Die andere Außengrenze der EU. Ein Besuch in einem Flüchtlingsheim in Litauen

Stacheldraht in Osteuropa

Damit die Festung Europa Flüchtlinge fernhält, muss sie an allen Stellen dicht sein. Auch in Litauen an der nordöstlichen Grenze der EU.

Hinter dem Stacheldraht stehen ein Dutzend Männer, die meisten davon zwischen 30 und 40 Jahre alt: Georgier, Vietnamesen und Tschetschenen. Ihr Gesichtsausdruck schwankt zwischen Langeweile und Resignation. Als eine Gruppe von Journalisten und Fotografen an ihnen vorbeigeht – hinein dürfen sie nicht –, schreit einer der Männer wütend: »Versteht ihr denn nicht? Der Mann verarscht euch.«
Der Mann, das ist Thomas Cepulkovskis, Mitarbeiter und Pressesprecher des einzigen Abschiebegefängnisses in Litauen. Cepulkovskis reagiert gelassen und betont, viele der Insassen hätten einen kriminellen Hintergrund, sie seien illegal in das Land eingereist und warteten auf ihre rechtmäßige Abschiebung. Die Situation in dem Abschiebegefängnis schildert er so: »Es befinden sich bis zu acht Personen in einem Zimmer, ethnisch voneinander getrennt, weil es oft zu Problemen zwischen den verschiedenen Gruppen kommt. Ich kann gut verstehen, dass sie so reagieren, schön ist es da drin nicht.«
Im Abschiebegefängnis befand sich zur Zeit unserer Recherche eine Frau, die im achten Monat schwanger war. Auch das wissen wir nur, weil die Insassen es zu uns herübergeschrien haben. Näher als zehn Meter heran dürfen Journalisten nicht an den Außenplatz des Gefängnisses. Ob die Frau eine ausreichende medizinische Versorgung bekommen hat und ob das Kind noch innerhalb oder außerhalb der EU geboren wurde, das wissen wir nicht.
An der weißrussisch-litauischen Grenze gibt es kaum noch Stacheldraht. Dank des Beitritts zur Europäischen Union und der damit einhergehenden Zusammenarbeit mit der Grenzschutzagentur Frontex wurden die Grenzen technologisch modernisiert. Daher ist man nicht mehr auf martialisch anmutende Überreste der Grenzsicherung aus dem Kalten Krieg angewiesen. Mit Sensoren können die Grenzschutzbeamten jeden orten, der die Grenze überquert, und diese Person kilometerweit ins Landesinnere verfolgen. Wenn die »Aliens«, diesen Begriff verwenden die Beamten, aufgespürt werden, dann werden sie meist von Grenzbeamten mit Maschinengewehren in Empfang genommen. Es werden strategische Fragen gestellt. Wenn die Flüchtlinge beispielsweise angeben, dass sie in ein anderes EU-Land weiterreisen möchten, bestehen kaum Chancen auf Asyl. NGOs, das Rote Kreuz und die Caritas kritisieren, dass den Flüchtlingen oftmals grundlegende Informationen vorenthalten werden. So wird ihnen häufig nicht gesagt, dass sie direkt nach ihrer Ankunft einen Asylantrag stellen müssen. Der Schwerpunkt des litauischen Grenzschutzes liegt nicht auf »illegaler Migration«, wie man von den Beamten am Grenzübergang in ­Medininkai erfährt. Mit Hilfe einer langwierigen Power-Point-Präsentation erklären sie, dass sie ihre Hauptaufgabe darin sehen, den Zigarettenschmuggel und den Drogenhandel zu bekämpfen. Jede dritte Zigarette, die in Litauen geraucht wird, soll illegal eingeführt worden sein. Fälschungen der Marke »Jin Ling« landen meistens überhaupt nicht auf dem litauischen Markt, sondern werden in die gesamte EU weiterexportiert. Für »Aliens« scheinen sich die Grenzbeamten in Medininkai nicht besonders zu interessieren: »Litauen ist kein interessantes Land für diese Menschen, die meisten versuchen, weiter nach Westen zu kommen.« Flüchtlinge werden also als ein untergeordnetes Problem bezeichnet. Fraglich ist allerdings auch, ob der illegale Warentransfer konsequent bekämpft wird. Ein Drittel der Grenzbeamten in Medininkai muss sich aufgrund von Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten.

