Auszug aus: »Falsche Papiere«

Zwei Straßen und ein Bürgersteig

Valeria Luiselli erkundet die vielen Sprachen der Melancholie.

Mérida
Ich steige aufs Fahrrad und begebe mich auf die Straße. Ein paar Blocks weiter lehne ich das Rad an einen Laternenpfahl, schließe es an, überquere die Straße und betrete die Buchhandlung Tesoro: Ich suche nach einer portugiesische Grammatik, die ich wieder einmal nicht finde. Ich werde den guten Vorsatz, diese Sprache zu lernen, wie so vieles aufschieben müssen. Stattdessen kaufe ich zwei Bände brasi­lianischer Lyrik und eine Postkarte, alles für 47 Pesos.
Vor einiger Zeit habe ich an einer Konferenz teilgenommen, bei der die Vortragenden über den Begriff saudade diskutierten. Seitdem schlage ich, jedes Mal, wenn ich ein Wörterbuch sehe, dieses Wort nach. Ich glaube nicht, inzwischen mehr zu wissen, als das, was wir fast alle wissen. Saudade ist einer dieser unübersetzbaren Begriffe, den nur jene wirklich begreifen, die auf Portugiesisch lieben, genießen und leiden. Bist du nicht lusophon, so heißt es, hast du kein Recht auf saudade.
Draußen hat es zu regnen begonnen, also hol ich mir einen Schemel und setze mich zwischen zwei Regale, um in meinen neuen Büchern zu blättern. In beiden suche ich nach irgendeiner Spur dieses Wortes. Nichts. Aber mir springen Verse in die Augen, die ich halbwegs verstehe:

Calçadas que pisei
Que me pisaram
Como saber no asfalto da memoria
O ponto em que comença a fantasia?

(Wo beginnt die Phantasie? Was ist mit ponto gemeint, die Brücke oder der Punkt?)
Wenn wir eine Sprache nur halb verstehen, füllt die Vorstellungskraft den Sinn eines Wortes, eines Satzes oder Absatzes auf – wie in jenen Malheften, in denen es nur Punkte gab, die wir als Kinder mit einem Buntstift verbinden mussten, um das Bild als Ganzes zu entdecken. Ich verstehe nicht Portugiesisch, oder ich verstehe es nur so lückenhaft wie jeder, der Spanisch spricht. Sage ich »saudade«, wird es immer so sein, als füllte ich die Lücken zwischen den fremden Punkten.

Durango
Saudade ist weder homesickness noch Heimweh. Das finnländische kaihomielisyys bezieht sich, obwohl es nach home und Honig klingt, nur auf die winterlichste Erscheinungsform. Das ­isländische söknudur ist trocken; das polnische tesknota hat kaum etwas damit zu tun; dem eng­lischen lack fehlt etwas; das tschechische stesk schaudert und in dem estischen ihaldus ist das »h« eisig. Das spanische morriña rollt der saudade entgegen wie ein asymptotischer Stein. Die langen Arme des longing erreichen sie nicht. In Sehnsucht dauert das »e« zu lange. Die saudade ist nicht Nostalgie und auch nicht Melancholie. Vielleicht ist saudade auch nicht saudade.

Orizaba
Melancholie, das war ein Körpersaft, ein Überschuss an schwarzer Galle. Deren übelriechenden Dämpfe verdunkelten den Verstand und verstörten die Seele. Von den vier Körpersäften – Schleim, gelbe Galle, Blut und Melancholie – war letztere der kälteste und trockenste Körpersaft. Der Melancholiker hatte eingesunkene Augen und ein verschlossenes Antlitz; er war zurückhaltend, mürrisch und einsam; schlaflos und von Albträumen geplagt; voller Leidenschaft und eifersüchtig. Er hatte einen kraftlosen Körper, neigte zu Blähungen, der Stuhlgang war schmerzhaft und der Urin farblos und spärlich. Ursache der Melancholie war der Volksweisheit zufolge die schlechte Ernährung, und behandelt wurde sie mit Abführmitteln, Salben, Umschlägen und Aderlass.
Mit der Zeit wuchs die Anzahl der Ursachen und Therapien für diese Krankheit. Auf die Liste der Ursachen kam zunächst der Planet Saturn und, ein Jahrhundert später, der Müßiggang, übermäßiger Wissensdrang, die Hexen, die Zauberer und Gott. Für die himmlischen Ursachen gab es immer irdische Gegengifte. In einem Brief an einen imaginären melancholischen Patienten empfiehlt 1586 der Arzt Timothy Right Kohl, Datteln und Oliven zu vermeiden, ebenso Hülsenfrüchte und Erbsen sowie das Fleisch von Schweinen, Schafen und Ziegen, aber auch das von Robben und Tümmlern.

