehnten ein ständiges Problem – neu ist nur das Ausmaß der technischen Möglichkeiten, die das Internet bietet. So etwas wie »gute und böse Staaten« gibt es in Sachen Überwachung nicht, alle Regierungen vertreten mehr oder weniger ihre Interessen. Das politisch zu bohrende Brett ist sehr, sehr dick und kann nicht ohne weiteres bei der nächsten Bundestagswahl weggewählt werden. Im Gegenteil: Bevölkerung und Politik spielen Schwarzer Peter, wenn die Bevölkerung Lösungen von der Politik fordert, die Politik die Bevölkerung zum Verschlüsseln aufruft und sich am Ende keiner bewegt. Als ob wir uns darüber streiten, was besser ist: staatliche Gesundheitsprogramme oder das tägliche Zähneputzen.

Dritte Lebenslüge: Privatsphäre im Internet
Der internetaffine Mensch wusste schon immer: E-Mails sind nicht geschützt, ihr Versand entspricht dem einer offenen Postkarte, die von jedem mitgelesen werden kann, der sich in den Versandweg einklinkt. Wer Vertrauliches mitzuteilen hat, muss sich im Wald treffen oder eben seine E-Mail verschlüsseln. Natürlich kann Verschlüsselung als technische Lösung ein soziales Problem wie Überwachung nicht beheben, aber wer lässt schon permanent seine Haustür offen stehen, weil Einbruch und Diebstahl zunächst mal ein soziales Problem sind?
Dabei ist es durchaus möglich, private Refugien im Internet per Verschlüsselung zu schaffen. Diese Refugien heißen aber nicht Facebook oder Google. Diese Dienste sind nicht plötzlich tabu – wer sie nutzt, sollte sich nur bewusst sein, dass sie ein öffentlicher Raum und nicht das eigene Wohnzimmer sind. Doch selbst ganz ohne PC und Smartphone hinterlassen wir ständig eine breite Datenspur. Der Kontrollverlust über die eigenen Daten ist nicht aufzuhalten – informationelle Selbstbestimmung verkommt angesichts des Internet vom Grundrecht zur Lebenslüge. Wie damals im Dorf. Da konnten wir auch nicht verhindern, dass unsere Nachbarn wissen, was wir so treiben. Gefährlicher als ein postprivates globales Dorf sind jedoch die Datensilos und Informationsmonopole, die es Staaten und Konzernen ermöglichen, Macht auszuüben.

Vierte Lebenslüge: Datenschutz
Wenn das Internet kaputt ist, dann sind die deutschen Datenschutzgesetze noch viel kaputter. Wir stellen Gutachten gegen Gutachten, wenn es darum geht, ob die Zustimmung zum Empfang eines Newsletter auf korrekte Weise geäußert wurde oder ob ein Anbieter für seine Dienstleistungen ein permanentes Cookie in unserem Browser setzen darf. Tauschbörsennutzer bekommen regelmäßig Abmahnungen, aber es ist in Deutschland fast unmöglich, gegen Trolle oder Stalker vorzugehen, die uns das Leben zur Hölle machen können. Unser Datenschutz schützt uns kaum vor denjenigen, die uns wirklich wehtun könnten. Das kann vor allem der Staat – in Form der NSA, wenn wir in die USA einreisen wollen, aber auch in Form vieler deutscher Behörden vom Schulamt bis zum Jobcenter, die auf die eine oder andere Art Macht über uns haben. In Zeiten eines sowieso offenen Netzes steht nicht die Frage im Vordergrund, wie wir Daten vor Missbrauch schützen, sondern Menschen vor Diskriminierung.
Die Diskussion um den NSA-Skandal läuft aber in die entgegengesetzte Richtung. Von allen Seiten kommen Vorschläge, das Internet zu nationalisieren. Es klingt sinnvoll, das Safe-Harbor-Abkommen zu kündigen, das besagt, dass dem deutschen Datenschutz Genüge getan ist, wenn Daten in vermeintlich »sichere Drittstaaten« wandern wie die USA. Es klingt auch sinnvoll, künftige Freihandelsabkommen an das Verhalten der NSA zu knüpfen, um die USA wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Und es klingt sinnvoll, ein nationales Internet zu errichten, das weitgehend vom Ausland abgekoppelt ist, um der Überwachung durch die NSA zu entgehen. Das würde zum Beispiel die heimische Internetwirtschaft stärken – am Ende bekommen wir aber ein Wettrüsten der Informationstechnologie wie zu Kaisers Zeiten. Die Hubschrauber, die die Bundesregierung im Tiefflug über die US-Botschaft schickte, erinnern fatal an die Kanonenbootpolitik eines Wilhelm II. Wenn wir erst Firewalls zu unseren Nachbarstaaten errichtet haben und das Netz voller Zensurfilter steckt, während deutsche Behörden und Konzerne unser Verhalten im Netz trotzdem überwachen – dann ist das Internet wirklich kaputt.