Die neue tunesische Verfassung

Das Heilige und der Staat

Gut drei Jahre nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Ben Ali hat Tunesien eine neue Verfassung und eine neue technokratische Regierung, die Neuwahlen vorbereiten soll.

Ende gut, alles gut? Am 26. Januar, rund drei Jahre nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali, verabschiedete die verfassunggebende Versammlung (ANC) mit einer überwältigenden Mehrheit – 200 von insgesamt 216 Stimmen – eine neue Verfassung für Tunesien. International wurde applaudiert, einen »Meilenstein der Geschichte« sah der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erreicht, von einem »historischen Tag« sprach Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments. Regierungen in aller Welt gratulierten den tunesischen Politikern zu den vermeintlich vorbildlichen Fortschritten bei der Demokratisierung.
Allein, der Weg bis zur Ratifizierung der Verfassung war steinig. Ursprünglich sollte sie binnen eines Jahres nach den ersten demokratischen Wahlen in Tunesien im Oktober 2011 fertiggestellt werden, doch die politische Polarisierung zwischen der die Regierung und den ANC dominierenden islamistischen Partei al-Nahda und der eher säkularen Opposition verhinderte das. Im vergangenen Jahr kam es zu einer Zuspitzung der Situation, als zwei linke Oppositionspolitiker, beide scharfe Kritiker der Islamisten, erschossen wurden. Nach dem Mord an Chokri Belaïd im Februar wurden die Islamisten gezwungen, die Schlüsselministerien, insbesondere das Innenministerium, an als unabhängig geltende Politiker abzugeben. Nach dem Mord an Mohammed Brahmi Ende Juli kam es erneut zu Unruhen, der gesamte politische Übergangsprozess geriet ins Stocken, da die Opposition die Sitzungen der verfassunggebenden Versammlung boykottierte. Unter diesem Druck und unter Vermittlung des sogenannten Quartetts, das sich aus dem mächtigen Gewerkschaftsdachverband UGTT, dem Unternehmerverband, der Menschenrechtsliga und der Anwaltsvereinigung zusammensetzte, gab al-Nahda nach und versprach, von der Regierung zurückzutreten, sobald die Krise gelöst und eine neue Verfassung verabschiedet sei. Doch ihr Rückzug aus der Regierung nahm weitere fünf Monate in Anspruch, bis vorige Woche nach der Ratifizierug der Verfassung endlich ein neues Kabinett vereidigt wurde, das der neue Ministerpräsident Mehdi Jomaâ zusammengestellt hatte. Dieser wurde als Konsenskandidat verkauft, obwohl sich um seine plötzliche Nominierung allerlei Rätsel ranken.
Diese neue Regierung wurde als eine »technokratische« von »neutralen« Ministern und Ministerinnen geplant. Doch der Vorsitzende von al-Nahda, Rachid Ghannouchi, hatte bereits vor gut drei Wochen in einem Fernsehinterview klargestellt: »Wir geben die Regierung auf, aber nicht die Macht.« Al-Nahda bleibt weiterhin stärkste Kraft in der verfassunggebenden Versammlung, die auch als eine Art Übergangsparlament fungiert und, so befürchten Oppositionelle, Druck auf die Regierung ausüben könnte. Das neue Kabinett besteht aus 28 Ministern, darunter lediglich drei Frauen. »Wie immer in Fällen politischer Kandidatur wird die Expertise von Frauen übersehen«, kommentierte Amsel Beladen, die Präsidentin der Vereinigung demokratischer Frauen in Tunesien.
Außerdem konnte al-Nahda den Innenminister Lotfi Ben Jeddou im Amt halten, der wegen der ungenügenden Aufklärung der Morde an Chokri Belaïd und Mohammed Brahmi kritisiert wird; insbesondere die Auftraggeber der Attentate wurden auch unter Ben Jeddou nicht ermittelt. »Nach seiner Nominierung hatte er gesagt, der Mord an Chokri Belaïd sei ›seine‹ Sache«, kritisierte Basma Khalfaoui, die Witwe Belaïds, in einem am Montag veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitschrift Jeune Afrique. »Ein Jahr später hat er nicht nur nichts gemacht, wir haben auch erfahren, dass das Ministerium (des Innern, Anm. d. Red.) Herzstücke aus diesem Dossier verborgen hatte. Vielleicht war er unter Druck und konnte keine ernsthaften Fortschritte in der Ermittlung ankündigen. Aber wir, wir wollen die Wahrheit wissen.«
Wie lange die neue Übergangsregierung im Amt bleiben wird, hängt davon ab, wann Neuwahlen stattfinden werden. Nach dem derzeitigen Plan soll dies weitere neun Monate in Anspruch nehmen.

Die politische Polarisierung zwischen Islamisten und Opposition spiegelt sich auch in der neuen Verfassung. Grundsätzlich lässt sie dem Staat einerseits großen Spielraum in der Interpretation der einzelnen Artikel und schützt die Rechte von Minderheiten zu wenig, zudem bleibt die Todesstrafe, vor allem auf Druck der Islamisten, weiterhin rechtmäßig.
Auch wenn die Sharia keine ausdrückliche Erwähnung in der Verfassung findet, bedeutet dies nicht automatisch, dass die zweite tunesische Republik ein säkularer Staat sein wird. Die Verfassung ist im Namen Gottes verfasst, in Artikel 1 heißt es: »Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, der Islam ist seine Religion«, während in Artikel 2 der »zivile Charakter« des Staats festgeschrieben ist.

