Die Berlinale im Überblick

Kino der Extremitäten

Keine Struktur ist auch eine Struktur: Die Berlinale betreibt in diesem Jahr eine Phänomenologie des grenzenüberschreitenden Filmschaffens.

Das Kino ächzt ganz schön unter seinem Inhalt. Erstens mal sind die Kinokarten immer so teuer, zweitens bieten die Filme nicht allzu viel. Gerade im mehr oder weniger die Trends setzenden Hollywood-Kino hat sich durchgesetzt, gar keine Geschichten mehr zu erzählen. »Hobbit 3D«, »Robocop«, »Transformers soundsoviel« – vielleicht kommt diese Entwicklung den von Youtube getunten Augen jüngerer Zuschauer entgegen. Ansehnlich ist der ganze Kram schon lange nicht mehr.
Wie schön, dass es Filmfestivals gibt. Dort laufen die Werke, die ansonsten einen Bogen um das Publikum machen. Die Jahresmesse für den Film abseits des Mainstream ist wie immer die Berlinale, die in diesem Jahr zum mittlerweile 64. Mal stattfindet – und nicht zum 664. Mal, wie die Tageszeitung berichtete. Ein lustiger Tippfehler.
Bei der Berlinale geht es nicht ausschließlich um Filme. Während der Vorstellung des Programms posiert der Festivalleiter Dieter Kosslick mit dem neuen Teddy. Und bedankt sich im Anschluss direkt bei den Sponsoren. Ja, dieses Jahr fahren wir Audi.
Es gibt auch immer einen – ähem – Witz. Dieses Mal geht er so: »Ja, er kommt. Ja, George Clooney kommt. Das ist dann der G-Spot, sozusagen.« Ob der alte Mann mit seinem Film »Monuments Men« tatsächlich die Kinosäle zum Schreien bringen wird, sei dahingestellt. In »Monuments Men« geht es um eine Sondereinheit, die während des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten damit beauftragt wird, von Nationalsozialisten geraubte Kunstwerke vor der Zerstörung zu bewahren. Weil Filme dieser Art ihr Geld in den USA allein nicht einspielen, bewerben die Darsteller sie auch gern in Europa. Das Festival rühmt sich in so einem Fall seiner exzellenten Kontakte.
Promis, Superpromis und Berlinale, das funktioniert so: Nach einer Pressekonferenz verlassen die VIPs das Festivalzentrum durch einen Seitenausgang, um in den  – ist tatsächlich in diesem Jahr so – bereitstehenden Audi zu steigen. Währenddessen wird geknipst. Wenn Clooney eine Viertelstunde später bei Rossmann eine Zahnbürste kauft, interessiert das noch am meisten die Zahnbürste. Berliner sind da extrem cool. Es geht ums Blitzlichtgewitter, ansonsten um nichts.
Eher Ausnahmefälle sind Festivaljahrgänge, in denen es eine irgendwie geartete Programmstruktur gibt. Das war vor zwei Jahren der Fall, als die arabische Revolution entsprechende Themen vorgab. Sollte es trotzdem einen roten Faden geben: Der Berlinale-Film erzählt jedweden Stoff gern als Beziehungsgeschichte.
409 Filme werden in zehn Tagen gezeigt. Der Leiter des »Forums«, Christoph Terhechte, bezeichnet sein Programm als grenzensprengend und betont: »Filme werden nach künstlerischer Qualität ausgesucht, nicht nach Thema.« Aha. Als langjähriger Festivalbesucher könnte man jedoch durchaus mal den Eindruck gewinnen, das Programm werde nach einem Länderschlüssel gestaltet – oder der ein oder andere Regisseur sei festangestellt.
Na dann, einige Berlinale-Beiträge sind tatsächlich grenzverletzend. Zu allererst natürlich Lars von Triers »Nymphomaniac« (DK 2013): Crazy Regisseur überredet prominente Schauspieler zum angedeuteten Sexkino der Extremitäten!
Extremitäten, die im Umkreis von zehn Metern verstreut liegen, zeigt »Concerning Violence« (SWE/USA/DNK/FIN 2014): Afrikanischen Befreiungsbewegungen wird bei ihrer Dekolonisations­arbeit und ihren Besatzern bei Massakern zugesehen. Die Bilder der Leichenteile kommentiert Lauryn Hill, die Sängerin von The Fugees, mit Texten von Frantz Fanon. Hier geht’s richtig schlimm zu.
