Die Folgen des Schweizer Referendums über Migrationsbegrenzung

Alptraum EU

Das Schweizer Referendum könnte ähn­liche Initiativen in EU-Ländern anregen.

»Das sind wunderbare Nachrichten für die Anhänger von staatlicher Souveränität und Freiheit in ganz Europa«, jubelte Nigel Farage, Vorsitzender der antieuropäischen Partei UKIP aus Großbritannien, nach dem Schweizer Referendum (siehe auch Interview Seite 20). und der französische Front National äußerte Zuversicht, das Ergebnis werde auch den Willen der Franzosen bestärken, die »Masseneinwanderung zu stoppen und die Kontrolle über ihre Grenzen« selbst zu übernehmen. Die Freude der Rechtspopulisten ist verständlich. In vielen europäischen Ländern wür­de eine Abstimmung über die Frage, ob man die Grenzen für Zuwanderer schließen solle, wohl ähnlich verlaufen. In Finnland, Österreich und den Niederlanden legen die nationalistischen EU-Gegner in Umfragen zu. Auch die »Alternative für Deutschland« hat bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai gute Chancen.
Gerade in den reichen Staaten Europas ist der Wunsch, sich abzuschotten, besonders ausgeprägt. Nirgendwo in Europa sind die Vermögen höher und ist die Arbeitslosigkeit niedriger als in der Schweiz. Ihren Wohlstand verdanken die Schweizerinnen und Schweizer vor allem ihrer privilegierten Lage. Weil Genehmigungen angepasst und Zölle abgebaut wurden, kann die Schweiz einfach Waren und Dienstleistungen nach Europa exportieren, ohne EU-Mitglied zu sein. Rund zwei Drittel aller Exporte gehen nach Europa, umgekehrt sind es nur acht Prozent.
Doch nun hat die EU als Reaktion auf das Votum das milliardenschwere Forschungsabkommen »Horizon 2020« ausgesetzt, das studentische Austauschprogramm Erasmus soll bald folgen. Gut möglich, dass es dabei nicht bleiben wird. »Der Binnenmarkt besteht nicht nur aus dem freien Verkehr von Karotten und Milch, sondern auch aus dem freien Verkehr von Menschen«, erklärte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. »Stellen sie sich vor, eine Schweizer Bank lässt sich in Brüssel nieder und könnte ihre Angestellten aus der Schweiz nicht mitbringen.« Ohne Freizügigkeit für Personen gibt es auf Dauer auch keinen freien Kapitalverkehr, lautet die Botschaft der EU. Eine schärfere Drohung kann es für die Schweiz kaum geben. Eine Abschottung darf sich das Land eigentlich nicht leisten, wenn es seinen Wohlstand behalten will.
Paradoxerweise verstärkt aber gerade der Wohlstand die Abstiegsängste der bürgerlichen Mittelschicht. Nichts fürchtet sie mehr, als von dem wirtschaftlichen Niedergang erfasst zu werden, unter dem die schwächeren Regionen Europas leiden. Sie sieht sich einerseits von den sozial Deklassierten bedroht, von Flüchtlingen und Arbeitslosen aus dem europäischen Ausland, andererseits von qualifizierten Arbeitsmigranten, die vor allem lukrative Posten in Forschung und Unternehmen besetzen.
Gerne wird dieser Wohlstandchauvinismus kulturell verklärt, als Kampf für die nationale Identität, selbst wenn sich diese vornehmlich in bunten Trachten und Alpenhörnern ausdrückt. Niemand will sich freiwillig als blanker Egoist bezeichnen, dem es nur um den eigenen Vorteil geht. Besonders ausgeprägt ist die Haltung bei jenen, die von der vermeintlichen Bedrohung noch am wenigsten erfasst sind, die also glauben, dass sie mehr verlieren können als andere. In diesem Sinne ist die Schweiz derzeit tatsächlich ein Versuchslabor für Europa. Bald werden diesem Vorbild andere folgen.