Plaza Río de Janeiro
Der Ursprung der saudade ist nicht genau bestimmbar. Möglicherweise geht das Wort auf den Namen eines portugiesischen Schiffes zurück, die São Daede, die Vasco da Gama bei der Erkundung des Indischen Ozeans zuvorkam. Vielleicht kommt saudade aber auch von der lateinischen solitudinis oder der wüstenhaften saudah der Araber. Sie kann sogar ein Musikinstrument von der Küste Mozambiques oder aber auch der Name einer überaus üppigen Schwarzen aus den Wäldern von Guinea Bissau gewesen sein.

Orizaba (Über den Bürgersteig)
Als Bastard der Melancholie hat die Nostalgie das Kalte und Trockene der schwarzen Galle geerbt, hat es selbst jedoch nie unter das Zeichen des Saturn geschafft. Die magischen Säfte der melancholischen Mutter sind in den drei trockenen Silben der aseptischen Tochter verdunstet. Wie die Cephalgie, die Neuralgie und andere –algien ist die Nostalgie unabänderlich klinisch. So verwundert es nicht, dass ihr Auftauchen in die Epoche fällt, in der die Kümmernisse der Seele zu Pathologien der Psyche wurden.
Die Nostalgie ist eine Erfindung von Johannes Hofer, einem Kriegsarzt aus dem 17. Jahrhundert. Hofer behandelte Schweizer Söldner, die nach langen Aufenthalten im Ausland allesamt die gleichen Symptome zeigten: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Druck auf der Brust sowie Halluzinationen mit Stimmen und Geistern. Die Soldaten verfielen fern der Heimat in eine graue, gleichgültige Stimmung, bar jedes Zeichens von Vitalität; sie bewegten sich wie abwesend durch die Welt und verwechselten in Gedanken Vergangenheit und Gegenwart.
Hofer machte sich Notizen über jeden Soldaten, der im Jahr 1688 in seine Praxis kam, und in dem Maße, wie die melancholische Truppe auf seiner Liste anwuchs, wuchs auch seine Ungeduld, diese Serie von Übereinstimmungen in einer Gesamtschau zu fassen. Wie jemand, der auf das Auftauchen eines Kometen wartet, um seinen Namen auf die Himmelskarte zu setzen, so wartete Hofer auf den letzten Soldaten, um seiner Hypothese einen Namen zu geben. Dann schloss er befriedigt sein Registerbuch und begann: Dissertatio medica de ­nostalgia.
Die Nostalgie war eine Krankheit, die sich in einem präzisen Symptom äußerte: Schmerz (algie) um das Heim (nostoi). Und wie bei jeder Krankheit fanden sich Heilmittel dafür: Opium, Abführmittel, Saugnäpfe, Blutegel und Bäder in lauwarmem Wasser. Auf die Dauer jedoch wurden die Soldaten immun gegen diese Palliative. Nach vielen Versuchen schloss Hofer, dass nichts so gut half, wie die Männer heimzuschicken.

Colima
Die saudade, die etwas vom Schmerz in der Dehnung ihrer ersten beiden Vokale bewahrt, lässt Dinge anklingen, die irgendwie schön und auch ein wenig traurig sind: Naos, sauces (Weiden), sahumerio (Räucherwerk), Saurier.

Chihuahua
Ich weiß nicht, nach welcher Laune sich das Schicksal der Wörter vollzieht, welche unsichtbare Hand sie formt, jedenfalls hat die Zeit dafür gesorgt, die Melancholie in einen poetischen Zustand zu erheben, dem Spleen eine metaphysische Qualität zu geben. Das melancholische Temperament wurde zum Merkmal des Genies, die schwarze Galle zur Substanz des Göttlichen. Aristoteles war ein früher Verantwortlicher für diesen Rumor, dessen Echo vermutlich die Romantiker wahrgenommen haben und nach ihnen die maudits und die Dandys. Später jedoch galt die Melancholie nur noch als übersteigerte Emotionalität; und vielleicht war es Freud, der am stärksten für das Ende dieses Gründungsmythos verantwortlich war. Freud hat die Melancholie demokratisiert: Sobald das Sofa auftauchte, waren die Erleuchteten nicht mehr die einzigen Herren der göttlichen Krankheit. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hörte die Melancholie auf, eine Lebensform und ein Seelenzustand des Dichters zu sein, um sich in einen verachtenswerten Charakterzug zu verwandeln, den Sofa-Hysterien vermutlich ebenbürtig.
So war es auch bei der Nostalgie, die mit der Zeit aufhörte, eine Hypochondrie des Herzens und eine Krankheit des Geistes zu sein, und zu etwas wurde, an dem Uruguayer leiden. Melancholie und Nostalgie landeten in derselben Schublade: der Depression, so wie sie das Internationale Krankheitsregister definiert.

