Wissenschaftliche Irrtümer

Raten mit Daten

Nicht alles, was wissenschaftlich belegt zu sein scheint, stimmt auch. Manchmal wird ungenau gemessen oder die Ergebnisse werden falsch interpretiert.
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Beginnt eine Meldung mit »Forscher haben herausgefunden«, hören viele Menschen gleich wieder auf zu lesen. Die eine Studie beweist das eine, die andere das Gegenteil und in den Augen der Öffentlichkeit verschwimmen so Wissenschaft und Esoterik. Ein Grund dafür ist, dass Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen oft nicht einfach zu verstehen sind und richtig interpretiert werden. Das zeigt unter anderem ein Experiment mit einem toten Lachs im Magnetresonanztomographen (MRT). Ein MRT erlaubt detaillierte, dreidimensionale Einblicke in den menschlichen Körper. Unter anderem lassen sich Stoffwechselvorgänge sichtbar machen, die mit der Hirnaktivität in Zusammenhang stehen – dem Gehirn wird gleichsam beim Denken zugesehen.
Der Hirnforscher Craig Bennett und sein Team von der University of California machten sich vor einigen Jahren einen Spaß: Sie legten einen toten Lachs in die MRT-Röhre und zeigten ihm Bilder von Menschen in verschiedenen sozialen Situationen. Anschließend fragten sie den Lachs, welche Emotionen er beim Betrachten der Bilder empfunden habe – was der Fisch natürlich nicht beantworten konnte. Während des Versuchs scannte der MRT das Gehirn des Lachses. Eine anschließende Auswertung der Daten zeigte Überraschendes: Die Wissenschaftler fanden an einer 81 Kubikmillimeter großen Stelle des Gehirns Aktivität, die mit den Bildinhalten zu korrespondieren schien. »Ein toter Fisch erkennt menschliche Emotionen – wenn ich ein unbedarfter Forscher wäre, würde ich zu diesem Ergebnis kommen«, resümierte Bennett.
Interpretieren lässt sich dieses Ergebnis auf vielfache Art. Beispielweise ließe sich vermuten, dass Gehirne nach dem Tod länger weiterarbeiten als gedacht. Und dass Lachse emotional doch sehr dem Menschen ähneln. Tatsächlich grenzt es fast an ein Wunder, dass anschließend keine Esoteriker das Experiment als Beweis für ein Leben nach dem Tod und die Existenz der Seele – auch bei Fischen – herangezogen haben.

Der Versuchsaufbau war bewusst absurd gewählt worden. Die Lösung für das Wunder in der Röhre lieferte Bennett in seiner Veröffentlichung gleich mit. Zugeschlagen hatte das »Gesetz der großen Zahlen«: Vergleicht man sehr viele einzelne Messergebnisse miteinander, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass zufällige einzelne Werte scheinbar sinnvolle Muster ergeben. Und ein MRT-Scan eines Gehirns liefert entsprechend viele Messwerte. Der Effekt ist ähnlich dem bei einem alten Röhrenfernseher: Empfängt das Gerät keine Signale, sehen wir zwar nur Schnee, glauben aber, Muster darin zu erkennen.
Deshalb trägt die Veröffentlichung von Bennett schon im Titel die Aufforderung, bei großen Zahlenmengen vorab Korrekturen durchzuführen. Es gibt statistische Methoden, um eine große Zahl von Messwerten vor der weiteren Auswertung so zu korrigieren, dass Zufallswerte neutralisiert werden. Das ist aber kompliziert und fehleranfällig. Will ein Forscher das Ergebnis sicher beweisen, kann er das Experiment mehrfach mit verschiedenen Lachsen wiederholen. Es wird wieder überraschende Ergebnisse geben, aber jedes Mal völlig andere.
Dass viele Menschen so leicht auf solche Fehler hereinfallen, liegt daran, dass unser Gehirn für Statistik nicht gemacht zu sein scheint. Wenn wir eine Sechs würfeln, sagt uns unsere Intuition, dass es unwahrscheinlich ist, dass nächstes Mal wieder eine Sechs kommt, dabei ist die Wahrscheinlichkeit bei jedem Wurf immer 1:6. Auch Wissenschaftler stolpern gerne einmal über solche Fallstricke, meistens entstehen wissenschaftliche Mythen aber durch die Öffentlichkeit. Eine wichtige Rolle spielen dabei Massenmedien, die zu gerne über einzelne Studien berichten, die Cholesterin, Rotwein und Spinat wahlweise zu Gesundheitskillern oder zu Heilmitteln erklären. Oft behaupten das die Urheber der jeweiligen Studie nicht einmal selbst, nur beim oberflächlichen Lesen der Studien entsteht dieser Eindruck.