Wer nach Personen sucht, die sich mit Flüchtlingen in Litauen beschäftigen, muss nach Pabradé fahren. Hier gibt es den berüchtigten Stacheldraht noch, hinter dem Menschen auf ihre Abschiebung warten. Die Existenz eines Militärgeländes in Kombination mit der Lage nahe der weißrus­sischen Grenze führte dazu, dass hier das »Foreign Registration Center« gegründet wurde. Die litauischen Behörden zeichnen sich durch Pragmatismus aus, daher haben sie das einzige Abschiebegefängnis Litauens, in dem derzeit bis zu 90 Menschen auf ihre Abschiebung warten, und das Asylbewerberheim gleich nebeneinander auf dem Militärgelände errichtet. Den Menschen im Heim wird damit deutlich vor Augen geführt, wo sie hinkommen, wenn sie sich nicht an die Regeln halten.
Der Zweck dieses Zentrums ist es, »illegale Einwanderer« in Gewahrsam zu nehmen, die Asyl­bewerber unterzubringen, die Personalien der Flüchtlinge und die Umstände ihrer Einreise zu überprüfen und »Illegale« abzuschieben. Manche werden als Asylsuchende anerkannt, ihre Anträge werden bearbeitet, sie dürfen das Gelände verlassen und erhalten 35 Lita Taschengeld im Monat, umgerechnet etwa zehn Euro. Essen können sie in der Kantine, der pro Tag und Person um­gerechnet 1,68 Euro für die Verpflegung der Heimbewohner zur Verfügung stehen. Die direkte Nachbarschaft von Abschiebegefängnis und Asylbewerberheim in Pabradé macht deutlich, wie willkürlich den Betroffenen die Entscheidung vorkommen muss, wer legal nach Europa einreisen darf und wer nicht. Ob der litauische Staat jemanden als Asylbewerber oder »illegalen Immigranten« einstuft, hängt gewöhnlich von der Herkunft ab. Die meisten Menschen auf dem Gelände kommen aus Georgien und Tschetschenien. Die meisten Georgier fliegen aus Tiflis nach Minsk und überqueren dann zu Fuß die EU-Außengrenze zwischen Weißrussland und Litauen. Die Tschetschenen fahren aus der Umgebung von Grosny nach Nazran und von dort aus mit dem Zug über Moskau nach Minsk, dann überqueren sie die Grenze ebenfalls zu Fuß. Es ist schwierig für sie, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Wer aus ­Afghanistan oder Syrien kommt, kann auf die Gnade der Behörden hoffen. »Die Syrer werden wir alle aufnehmen«, sagt Cepulkovskis. Derzeit befinden sich 15 Menschen aus Syrien im Heim. Im Jahr 2012 kamen 680 Flüchtlinge nach Litauen, von denen 390 einen Asylantrag gestellt haben. 335 wurden in erster Instanz abgelehnt, 40 wurde subsidiärer Schutz zugesichert und 15 erhielten einen Flüchtlingsstatus.
Pabradé ist kein Urlaubsidyll. Wer die Möglichkeit hat, verlässt den Ort. So ist es auch kein Wunder, dass seit dem Zerfall der Sowjetunion die Zahl der Bewohner stark gesunken ist. Das liegt nicht daran, dass Pabradé besonders abschreckend wäre, sondern spiegelt vielmehr die Situation im Land wider. 1992 hatte Litauen noch 3,7 Millionen Einwohner, inzwischen sind es weniger als drei Millionen. Das beliebteste Ausreiseland ist, ebenso wie bei den polnischen Nachbarn, Großbritannien. Meistens sind es junge Menschen, die sich auf den ausländischen Arbeitsmärkten eine bessere Zukunft erhoffen und das Land verlassen, dadurch vergreist Litauen immer mehr. Hinzu kommt die weltweit höchste Selbstmordrate. Man könnte also annehmen, dass es genug Platz gibt und dass es möglich sein sollte, mehr Asylbewerber aufzunehmen. Die Bewohner von Pabradé sehen das freilich anders. Immerhin, eine Bürgerinitiative gegen das Asylbewerberheim, wie es in Deutschland derzeit üblich ist, ist in Pabradé bislang nicht entstanden. Die meisten Flüchtlinge wollen nicht in Litauen bleiben, ihr Ziel ist Westeuropa. Würde Litauen nicht an der EU-Grenze liegen, würden noch weitaus weniger Asylanträge gestellt werden.

