Gewalt und Chauvinismus in der indischen Gesellschaft

»Habt Spaß mit ihr«

Massenvergewaltigungen als Strafmaßnahmen, Verbrennungen von jungen Mädchen, sexuelle Belästigung und Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln und am Arbeitsplatz – in Indien hat Gewalt gegen Frauen entsetzliche Ausmaße angenommen und ist nicht nur ein Problem der indigenen und Landbevölkerung. Sie kann nicht allein auf das Kastensystem zurückgeführt werden, denn Chauvinismus durchzieht die gesamte Gesellschaft.

Das revidierte Urteil des Dorfältesten fiel kurz vor Mitternacht am 20. Januar. Die Angeklagte, eine 20jährige Frau aus dem Dorf mit knapp 400 Einwohnern in Westbengalen, war angeklagt, »Schande über das Dorf gebracht zu haben«. Ihr angeb­liches Vergehen: eine Liebesbeziehung zu einem muslimischen Mann aus einem Nachbardorf. »Wir erlauben keine muslimischen Männer in unserem Dorf«, erläutert eine Bewohnerin des Birbhum-Distrikts Tage später der Times of India. Zuerst verurteilte das Dorfgericht die Angeklagte und den Mann aus dem nahe gelegenen Dorf zu einer Geldstrafe. Der Mann bezahlte, aber die Familie der Frau konnte den geforderten Betrag nicht aufbringen und so wandelte der Dorfälteste das Urteil um. »Habt Spaß mit ihr«, zitiert ein anonymer Zeuge das Verdikt in einem Interview mit der Tageszeitung The Hindu. Die junge Frau wurde in eine Hütte geschleppt und über sechs Stunden lang von Männern der Gemeinde vergewaltigt, umringt von einem Mob von über 200 Menschen. Unter den Vergewaltigern soll auch der Dorfälteste gewesen sein, der das Urteil sprach.
Nachdem das Opfer Anzeige erstattet und die Polizei einige mutmaßliche Täter festgenommen hatte, meldeten sich immer mehr Frauen der Gemeinde zu Wort, doch nicht, um die junge Frau zu verteidigen. »Unser Dorfältester ist wie ein Vater«, wurde etwa Mollika Todo, deren Ehemann wegen der Vergewaltigung angeklagt ist, von den Medien zitiert. Die Mehrheit der Männer und Frauen der Gemeinde fasst den Verstoß gegen die Dorfregeln als den Affront auf, nicht die punitive Massenvergewaltigung.
Einen Monat zuvor und 200 Kilometer südlich des Dorfes verstarb ein zwölfjähriges Mädchen an den Folgen von Verbrennungen in einem Krankenhaus in Kalkutta. Ob es sich um Mord oder Suizid handelt, untersucht derzeit die Polizei. Fest steht, dass das Mädchen im Oktober vergangenen Jahres in der Nähe ihres Hauses von sechs Männern verschleppt und vergewaltigt wurde. Am nächsten Tag wurde sie abermals von einer Gruppe Männer abgefangen, als sie von der Polizeistation zurückkehrte, und erneut vergewaltigt. Ihre Eltern machen die Polizei und das Gesundheitssystem für den Tod ihrer Tochter mitverantwortlich. »Wäre sie rechtzeitig behandelt worden, wäre sie noch am Leben. Sie haben sich nicht ausreichend um sie gekümmert.«, sagt die Mutter. Der Vater ist Taxifahrer, die Familie gehört zu einer der untersten Kasten in Westbengalen.
Bei den Protesten nach dem Tod der Zwölfjährigen in Kalkutta machten linke Gruppen das Kastensystem in Indien für sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen verantwortlich. Zahlreiche Kommentare in indischen Medien sehen das Hauptproblem in den informellen Dorfgerichten, den khap panchayats, die in vielen Gemeinden weitaus größere Legitimität haben als das staatliche Gewaltmonopol. Mehr als 800 Millionen Menschen leben in ländlichen Gebieten in Indien, in denen die Dorfältesten bestimmen, wie Ehen arrangiert und Felder verteilt werden. Vor allem bestimmen diese Institutionen auch, wie sich Frauen und Mädchen zu kleiden und zu verhalten haben. Das staatliche Gewaltmonopol ist in vielen Gemeinden kaum durchgesetzt, die Dorfgerichte diktieren die Gesetze. Meist bekräftigen diese Institutionen das Kastensystem und religiös legitimierte Diskriminierung.