»Anders« krass ist ein Film mit Sascha Anderson – der Mauerfall jährt sich 2014 bekanntlich zum 25. Mal. Den schillernden Dichter, den der noch schillerndere Sänger Wolf Biermann mal »Sascha Arschloch« – sowas bleibt hängen – genannt hat, weil er de facto die ganze DDR-Kulturbevölkerung an die Stasi verraten habe, kann man in dem schönen Dokumentarfilm »Anderson« begutachten, in dem der einstmalige »Prinz vom Prenzlauer Berg«, wie sollte es anders sein, das IM-Engagement auf den in der Jugend angelesenen Antifaschismus zurückführt. Er habe so viele Bücher über die ruhmreiche Rote Armee gelesen, heißt es. Na, das ist doch mal ein Motiv! Ansonsten wurde das Mauerthema leider im Programm der Berlinale vergessen.
Im Wettbewerb geht »Praia do Futuro« (BRA/DEU 2013) auf Bärenjagd: Südamerikas Regie-Star Karim Aïnouz hat den wahrscheinlich ersten deutschen Film mit brasilianischem Geld gedreht. In der Hauptrolle Wagner Moura, der Capitao Nascimento aus »Tropa de Elite« (BRA 2007), dem Berlinale-Gewinner 2008. Hoffentlich kein Hindernis!
»Papilio Buddha« (IND/US 2013) verbindet Religionsstreit, Homosexualität und Massenvergewaltigung in Indien. Besser wär’s gewesen, drei Filme daraus zu machen. Die geduldigste Fleißarbeit liefert der Film »Through A Lens Darkly: Black Photographers and the Emergence of a People« (US 2014): 150 Jahre afroamerikanische Fotografie in den USA. Das erste Bild stammt aus dem Jahr 1860. Eine Dokumentation, die zu den besten gehört. Der Regisseur findet eine Kiste Familienfotos auf dem Speicher und filmt sich anschließend dabei, wie er seine Eltern fragt, wer darauf zu sehen ist. Siehe da: Großvater war Hobbyfotograf. Und dessen Großvater kämpfte gegen die Unterdrückung an, indem er sich eine Kamera kaufte und sich 160 Mal selbst fotografierte. Womit er zu den meistfotografierten US-Bürgern der Jahrhundertwende gehörte. Der Film ist zum Mitheulen – vor allem wenn es um die dreißiger Jahre in den Südstaaten geht. Fröhliche weiße Arbeitergesichter überall, während man den aufgehängten Schwarzen anzündet. Auch ein Thema der Fotografie: Lynchmob-Pictures. Ganze Wanderausstellungen wurden damit herumgeschickt.
Für manchen richtig extrem ist auch die Vergabe des Ehrenbären. Für den Journalisten zum Beispiel, der in der Pressekonferenz fragte, wo in diesem Jahr der israelische Film geblieben sei. Es gibt nur einen, und der handelt von Heinrich Himmler: »Der Anständige« (ISR 2014). Besagter Ehrenbär geht an den Regisseur Ken Loach, und der, das fällt nicht nur der Jüdischen Allgemeinen dieser Tage auf, boykottiert gern israelische Waren und animiert auch andere Menschen dazu. Gute Wahl, sagt der Autor der Wochenzeitung. Als Regisseur von Armendramen und Milieustudien habe der Altmeister des sozialen Kinos allemal Preise verdient. Der Kommentator stört sich aber an Loachs politischer Einstellung – und auch an der Einstellung der Festivalverantwortlichen dazu. »Kosslick lobt explizit den ›Menschen‹ Loach. Und der hat vor allem mit einer drastischen Anti-Israel-Haltung Aufsehen erregt. Loach gehört zu den prononciertesten Israel-Boykotteuren.« So lehne er etwa die Teilnahme an jedem Filmfestival ab, das »von der israelischen Regierung finanziert« werde. Zu einer Studie über die Zunahme antisemitischer Einstellungen habe Loach gesagt, dies sei doch verständlich angesichts der Politik Israels. Man ehre mit Loach einen Filmer, der in seinen Werken »oft humorvoll gesellschaftliche Missstände widerspiegelt«, sagt Festivalleiter Kosslick. Kann sein, dass die Berlinale ein Humorproblem bekommt. Wenn Loach seine Boykott-Forderungen zur Danksagung noch einmal aufbereitet. Das wäre dann der L-Spot, sozusagen.