»Litauen ist ein gutes Land zum Leben«, sagt dennoch Ghulam Rabani Rahmat, einer der etwa 50 Afghanen, die sich derzeit legal im Land aufhalten. Nichts bringt ihn so leicht aus der Ruhe: »Litauer fragen mich, warum ich hier bleibe. Viele von ihnen verlassen das Land, aber mir geht es hier gut, ich sehe keinen Grund zu gehen, ich habe hier alles, was ich brauche.« Rahmat arbeitet als Übersetzter und Sozialarbeiter im Flüchtlingszentrum des Roten Kreuzes in Kaunas. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Flüchtlinge in Pabradé zu unterstützen, insbesondere wenn es Sprachprobleme gibt. Rahmat spricht zwölf Sprachen und kann mit den meisten Flüchtlingen problemlos kommunizieren. Er kennt ihre Situation sehr gut. 1997 kam er aus Afghanistan. Über Russland fuhr er mit Bussen nach Litauen. Die geplante Route war eigentlich Russland – Polen – Deutschland, aber das hat nicht funktioniert. »Litauen ist mir einfach so passiert, als ich dort ankam, wusste ich noch nicht einmal, dass dieses Land existiert«, scherzt er. Als er seinen Aufenthaltsstatus bekam, entschied er sich, in Litauen zu bleiben. Er hatte bereits die Sprache gelernt und wollte nicht illegal nach Deutschland einreisen, weil er befürchtete, erneut einen Asylantrag stellen zu müssen oder er in Abschiebehaft genommen zu werden.
Rahmat flüchtete allein aus Afghanistan, als er 20 Jahre alt war. Es sei einfacher, alleine zu gehen: »Wenn man erstmal Familie hat, dann ist man nicht mehr so frei, Afghanistan zu verlassen.«
Als er nach Litauen kam, gab es noch überhaupt kein standardisiertes Asylverfahren. Die Lebensbedingungen in dem Asylbewerberheim waren noch schlechter als heute, es war noch überfüllter. Rahmat lebte zwei Jahre in dem Heim in Pabradé, ohne dass sich an seiner Situation etwas änderte, ohne dass ihm jemand sagen konnte, ob er Aussichten auf einen Aufenthaltsstatus habe. Erst 2001 erhielt er aufgrund des Krieges in Afghanistan eine Duldung, die zunächst auf ein Jahr befristet war.
Seitdem hat sich die Situation verändert. Das Asylverfahren dauert nicht länger als sechs Monate und die Bedingungen, zumindest für die Asylsuchenden, haben sich ein wenig verbessert. Rhamat musste damals für seine Papiere 100 Euro bezahlen, das sind zehn Monate Taschengeld. Mit anderen schrieb er einen Brief, um diesen Umstand zu kritisieren. Seitdem müssen Flüchtlinge nicht mehr für ihren Aufenthaltsstatus bezahlen. Er schildert seine Zeit in der Unterkunft: »Man sitzt in seinem Zimmer und wartet darauf, dass etwas passiert. So war das bei uns allen. Nach ­einem halben Jahr sagten sie uns, wir dürften uns nun frei in Litauen aufhalten, es dauerte nochmal fast zwei Jahre, bis ich die Gewissheit erhielt, in Litauen bleiben zu dürfen«. Er betont, dass viele Afghanen nicht wüssten, wann ihr Geburtstag sei, und deswegen den 1. Januar als Geburtsdatum angäben. Er habe aber wirklich am 1. Januar Geburtstag, sagt er.
Die Zeit auf dem Militärgelände in Pabradé ­hatte auch etwas Gutes für Rahmat. Er lernte dort seine Frau kennen. »Alleine ist das alles sehr schwer auszuhalten, ich bin froh, dass wir uns gefunden haben.« Auch sie kommt aus Afghanistan und auch sie arbeitet in Kaunas als Übersetzerin. Die beiden haben drei Kinder, der Älteste ist inzwischen zwölf Jahre alt und spricht vier Sprachen. Wenn er seine Eltern noch übertrumpfen möchte, muss er sich trotzdem ranhalten.