Frontera
Jetzt, da die Ärzte nicht mehr Herren über Melancholien und Nostalgien sind, wurde das »Odysseus-Syndrom« entdeckt. In den Kopfzeilen einer spanischen Zeitung lese ich:
»50 Prozent der Immigranten entwickeln eine psychische Störung … ! Ein Drittel der Ausländer, die irregulär ins Land kommen, sind dazu prädestiniert, am Odysseus-Syndrom zu leiden.«
Trotz des literarischen Namens der neuen Pathologie wird diese als klinischer Befund verstanden. Die Symptome der Krankheit: Traurigkeit, Weinen, Anspannung, Kopf- und Brustschmerzen, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Halluzinationen. Die Therapie: Psychiater und Psychopharmaka. In Barcelona gibt es bereits ein Ärzteteam, das verstörte Illegale behandelt. Wie viele Tabletten wird man noch verkaufen, bis entdeckt wird, dass man das Odysseus-Syndrom nicht mit Medikamenten heilen kann? Wie viele Jahre werden vergehen, bis man weiß, dass der Druck auf der Brust nichts anderes ist als saudade, ein wenig Nostalgie, ein Überschuss an schwarzer Galle?

Zacatecas
Ich kenne jemanden, der darauf besteht, dass die einzig richtige spanische Übersetzung von saudade »tiricia« ist. Ich habe überall nach der Definition von tiricia gesucht. Im Internet gab es ein paar:
a) Dentera (ein unangenehmes Gefühl an Zähnen und Zahnfleisch beim Genuss saurer Speisen oder beim Hören bestimmter unangenehmer Geräusche).
b) Ictericia (Ikterus), Gelbsucht, die sich als Gelbfärbung der Haut und der Schleimhäute äußert und auf eine Anhäufung des Gallenfarbstoffs Bilirubin im Blut zurückgeht.
c) In El Salvador bezeichnet tiricia Trägheit, Nachlässigkeit und schlechte Laune.
d) Kindliche Depression

Plaza Luis Cabrera
Es gibt weder nostalgische Kinder noch welche mit saudade, aber sehr wohl solche, die melancholisch sind oder an tiricia leiden. Als man mir, ich war damals sechs, sagte, man könne China erreichen, wenn man einen Tunnel grübe, meinte ich, das tun zu müssen, um meiner Familie die Flugtickets zu ersparen. Wir lebten in Mittelamerika, und wenn jemand es bis China geschafft hatte, dann könnte ich doch bis Mexiko gelangen. Ich fragte meinen Vater, in welcher Richtung genau Mexiko-Stadt liege, und er zeichnete mir eine Karte auf. In einer Ecke des Gartens begann ich, einen Tunnel zu graben.
Das Tunnelprojekt beschäftigte mich mehrere Wochen, bis ich mich zu langweilen begann. Ich war schon drauf und dran, ein beträchtlich tiefes Loch aufzugeben, als ich plötzlich auf harten Grund stieß: eine Schatzkiste. Ich grub weitere drei Vormittage um die harte Fläche herum und vergaß dabei völlig den ursprünglichen Plan.
Mehrere Tage lang war ich auf Schatzsuche. Ich buddelte im ganzen Garten Löcher, fand aber nicht mehr als ein paar Regenwürmer und den Deckel der Wasserbohrung für das Haus. Meine Eltern wurden natürlich irgendwann ungeduldig und zwangen mich, meine Grabungen zu beenden. Ich gehorchte, meinte aber, man müsse die Löcher irgendwie nutzen und in jedem von ihnen etwas vergraben. In dem einen vergrub ich ein paar Murmeln, in dem anderen eine Spielzeugeisenbahn, in einem weiteren einen grässlichen Briefbeschwerer mit einer verschneiten Landschaft. In das Hauptloch, das vom falschen Schatz, legte ich die Karte, die mir mein Vater aufgezeichnet hatte. Und dachte mir, dass irgendein Kind in der Zukunft – das zufälligerweise auch Mexikaner wäre und in eben diesem Haus wohnte – die Geschichte der Löcher rekonstruieren könnte. Es würde sich modernerer Werkzeuge bedienen, die Karte finden und mich in Mexiko besuchen. Und wenn darüber zu viele Jahre vergangen wären, so hätte mein Aufenthalt hier zumindest eine Spur hinterlassen. Von dem Augenblick an hörte der Garten auf, eine Einladung zur Rückkehr nach Mexiko zu sein, und verwandelte sich in ein Versprechen auf die Funde jenes künftigen Kindes: So wurde ich die ­tiricia mit ein wenig Erde los.