Dass bestimmte Studien so gut für Schlagzeilen taugen, liegt an unserer Wahrnehmung. Viele Menschen haben Angst vor Dingen, die selten eintreten, wirkliche Gefahren lassen Sie aber häufig kalt. So ist es in den allermeisten Gegenden extrem unwahrscheinlich, dass Menschen durch einen Terroranschlag oder die Folgen eines Lebensmittelskandals ums Leben kommen, während die häufigste Todesursache – zumindest in Deutschland – mit großem Abstand eine Herz-Kreislauf-Erkrankung ist. Dennoch sind es Terror und Lebensmittelskandale, die die Schlagzeilen bestimmen, während viele sich gegängelt und bevormundet fühlen, sobald jemand sie dazu bringen möchte, sich mehr zu bewegen und gesünder zu ernähren – Stichwort »Veggie-Day«.
Genau umgekehrt verhält es sich mit der zweithäufigsten Todesursache in Deutschland: Krebs. Frauen, die regelmäßig eine Mammographie machen lassen, haben ein genauso hohes Risiko, an Brustkrebs zu sterben, wie Frauen, die es lassen. Aber die Möglichkeit einer Fehldiagnose beträgt 15 bis 25 Prozent. Wochen in Angst und gelegentlich unnötige Amputationen sind die Folge. Bei Männern ist Prostatakrebs in Deutschland die häufigste Krebserkrankung. Eine Entfernung der Prostata bringt bei vielen Patienten Inkontinenz und Verlust der Erektionsfähigkeit mit sich, ist aber oft unnötig, da Männer erst in sehr hohem Alter an Prostatakrebs erkranken. Die weitaus meisten würden ihren Krebs gar nicht erleben, da sie zuvor an anderen Krankheiten sterben. Vollkommen unterschätzt wird hingegen Hautkrebs, dessen Häufigkeit sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat. Bei der Behandlung des sehr aggressiven schwarzen Hautkrebses kommt es ganz besonders auf eine möglichst frühe Entdeckung an. Der regelmäßige Gang zur Vorsorgeuntersuchung kann hier Leben retten.
Die sogenannte sanfte Medizin ist genauso wenig gegen solche Irrtümer gefeit. Wenn einen der ewige Streit von Beweis und Gegenbeweis ratlos zurücklässt, richtet man sich einfach danach, was man selber erlebt hat: Wer Homöopathie und ähnliche Heilmethoden einsetzt, schwört, selbst die Erfahrung gemacht zu haben, dass die Mittel wirken. Da kann ein Wissenschaftler noch so oft wiederholen, dass in den 200 Jahren seit Begründung der Homöopathie durch Samuel Hahnemann niemand einen Beweis erbringen konnte, dass sie wirkt.
Doch auch unsere Erfahrung spielt uns gerne Streiche: Infektionen wie Masern gelten hierzulande oft als harmloser Teil der Kindheit, während viele Angst vor der Impfung haben. Dabei liegen die Gefahren genau umgekehrt. Längst nicht nur in Entwicklungsländern kommt es immer wieder zu Epidemien mit hohen Sterblichkeitsraten. Bei vielen leichten Erkrankungen hingegen werden wir in den westlichen Industrieländern oft ganz von alleine wieder gesund.