Eine weitere Krux liegt in Artikel 6, der im Januar eine lange Diskussion im ANC ausgelöst hatte. Der erste Teil des Artikels legt fest, dass der Staat die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Doch nachdem ein Hardliner von al-Nahda, Habib Ellouze, einen linken Abgeordneten als »Feind des Islam« bezeichnet hatte, was in Theokratien wie dem Iran einem Todesurteil gleichkäme, ließ die Versammlung einen Zusatz zu dem Artikel hinzufügen, der es verbietet, jemanden als »Feind des Islam« zu bezeichnen. Al-Nahda sah in der Diskussion eine Chance, mit dem Verweis auf »Ausgewogenheit« in der Verfassung den Artikel zu erweitern, so dass dort nun zu lesen ist: »Der Staat setzt sich dafür ein, (...) den Schutz von Heiligtümern zu garantieren und Angriffe auf sie zu verhindern (…).« Was als Artikel zum Schutz von Menschenrechten begann, endete als eine Möglichkeit für den Staat, die freie Meinungsäußerung zu beschneiden und Religionskritik zu verbieten. Nicht ausgeschlossen, dass man in Zukunft von mehr Fällen wie dem des Bloggers Jabeur Mejri hören wird, der im Frühjahr 2012 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und immer noch im Gefängnis sitzt, weil er auf Facebook Karikaturen Mohammeds gepostet hatte. Des Weiterenen muss auch der zukünftige Staatspräsident gemäß der neuen Verfassung ein Muslim sein, was ebenfalls im Widerspruch zur Glaubensfreiheit steht.
Auch Artikel 38 über die Schulbildung ist problematisch; dort heißt es unter anderem: »Der Staat garantiert das Recht auf freie, öffentliche Bildung in jeder Altersstufe und achtet darauf, die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen, um eine hohe Qualität von Bildung und Ausbildung zu garantieren. Der Staat achtet auch darauf, die arabisch-islamische Identität in den jungen Generationen Wurzeln schlagen zu lassen (enraciner).« Durch den Artikel sei es für den Bildungsminister ein Leichtes, geschlechtergetrennte Schulklassen einzuführen, so Yadh Ben Achour, renommierter tunesischer Verfassungsrechtler und Mitglied des Menschenrechtskomitees der Vereinten Nationen. »Derselbe Minister könnte auch eine islamische Schulkleiderordnung einführen«, sagte er im tunesischen Fernsehen.
Im Hinblick auf die Frauenrechte regelt Artikel 21 die Gleichheit der »Bürger und Bürgerinnen« vor dem Gesetz, aber die Diskriminierung der Frauen im tunesischen Erbrecht wird nicht angetastet. Tunesische Frauenorganisationen befürchten außerdem, dass das in Artikel 22 festgeschriebene »heilige Recht auf Leben« dazu genutzt werden könnte, die Fristenregelung für Schwangerschaftsabbrüche abzuschaffen.
In Tunesien stehen homosexuelle Praktiken unter strengen Strafen. Drei Jahre Gefängnis droht das Strafgesetzbuch für gleichgeschlechtlichen Sex an. Die neue Verfassung beinhaltet keinen Artikel, der ausdrücklich die Diskriminierung von Minderheiten jedweder Art untersagt. Hingegen ist in Artikel 7 festgeschrieben, dass »die Familie als Grundstruktur der Gesellschaft« dient und vom Staat geschützt werden soll. Das könnte weiterhin zur Legitimierung der homophoben Gesetzgebung dienen. Auch wird Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft in der Verfassung nicht ausdrücklich verboten.
Ansonsten heißt es in der Präambel nunmehr, man erlasse die Verfassung unter anderem »für die gerechten Befreiungsbewegungen, und an erster Stelle die palästinensische Befreiungsbewegung, und um gegen alle Formen der Diskriminierung und der Rassismen zu kämpfen« – eine im Vergleich zu früheren Fassungen der Präambel abgeschwächte Form des Antizionismus.
Auf institutioneller Ebene war die Frage, was aus dem autoritären Präsidialsystem werden würde, das die tunesische Republik bereits unter Staatsgründer Habib Bourguiba, mehr noch unter Ben Ali prägte. Wegen ihrer starken Stellung im ANC trat al-Nahda für ein parlamentarisches System ein, die Opposition eher für eine Mischung aus parlamentarischem und präsidialem System. Das den Islamisten günstige Kräfteverhältnis im ANC sorgte dafür, dass ein abgeschwächtes parlamentarisches System in der Verfassung festgeschrieben wurde: Der Staatspräsident wird direkt gewählt, kann unter bestimmen Bedingungen das Parlament auflösen, verfügt aber im Vergleich zum Regierungschef über geringe Befugnisse; dieser ist nur dem Parlament verantwortlich.

Wie ist die neue Verfassung zu bewerten? Der tunesische Politologieprofessor Hatem M’rad beschreibt sie als eine Verfassung der »friedlichen Koexistenz«, die das Zusammenleben der beiden einander entgegenstehenden, »ideologisch unnachgiebigen« Lager erlaube, der Islamisten und der modernistischen Laizisten. An Lücken und Schwachstellen fehle es der Verfassung nicht. Man habe den Eindruck, »dass die Verfassung, während sie Prinzipien für den Bürger darlegt, nicht weniger an den Gläubigen denkt, der auf der Skala der Werte der Islamisten den Vorrang haben muss«. Alles weitere jedenfalls ist Sache der künftigen politischen und sozialen Konflikte.