Orizaba
Gemeinplätze: Die saudade hat man wie ein Spielzeug. Sie ist eine perfekte Murmel, rund und unendlich. Sie ist eine Monade auf einer Handfläche; ein Briefbeschwerer, der eine beschneite Miniaturlandschaft einschließt. Sau­dade ist saudade ist saudade. Sie kreist um eine leere Mitte: eine Spielzeugeisenbahn.
Genussreich und schmerzvoll zugleich, sind die saudades der Schorf an den Knien, den wir abkratzten, bis Blut kam; der Zahn, an dem wir mit der Zunge wackelten, bis er nachgab; die Poren der nackten Haut, die sich bei dem zu heißen Wasser in der Badewanne öffneten.
Saudade ist die Präsenz einer Abwesenheit: ein Stich in einem nicht vorhandenen Körperteil; eine Erdspalte in Iztapalapa; Flüsse und Seen in Mexiko-Stadt; ein Loch in einem Garten.

Querétaro
Die Weisheit des englischen Kritikers Cyril Connolly (1903–1974): »Einbildungskraft = Sehnsucht nach der Vergangenheit, dem Abwesenden; sie ist das Lösungsbad, in dem die Kunst die Schnappschüsse der Wirklichkeit entwickelt.«
Wenn Nostalgie die Sehnsucht nach Vergangenem ist, kann sie sich auflösen, wenn die Erinnerung an das, was war, von der drückenden Gegenwart dessen, was ist, überblendet wird. So vertrieben die Blutegel den abstrakten Schmerz um den Heimatverlust durch den sehr konkreten Schmerz ihrer Bisse; das Opium schuf rauschhafte Szenarien, in denen die schon per se phantasmagorische Erinnerung an das Vergangene verblich.
Nicht immer jedoch ist Nostalgie Sehnsucht nach Vergangenem. Es gibt Orte, die schon im vorhinein Nostalgie in uns auslösen. Orte, die wir als verloren erkennen, sobald wir sie finden; Plätze, an denen wir uns glücklicher wissen, als wir jemals später sein werden. An solchen Orten spaltet die Seele sich wie in einem willentlichen Simulakrum, um die Gegenwart aus der Retrospektive wahrzunehmen. Wie ein Auge, dass sich selbst dabei zuschaut, wie es von einem Nachher aus schaut, das Auge betrachtet aus der Ferne seine Gegenwart und sehnt sich danach.

Jalapa
Die saudade schielt, sie schaut mit einem Auge nach vorne und mit dem anderen hinter sich. Wenn das rechte Auge sie dazu anhält, vorwärts zu schreiten, mahnt das Linke sie, zurück zu gehen. Deshalb bleibt die saudade immer reglos an ihrem Platz, die einzigen Spaziergänge, die ihr erlaubt sind, sind jene, bei denen die Seele um sich selbst kreist.
Nicht so die Nostalgie, deren beide Augen am Nacken sitzen, eigensinnig läuft sie nicht dorthin, wohin ihre Fußspitzen zeigen, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Zudem ist sie auf dem einen Auge kurzsichtig und auf dem anderen weitsichtig, sie verschätzt sich in den Entfernungen, holt das Ferne nah heran und umgekehrt. Sie leidet unter ihrer Lichtempfindlichkeit, fühlt sich nur bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang wohl und erträgt das Mittagslicht nicht.

