Literatur und Gesellschaft in Deutschland

Raus aus der Oberschicht

Die deutsche Literatur ist tatsächlich ein »Closed Shop«, doch sie muss es nicht sein.

Vor drei Wochen hat der Journalist Florian Kessler mit einem Beitrag in der Zeit einigen Aufruhr erregt. Er hatte darin behauptet, die zeitgenössische deutsche Literatur sei ein »Closed Shop«, betrieben von Besserverdienenden. Dort erhalte nur Zugang, wer ohnehin schon dazugehöre, und entsprechend brav und harmlos seien die Gegenstände dieser Literatur. Die Reaktionen waren vielfältig, in sozialen Netzwerken, privaten Korrespondenzen, Zeitungen und Journalen. Möglicherweise war all das nicht mehr als ein »Sturm im Latte-Macchiato-Glas«, wie ein Kommentator süffisant bemerkte – das ist deutschen Literaturdebatten nun mal so eigen –, aber er wehte schon recht heftig.
Die diversen Kommentare erwecken den Eindruck, dass hier durchaus ein Nerv getroffen wurde, zahlreiche Leserinnen und Leser, mithin die für die Beurteilung von Literatur eigentlich zuständige Klientel, machten ihrem Ärger über die Verblasenheit deutscher Gegenwartsromane Luft. Auch Autoren signalisierten Zustimmung.
Daran, dass die meisten deutschen Literaten, die im Betrieb reüssieren, der eher gut situierten Gesellschaft entstammen, lag die Entrüstung nur bedingt. Denn das ist in der Literatur und ihrer Geschichte nichts Neues. Noch stärker als in der Musik und in der bildenden Kunst setzen Produktion und Rezeption von Belletristik ein bestimmtes Bildungsniveau voraus, was impliziert, dass die Autorinnen und Autoren auch einen Zugang zur Bildung bekommen haben. Auf große Teile der Bevölkerung trifft das heute, wenngleich die Unterschiede weniger stark sind als vor 200 Jahren, immer noch nicht zu.
So wie es keine »Geschichte von unten« gibt, da sie bislang niemand aufzuzeichnen für nötig hielt, gibt es auch keine »Literatur von unten«, die schreibt nämlich niemand. Sicher existieren heute, im Zeitalter von Digitaldruck und E-Publishing, für jeden ausreichende Möglichkeiten, eigene Texte zu veröffentlichen. Dass dabei Rohdiamanten ganz ohne die Handreichung von Experten den Feinschliff verpasst bekommen, ist, wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch eher unwahrscheinlich. Eine gewisse Nähe zum literarischen Feld, Austausch mit anderen Autoren und Kritik sind wohl doch unerlässliche Voraussetzungen literarischer Qualität.
Bewegt man sich in diesem Kontext, ist man jedoch schon Teil der Sache, ob man will oder nicht. Die »Sache« besteht darin, dass jeder, der schreibt, auf den Markt angewiesen ist und dort auf vorgefertigte ästhetische Bedürfnisse, verbunden mit bestimmten Konventionen und Vorschriften, trifft. Auf dem literarischen Markt der Gegenwart herrscht der eigentümliche Widerspruch, das mit dem Anspruch auf handwerkliche Solidität und dem Einhalten eines vorgegebenen Kriterienkatalogs gleichzeitig auch Originalität eingefordert wird, oder besser: der Anschein von Originalität. Heute bedeutet das, sich in verschiedene thematische Marketing-Slots einzupassen, darunter Coming-of-Age-Geschichten, immer wieder das Thema Nationalsozialismus, inzwischen ergänzt um die DDR-Sozialisation, dazu der ewige Dauerbrenner: die Familienchronik – in stets neuen, hoch ungewöhnlichen Aufgüssen.
Die Stromlinienförmigkeit der Gegenwartsliteratur resultiert also aus Mentalität und Bewusstsein jener Akteure, die das heutige literarische Feld bestimmen. Aus dieser Prägung auszubrechen, ist nicht einfach, aber es ist möglich, wie die sogenannte »große Literatur« immer wieder beweist.
Der amerikanische Literaturagent Ira Silverberg sagt in einem Dokumentarfilm über William S. Burroughs (»A Man Within«, USA 2010) völlig zu Recht, dass die radikalsten Werke meist von Angehörigen der Oberschicht geschrieben würden, weil diese damit zu schockieren und ihrer Herkunft zu entkommen trachteten. Ein gutes Beispiel dafür war zuletzt David Foster Wallace. In Deutschland dagegen bleiben Autoren stets ihrer Herkunft verhaftet – oder es kommt so etwas heraus wie die hyperironischen Romane von Christian Kracht.