In Litauen, wo ansonsten hauptsächlich Minderheiten aus den osteuropäischen Nachbarstaaten leben, fallen sie auf. Zudem nimmt der Rechtspopulismus in der jüngeren Vergangenheit neue Formen an. »Die Litauer sind nicht auf Menschen vorbereitet, die anders aussehen als sie«, sagt Rhamat. »Als ich nach Kaunas gezogen bin, gab es da niemanden, der nicht weiß war. Für mich war es aber nie ein Problem, mich in Litauen zu bewegen, die Menschen akzeptieren mich.« Rhamats Stimme wird zum ersten Mal ein wenig unsicher: »Na gut, spätestens nach zehn Minuten können es sich die meisten nicht verkneifen, mich zu fragen, woher ich komme, aber ich sage dann einfach, dass ich aus Kaunas komme. Wenn es heißt, Litauer mögen keine Muslime, dann kann ich dem nicht zustimmen. Ich finde sie nicht intolerant, es gibt hier doch viele Minderheiten.«
Gintarė Guzevičiūtė, Rhamtas Kollegin vom Roten Kreuz, unterbricht ihn an dieser Stelle: »Naja, die Mehrheit der Litauer gibt an, dass sie keine Juden oder Muslime als Nachbarn haben wollen. Solche Zahlen sind erschreckend und wir dürfen sie nicht vergessen.« Rhamat gesteht das Problem ein und erzählt, dass es ihm schon des öfteren bei der Arbeit begegnet ist. Sobald die Vermieter herausfänden, dass sie es mit Muslimen zu tun haben, wollten sie ihre Wohnung nicht an diese vermieten. Hinzu kommt die Sprachbarriere. In solchen Fällen vereinbart Rhamat persönlich einen Termin mit den Vermietern und versucht diese zu überzeugen. Das gelingt auch meistens: »Man muss eben mit den Menschen reden und ihnen erklären, wo die Probleme liegen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht«. Er fügt hinzu: »Seit der Krise ist es deutlich schwieriger geworden. Wenn schon die Litauer keine Arbeit finden, wird es für die Migranten natürlich noch schwieriger. Es bewerben sich teilweise bis zu hundert Menschen auf schlecht bezahlte Arbeitsplätze, natürlich haben die Migranten da schlechte Karten.«
Rhamat und Guzevičiūtė setzen sich derzeit dafür ein, dass alle Personen auf dem Militärgelände in Pabradé eine Krankenversicherung erhalten. Die Bereitstellung einer medizinischen Grundversorgung ist derzeit keine Selbstverständlichkeit. »Natürlich hat Litauen alle notwendigen Verträge mit der EU unterschrieben, aber viele der Richtlinien werden schlicht nicht umgesetzt«, sagt Guzevičiūtė. »Manchmal ist es viel zu spät, wenn wir mit den Menschen in Kontakt treten. Sie bekommen keine Rechtsberatung und geben bei dem ersten Gespräch mit den Grenzbeamten Antworten, die ihnen die Möglichkeit auf Asyl verbauen. Viele wissen nichts über ihre Chancen und Rechte. Zudem sind die Bedingungen furchtbar.« Sie betont, dass das Thema bislang kaum von Rechtspopulisten aufgegriffen worden sei: »Asylfragen sind selten Bestandteil der Debatte. Es gibt zu wenige Flüchtlinge, um damit Stimmung zu machen.« Die Rechtspopulisten sitzen in der Regierung, hetzen derzeit hauptsächlich gegen LGBT-Personen und fordern, deren Versammlungs- und Redefreiheit weiter einzuschränken. In keinem anderen EU-Land geben so viele Homosexuelle an, in den vergangenen zwölf Monaten Opfer von Diskriminierung geworden zu sein.
Das einzige Kulturangebot, dass den Asyl­suchenden in Pabradé geboten wird, ist das Zentrum Kultūrų įkalnė, was übersetzt soviel bedeutet wie »Kultur bergauf«. Hier können sie im Internet surfen, Tischtennis spielen und sich auf ­einen Kaffee treffen. An der Wand hängen Flaggen aus mehreren Dutzend Staaten. Das Kulturzentrum muss mit anderthalb festen Stellen und einigen freiwilligen Mitarbeitern auskommen. In dem Foreign Registration Center arbeiten etwa 90 Personen. Auch diese Zahl symbolisiert, wo die Europäische Union ihre Prioritäten setzt.