Tabasco
In Madrid, am Ufer des Río Manzanares, »dieser flüssigen Ironie«, laut Ortega y Gasset, läuft wie ein Pleonasmus der melancholische Paseo de los Melancólicos entlang. Auf der einen Seite steht eine lange Reihe grauer Gebäude, eines wie das andere, auf der anderen verläuft eine Betonmauer; hinter ihr, nur ein paar Schritte entfernt, hat man sich den Versuch eines Flusses vorzustellen. In diesem Abschnitt seines Betts, in dem das Wasser an schwarze Galle erinnert, ist der Manzanares belüftet. Vermutlich weiß keiner, wozu diese riesigen Industrieschlote dienen, die wie aus einer alten Fabrik herausragen. In manchen Winternächten aber dringt aus ihnen ein Wimmern wie von Walen und ein übelriechender Dampf, der sich wie eine atemraubende Decke auf den Paseo de los Melancólicos legt.

Jardín Pushkin
Pessoa steht am Fenster seiner kleinen Mansarde im vierten Stock eines Gebäudes in der Baixa: »Will ich zu meiner Seele hinabsteigen, bleibe ich plötzlich selbstvergessen am Anfang der steilen Wendeltreppe stehe und sehe von der Höhe meiner Wohnung die Sonne, wie sie zum Abschied fahlrot den konfusen Haufen von Ziegeldächern netzt.« Ginge er die Treppe hinunter zur Straße, würde er diese vielleicht überqueren, um ein frisches Päckchen Tabak zu kaufen; am Eingang stieße er auf Esteves, der ihn lässig grüßen würde; doch wie immer schlecht vorbereitet auf spontane Treffen, könnte Pessoa ihm nicht in die Augen schauen. Wenn er beim Verlassen des Ladens die Rua dos Douradores bis zur Travessa do Almada hinunterliefe, käme er an dem Büro vorbei, wo ihn sein Chef pünktlich um halb neun am nächsten Morgen erwarten würde. Bei einem kurzen Aufenthalt im Restaurant, das heute seinen Namen trägt, würde er Bernardo Soares sehen, mit dem er ein Glas Wein und eine Sopa Verde zu sich nähme. Ginge er die Straße weiter bis zur Rua do São Mamede, würde er die Treppen zu São Crispim hochsteigen und nach ein paar Metern zur Rua da Saudade kommen. Dort, an einen Balkon gelehnt, könnte er eins seiner Heteronyme entdecken: einen melancholischen Südafrikaner aus Kapstadt, Professor für eng­lische Literatur, ein Fachmann in den Mysterien des jambischen Pentameters. Pessoa aber entfernt sich nicht vom Fenster:

Ich rufe mich selbst an und finde nichts.
Ich trete ans Fenster und sehe die Straße in völliger Klarheit.
Ich sehe die Läden, die Bürgersteige, vorüberfahrende Wagen
Ich sehe lebendige und bekleidete Wesen aneinander vorbeigehn.
Ich sehe die Hunde, die ebenfalls leben.
All dies lastet auf mir wie ein Verbannungsurteil.
All dies ist Fremde für mich, alles andere auch.

Mérida
Es gibt einen Paseo de los Melancólicos in Madrid und eine Rua da Saudade in Lissabon. Nirgends aber gibt es – zum Glück, denn das wäre nur geschmacklos – eine Straße der Nostalgiker.
Ich verlasse die Librería del Tesoro und überquere die Straße. Nostalgie, tiricia. Ich lege den Beutel mit den Büchern in den Fahrradkorb, wische den Sitz mit dem Ärmel trocken und nehme das Schloss ab.
»Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt«, schrieb Wittgenstein. Das Gleiche gilt für die Wörter, die sich dem Verstehen entziehen. Vielleicht werde ich eines Tages das Wort saudade verstehen, dann werden diese Spazierfahrten mit dem Rad durch das Viertel der Hintergrund sein, vor dem es zu seinem Sinn gekommen ist: die Straßen, die rissigen Bürgersteige, die leprösen Mauern, die konkrete Traurigkeit.
Eine Straße, ein Gehsteig: der Punkt und die Brücke, wo die Phantasie ansetzt. Ich steige auf das Rad und lege denselben Weg wieder zurück nach Hause. Manchmal auf der Straße, manchmal auf dem Gehweg.

Die Überschriften beziehen sich auf die Straßen und Plätze im Viertel Colonia Roma in Mexiko-Stadt und zeichnen die auf dem Fahrrad zurückgelegte Strecke zum Buchladen nach.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: ­Valeria Luiselli: Falsche Papiere. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Nora Haller. Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 126 Seiten, 16,96 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.