Der Giftmüll-Skandal in Italien

Verseuchtes Feuerland

In der süditalienischen Region Kampanien wurde jahrzehntelang illegal giftiger Müll verklappt. Nun inszeniert sich ausgerechnet ein ehemaliger Mafioso als Kritiker der Mafia und der italienischen Behörden.

Das erste große Fernsehinterview gab Carmine Schiavone vergangenen Sommer noch am Küchentisch. Inzwischen präsentiert sich der Mafioso, dem Starkult um seine Person angemessen, im hellen Anzug mit dunkler Sonnenbrille. Als Dauergast in den italienischen Fernsehstudios wiederholt er in weichem, dialektalem Tonfall seine entsetzliche Prophezeiung, dass die Bevölkerung im neapolitanischen Hinterland aufgrund des über Jahrzehnte illegal abgeladenen Giftmülls an Tumorerkrankungen sterben werde: »Ich glaube nicht, dass es für die Einwohner eine Rettung gibt, wer in der Region wohnt, wird, wenn überhaupt, nur noch 20 Jahre zu leben haben.« Für besondere Aufregung sorgte seine Enthüllung, bereits 1997 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss über das mafiöse Geschäft mit dem Müll informiert zu haben. Die politisch Verantwortlichen hielten seine Aussage aber 16 Jahre lang als »Staatsgeheimnis« unter Verschluss.
Schiavone war Mitglied des Casalesi-Clans, der Ende der achtziger Jahre zur mächtigsten und brutalsten Gruppe der neapolitanischen Camorra aufstieg. Er fungierte als Buchhalter, verteilte Schmiergelder und organisierte den Missbrauch von EU-Agrarsubventionen. In seiner Selbstdarstellung inszeniert sich Schiavone als ehrenwerter Mafioso, der zwar seine Widersacher ermordet, treue Untergebene aber wohlwollend umsorgt. Sein Gewissen, so beteuert er, habe gegen die Müllgeschäfte rebelliert, deshalb habe er die Verantwortlichen töten wollen. Der mutmaßliche Plan wurde durch seine Verhaftung 1992 vereitelt. Schiavone war überzeugt, vom eigenen Clan verraten worden zu sein, und rächte sich: Er wurde der erste Kronzeuge aus der Camorra. Im Anschluss an seine Aussagen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das zum sogenannten Spartacus-Prozess führte, der 2010 mit der rechtskräftigen Verurteilung der wichtigsten Casalesi-Bosse endete.
Seit vergangenem Sommer hat Schiavone seine eigene Strafe, die er als Kronzeuge unter Hausarrest verbüßen konnte, abgesessen. Versuchte er sich bisher von den skrupellosen Geschäften der Casalesi zu distanzieren, erhebt er neuerdings Anklage gegen die staatlichen Behörden. Seit 1995 habe er Angaben zur illegalen Müllverklappung gemacht, doch die Staatsanwaltschaft sei eben­so tatenlos geblieben wie zwei Jahre später die politischen Vertreter. Aufgrund der Anschuldigungen sah sich das Parlament Ende Oktober genötigt, das Protokoll der damaligen parlamentarischen Anhörung zu veröffentlichen. Jetzt lässt sich nachlesen, was ohnehin seit Jahren bekannt ist.

Nicht nur in der Gegend zwischen Neapel und Caserta, die Roberto Saviano in seinem Weltbestseller »Gomorrha« als »Feuerland« populär machte, unterhielten die Clans illegale Mülldeponien. Industrie- und Krankenhausabfälle aus Norditalien, mutmaßlich auch radioaktiver Sondermüll aus Deutschland, wurden in Kampanien und den angrenzenden Regionen in Baugruben und natür­liche Aushöhlungen der Tuffsteinlandschaft gekippt. Bilder von Müllbergen, die sich in Neapel und den umliegenden Provinzen auftürmen, suggerierten in den vergangenen Jahren wiederholt einen »Müllnotstand« infolge unzureichender Mülltrennung und fehlender Müllverbrennungsanlagen. Tatsächlich diente das Problem der Hausmüllentsorgung eher dazu, von dem viel größeren Problem der illegalen Deponierung und offenen Verbrennung von Sondermüll abzulenken.
Als im Sommer 2012 die Feuerwehren im neapolitanischen Hinterland mehr als 300 Brände pro Monat registrierten und sogar auf Deponien Müll angezündet wurde, die zuvor zu militärischem Sperrgebiet erklärt worden waren und offiziell unter staatlicher Bewachung standen, schlossen sich verschiedene Widerstandsgruppen in den betroffenen Kommunen zum »Netzwerk Feuerland« zusammen. Sie prangerten vor allem das Versagen der Notstandspolitik an: Unzählige Prozesse seien bis zur Verjährung der angezeigten Umweltverbrechen verschleppt, beschlagnahmte Gelände nicht entseucht worden. Aufgrund des im nationalen Vergleich überdurchschnittlichen Anstiegs von bösartigen Tumorerkrankungen beschuldigt das Netzwerk die politischen Institu­tionen des »biologischen Völkermords«. Das Gesundheitsministerium weist die Vorwürfe zurück. Eine eindeutige Kausalität zwischen Umweltvergiftung und Tumorerkrankung lasse sich nicht nachweisen, möglicherweise lägen die Ursachen eher in einer ungesunden Ernährungsweise der Bevölkerung. Über Monate fanden die dokumentierten Anklagen des Netzwerks jenseits der regionalen Grenzen kaum Beachtung.