Doch sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Indien ist weder ausschließlich ein Problem der indigenen oder der Landbevölkerung noch ist sie allein auf das Kastensystem zurückzuführen. Ergebnissen des National Family Health Surveys von 2013 zufolge berichten 37 Prozent aller verheirateten indischen Frauen von sexuellem und physischem Missbrauch durch ihre Ehemänner. Im Jahr 2012 wurden in Indien 24 923 Vergewaltigungsfälle in der offiziellen Statistik verzeichnet. In 24 470 Fällen war entweder der Vergewaltiger oder ein Mittäter dem Opfer persönlich bekannt. Das regional höchst unterschiedliche Kastensystem in Indien und die ausgeprägten hierarchischen Strukturen begünstigen sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die in der gesellschaft­lichen Ordnung auf einer niedrigeren Stufe stehen. Doch chauvinistische Normen und Rollenverständnisse ziehen sich durch alle Gesellschaftsschichten. Ergebnissen des International Men and Gender Equality Survey zufolge sind 68 Prozent der befragten Männer der Meinung, dass Frauen häusliche Gewalt ertragen sollten, um die Familie zusammenzuhalten. 37 Prozent gaben an, ihre Partnerin mindestens einmal körperlich angegriffen zu haben, und 20 Prozent gaben zu, Frauen sexuell misshandelt zu haben.
Eine Studie von Unicef kommt zu dem Ergebnis, dass 51 Prozent der indischen Männer und 54 Prozent indischer Frauen Gewalt gegen Frauen nicht ablehnen und auch 52 Prozent indischer Teenager körperliche Gewalt in der Ehe in bestimmten Situationen als gerechtfertigt ansehen.
»Vergewaltigungen passieren auch aufgrund der Kleiderwahl von Frauen, deren Verhaltens und deren Präsenz an Orten, die nicht für Frauen geeignet sind«, kommentierte am Dienstag vergangener Woche Asha Mirje, hochrangiges Mitglied der National Indian Congress Party im Bundesstaat Maharashtra, die Vergewaltigung der 23jährigen Jyoti Singh Pandey in Delhi im Dezember 2012, die landesweit Proteste auslöste. Inzwischen hat sich die Politikerin zwar entschuldigt, aber nicht von ihren Äußerungen distanziert. »Jedes Mal, wenn eine Person des öffentlichen Lebens derartige Äußerungen macht, wird Vergewaltigung legitimiert«, sagt Kavita Krishnan, Sprecherin der All India Progressive Women’s Organisation zu den Kommentaren der Congress-Politikerin.

Nach der Gruppenvergewaltigung in Delhi entstand eine für indische Verhältnisse breite Protestbewegung. Frauen und Männer aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und mit unterschiedlichen politischen Ansichten protestierten monatelang in Delhi und Mumbai gegen sexuelle Gewalt. Der daraufhin entstandene Diskurs stellte für viele Aktvistinnen und Aktivisten eine Zäsur dar. Zum ersten Mal seit Jahren wurde das Thema öffentlich diskutiert und noch Monate nach der Tat fanden sich zahlreiche Artikel und Kommentare in den Medien aller indischen Bundesstaaten. Der Staat sah sich zum Handeln gedrängt. Die Regierung von Manmohan Singh verschärfte die Gesetze und richtete spezielle Verfahrenswege ein, um Täter schneller bestrafen zu können. Indische Massenmedien berichteten über die Angriffe und die Diskriminierungen, denen sich Frauen aus allen Schichten ausgesetzt sehen. In zahlreichen Artikeln und Radiobeiträgen sprachen Inderinnen über tägliche Übergriffe, vor allem durch Männer, die sie in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße antatschen, was meist verniedlichend als eve teasing dargestellt wird. Opfer sexueller Gewalt berichteten von der Ignoranz der Polizei, der erniedrigenden Behandlung durch Staatsbeamte und dem Unwillen der Justiz, die Täter zu verurteilen. »Während sich die Gesetzeslage für Frauen in den vergangenen 20 Jahren verbessert hat, sind diejenigen, die Gesetze durchsetzen, weiterhin zum Großteil männliche Polizisten und Justizbeamte, die in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft leben«, sagte Ruchira Gupta, Journalistin und Aktivistin, in einem Interview mit CNN. »Die größte Herausforderung sind die Einstellungen der Politiker, der Entscheidungsträger in Ministerien und der Leiter staatlicher Stellen, die Vergewaltigungen als normalen Teil unserer Gesellschaft sehen. Viele sagten mir: Männer sind eben Männer«, so Gupta.

Ein Jahr nach den großen Protesten und der Gesetzesverschärfung bilanziert Human Rights Watch, dass der indische Staat deutlich zu wenig unternommen hat, um den Gesetzen Geltung zu verschaffen. Vergewaltigungen in der Ehe wurden indes nicht in die Gesetzesrevision aufgenommen und unter Strafe gestellt. Auch für viele feministische Organisationen in Indien ging das vergangene Jahr mit Resignation zu Ende. »Niemand von uns langjährigen Aktivistinnen glaubt, dass sich diese patriarchale Gesellschaft von heute auf morgen ändert«, sagte Preeti Rao der Jungle World. Sie arbeitet in Delhi als Ärztin, ist in mehreren Frauenorganisationen aktiv und organisierte zahlreiche Proteste. »Doch ich hatte gehofft, dass sich immerhin die Einstellung einiger Politiker ändert und von oben ein Impuls für einen Kurswechsel kommt. Doch nach wie vor werden Frauen für sexuelle Gewalt verantwortlich gemacht.«