Wissenschaftliche Irrtümer gibt es in sämtlichen Fachgebieten. So behauptete der Ökonom Kenneth Rogoff, dass das Wirtschaftswachstum eines Staates sich stark verringerte, wenn die Staatsverschuldung 90 Prozent des Bruttosozialprodukts übersteigt. Dummerweise hatte Rogoff einfach vergessen, ein paar Felder in seiner umfangreichen Excel-Tabelle zu markieren, so dass seine Ergebnisse schlicht falsch waren. Daraus wurde schnell ein neuer Mythos: Die Sparpolitik in der europäischen Wirtschaftskrise basiere auf einem dämlichen Fehler. Dabei hatte Rogoff seine falschen Zahlen erst 2013 veröffentlicht – zu einem Zeitpunkt, als Deutschland und andere Staaten diese Politik bereits jahrelang betrieben.
Ähnlich gelagert ist der Fall beim Spinat. Mit Popeye basiert eine ganze Cartoon-Serie auf dem Mythos, dass Spinat besonders gesund, weil besonders eisenhaltig sei. 1890 bestimmte der Physiologe Gustav von Bunge den Eisengehalt von Spinat auf 35 Milligramm pro 100 Gramm. Allerdings verwendete er getrockneten Spinat, bei dem der Eisengehalt etwa zehnmal höher ist als bei frischem Spinat. Nahrungsmittel, die erheblich mehr Eisen enthalten als Spinat, sind Kardamom, Süßholz, Weizenkleie, Austern und Schweineleber.
Fingernägel wachsen nach dem Tod nicht weiter, sondern die Haut zieht sich zurück. Es ist unnötig, zwei Liter Wasser am Tag zu trinken, weil unsere Nahrung bereits einen großen Teil unseres Wasserbedarfs deckt. Kaffee entzieht dem Körper ebenfalls kein Wasser: Es kommt tatsächlich genauso viel unten raus, wie wir oben reinschütten, egal von welchem Getränk. Dass Mobilfunktelefone Elektronik nicht stören, haben die ersten Fluggesellschaften mittlerweile verstanden und verzichten auf Handyverbote an Bord, während entsprechende Verbotsschilder in Krankenhäusern immer noch üblich sind. Vieles Lesen macht unsere Augen nicht schlechter und die Klarstellung, dass wir sehr wohl 100 Prozent unserer Gehirnkapazität nutzen, hätte vielleicht die eine oder andere Person vor Scientology bewahrt.
Derlei Mythen sind relativ harmlos und vorsichtig zu sein schadet selten. Wirkliche Probleme gibt es, sobald politische oder wirtschaftliche Interessen ins Spiel kommen. So war noch in den fünfziger Jahren die Mehrheit der Ärzte in den USA der Meinung, Rauchen schade nicht oder sei sogar gesund. Obwohl damals schon ziemlich genau bekannt war, wie gefährlich Rauchen ist, dauerte es noch mehr als 30 Jahre, bis sich dieses Wissen auch in der Bevölkerung verbreitet hatte.
Eine ähnliche Situation gibt es in der Klimaforschung. Dass es den Klimawandel gibt, er bereits eingesetzt hat und katastrophale Folgen nach sich zieht, steht heute außer Zweifel. Streiten kann man allenfalls über die Details. Was aber bestimmte Gruppen nicht daran hindert, beharrlich das Gegenteil zu behaupten. Das geht sehr leicht mit scheinbar wissenschaftlichen Argumenten: Für viele Regionen liegen keine langfristigen Wetterdaten vor, und wo keine Daten, da kein Beweis. Zu Hilfe kommt den sogenannten Klimaskeptikern die Psychologie: Immer wenn in einer Debatte jemand viele komplexe Argumente liefert, neigen Menschen dazu, demjenigen zu glauben, der einige wenige, leicht verdauliche Argumente entgegensetzt. Der »gesunde Menschenverstand« hilft eben auch nicht immer weiter.