Erst die Interviewserie des ehemaligen Camorrista Schiavone erregte größere mediale Aufmerksamkeit. Das Nachrichtenmagazin L’Espresso berichtete im November unter dem reißerischen Titel »Neapel trinken und sterben« über eine Studie der US-Marine, die im Rahmen der Nato-Mitgliedschaft einen ihrer größten Militärstützpunkte im Golf von Neapel unterhält. Der Studie zufolge wurden im Trinkwasser so hohe Rückstände von industriellen Lösungsmitteln und Uranablagerungen nachgewiesen, dass zum gesundheitlichen Schutz der Armeeangehörigen und ihrer Familien der ausschließliche Gebrauch von Mineralwasser empfohlen wird. Im Laufe der mehrjährigen Untersuchung sei deutlich geworden, so zitiert L’Es­presso weiter, dass die italienischen Institutionen unfähig seien, die Einhaltung der gesetzlichen Kontrollen zu garantieren. Der gesamte neapolitanische Großraum sei kontaminiert. Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris drohte dem Nachrichtenmagazin mit einer Schadensersatzklage wegen Rufschädigung. Er garantierte für die regelmäßige Kontrolle der öffentlichen Wasserversorgung, äußerte sich aber nicht zu den veröffentlichen Messwerten. Auch die Landwirte, die wegen der schlechten Presse über Umsatzeinbußen klagen, verwahren sich gegen eine pauschale Abwertung der regionalen Obst- und Gemüseproduktion. Das kontaminierte »Feuerland« mache schließlich nur einen Bruchteil der kampanischen landwirtschaftlichen Fläche aus. Auf dem Höhepunkt der öffentlichen Diskussion trafen sich Mitte November etwa hunderttausend Menschen in Neapel zu einer Großdemonstration. Mit zwei elementaren Forderungen gelang es erstmals, die unterschiedlichen Interessen der Bevölkerung zu vereinen: Aufklärung über das Ausmaß der Verseuchung und Dekontaminierung der schadstoffbelasteten Felder.
Die Regierung in Rom reagierte kurz vor Weihnachten mit einer weiteren Notverordnung. Innerhalb von 150 Tagen soll eine neue Flurkarte angelegt und der Grad der Verunreinigung für jedes Gelände exakt bestimmt werden, um einer unbegründeten Panikmache entgegenzuwirken. Illegale Verbrennungen werden zukünftig mit Haftstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft. Zur Überwachung des Territoriums sollen einmal mehr Armeeeinheiten eingesetzt werden. Die lokalen Widerstandsgruppen protestierten umgehend gegen die weitere Militarisierung ihrer Region. Antonio Musella, ein langjähriger Umweltaktivist aus Neapel, warf in seinem Blog der Regierung vor, sie täusche zur Beschwichtigung des öffentlichen Aufruhrs Aktivismus vor, ohne auf eine einzige Forderung der Demonstranten einzugehen. Da keine direkte Teilnahme der lokalen Gruppen an der Kartierung der Region vorgesehen sei, sei auch nicht sichergestellt, dass alle verseuchten Gebiete aufgenommen würden. Völlig offen lässt das Dekret, wann und in welchem Umfang mit der Säuberung kontaminierter Flächen begonnen wird und welche Gelder hierfür zur Verfügung gestellt werden. Die in Aussicht gestellten 600 Millionen Euro halten alle politischen Vertreter, die mit der Situation in Kampanien vertraut sind, für unzureichend, sie hoffen auf weitere Zuwendungen aus dem EU-Haushalt. Andererseits besteht die begründete Sorge, dass die Clans nicht nur an der Sanierung mitverdienen, sondern sie sogar torpedieren könnten. Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Neapel legen den Verdacht nahe, dass in den wenigen Fällen, in denen eine Dekontaminierung eingeleitet wurde, die Gelände bereits erneut mit Abfallstoffen belastet wurden. Auf Kritik stieß die Notverordnung aber vor allem, weil sie nichts zum »Gesundheitsnotstand« beinhaltet. Die Forderung nach einem Ausbau der onkologischen Versorgung in der Region griff die Regierung nur insofern auf, als sie die Einrichtung einer kostenlosen Reihenuntersuchung zur Krebsvorsorge ankündigte.

Für die Anti-Mafia-Aktivistinnen und -Aktivisten vor Ort ist es blanker Hohn, dass sich ausgerechnet ein hochrangiger ehemaliger Camorrista gegenüber den staatlichen Institutionen als wichtigster Ankläger inszeniert. Zumal seine Auslassungen entweder nur Bekanntes wiederholen oder so vage bleiben, dass sie weder zur Aufklärung von Umweltverbrechen beitragen, noch zur Aufnahme neuer Ermittlungsverfahren nötigen. Die Schiavone-Show bedient eher die schaurige Faszination des Publikums für den Mafia-Boss und befriedigt gleichzeitig das Bedürfnis nach kollektiver Empörung. Die soll einmal mehr durch die Einrichtung eines neuen parlamentarischen Untersuchungsausschusses besänftigt werden. Das Gremium soll aufarbeiten, warum trotz der Arbeit vorheriger Untersuchungskommissionen die mörderischen Müllgeschäfte im »Feuerland« jahrzehntelang ununterbrochen weitergehen konnten und die Umweltverbrechen ungestraft blieben. Vielleicht aber ist gerade das die einzige Frage, auf die Schiavone in seinen Interviews eine klare Antwort liefert: »Die Mafia werden sie nie zerschlagen, mit ihr sind zu viele Interessen verknüpft, sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene.« Die Aufwertung des ehemaligen Camorrista zur Unterhaltungsikone ist ein gelungener Coup, um vom Kampf um die Auflösung dieser Verflechtung abzulenken.