Manche mögen einwenden, eine solche Homogenität existiere in der deutschen Literatur gar nicht, diese sei sogar sehr vielgestaltig, es träten ja nun lauter Migranten auf den Plan, die ganz andere biographische Erfahrungen hätten. Nun ist nicht jeder Migrant gleich Abkömmling einer Familie von Analphabeten, doch auf einige mag zutreffen, dass sie eine schwierige Lebensgeschichte haben. Aber solche Ausnahmen bestätigen eher die Regel, und die lautet so: »Christopher und Luisa haben geheiratet und sich im Leben eingerichtet: Er ist angehender Professor für Biologie, sie erfolgreiche Kunsthistorikerin.« Oder so: »Alice ist die Heldin dieser fünf Geschichten, alle erzählen von ihr – und davon, wie das Leben ist und das Lieben, wenn Menschen nicht mehr da sind. Dinge bleiben zurück, Bücher, Briefe, Bilder, und ab und zu täuscht man sich in einem Gesicht.« Oder auch so: »Tom Holler, halbwegs erfolgreicher Pianist und frisch getrennt von seiner Frau, tourt mit seiner Berliner Band durch Italien. In Neapel hofft er seine große Liebe wiederzutreffen: Betty Morgenthal.« (Die Kurzplots sind den Ankündigungen für Bücher von Silke Scheuermann, Judith Hermann und Monika Zeiner in den Verlagsprogrammen von Schöffling, Fischer und Aufbau entnommen.)
Nicht nur die Themen der deutschen Literatur sind ermüdend, noch frappierender ist die formale Stereotypie dieser Romane. Mit dem Slogan »Keine Experimente!« warb 1957 die CDU für Konrad Adenauer, heute ist diese Maxime ein bestimmendes Merkmal der deutschsprachigen Prosa. In der Gegenwartsliteratur gibt es keine Wiener Gruppe, keinen Helmut Heißenbüttel, keinen Wolfgang Koeppen und erst recht keinen Arno Schmidt. Schon gar keinen Queneau, Perec, Federman, Burroughs oder Gaddis. Jemand wie Rainald Goetz, der in »Johann Holtrop« aus der Arbeitswelt des Unternehmertums erzählt, ist eine große Ausnahme. Gleiches gilt für Kathrin Rögglas ethnographische Rechercheprojekte.
Selbst wenn man nicht den Fetisch der Einzigartigkeit beschwören will, wäre es erfreulich, die gegenwärtige Literatur entwickelte, statt das Spiegelzimmer, indem sie sich befindet, noch einmal zu spiegeln, ein wenig mehr Gespür für Realismus, etwas größere Nähe zum Tatsächlichen, ob dieses nun in den unteren, mittleren oder oberen Regionen der Gesellschaft angesiedelt sein mag. Das hieße, wirkliche Geschichten zu ersinnen oder solche, grotesk oder phantastisch, die uns symbolisch dem Verständnis der Wirklichkeit näher brächten – und natürlich auch der Kritik an ihr. Wie Erasmus Schöfers Tetralogie »Kinder des Sisyfos«, Jan Brandts großes Kleinstadtepos »Gegen die Welt« oder Joachim Zelters böse Parabel »Schule der Arbeitslosen«.
Dazu braucht es tatsächliche, also glaubhafte Charaktere mit glaubhaften Biographien. Ihre soziale Herkunft sollte erkennbar sein: Wo kommen sie her, wie sind sie die geworden, die sie sind? Und natürlich auch: Was tun sie? Und das ist keineswegs ein Plädoyer für eine neue Literatur der Arbeitswelt. Die deutsche Gegenwartsliteratur wimmelt allerdings momentan nur so von Figuren, bei denen man gar nicht weiß, wovon sie überhaupt leben. Das ist durchaus ein Sonderfall. In Romanen aus anderen Sprachräumen gibt es dieses Phänomen nicht, da müssen sich die Personen in der Regel irgendwie darum kümmern, dass sie nicht verhungern.
Die gegenwärtige Diskussion um den »Closed Shop« ist also wichtig, weil sie zeigt, dass Literatur – allen anderslautenden Bekundungen zum Trotz – unverändert eine politische Dimension besitzt, ob sie diese Rolle nun akzeptiert oder nicht. Denn dass l’art pour l’art letztlich auch politisch ist, in seiner beabsichtigten oder unbeabsichtigten Affirmation des Bestehenden, ist eine Binsenweisheit, die inzwischen in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Die ­literaturpolitische Tragweite des Disputs um den »Closed Shop« zeigt sich am Versuch einiger Kommentatoren, eben diese politischen Implikationen mittels so obskurer Einlassungen wie der, dass man Literatur und Gesellschaftskritik nicht verwechseln dürfe, zu verdrängen.
Was wäre denn das angestammte Medium der Gesellschaftskritik, wenn nicht die Literatur, besonders die theoretisch reflektierte? Etwa Memory-Spielen, Fernsehkonsum oder Facebook-Chats? Literatur hat Revolutionen ausgelöst, die Werke von Voltaire und Rousseau etwa, und noch heute werden Autoren wegen ihrer Bücher verfolgt. Nur im denkträgen Milieu der Bundesrepublik soll Literatur lammfromm den hehren Kunstzielen dienen. Stattdessen sollte sie ihren politischen Gehalt wiederentdecken, was schließlich keineswegs in Agitationsdichtung enden muss.
Wenn die Literatur ihre ästhetischen Ziele und gesellschaftliche Fragestellungen ernst nimmt und realistische Schilderungen des Bestehenden liefert, wird sie en passant auch die Brüche und Aporien der gegenwärtigen Gesellschaft dokumentieren. Das meinte Jörg Fauser, als er schrieb: »Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Partyservice anfangen.«

Von Enno Stahl ist zuletzt der Band »Diskurspogo. Zu Literatur und Gesellschaft« im Verbrecher-Verlag ­erschienen.