Boxen im ­Silicon Valley. Eine Reportage über den East Palo Alto Boxing Club

Boxing for Life

In der Nachbarschaft des Facebook-Imperiums im kalifornischen Palo Alto ­explodieren die Immobilienpreise. Die Gentrifizierung hat längst auch das vorwiegend von Armen und Migranten bewohnte Stadtgebiet von East Palo Alto erfasst. An diesem Ort betreibt Johnny Gray seinen Box-Club, mit dem er Jugendliche von der Straße holen will.

Wir sind das Herz des Silicon Valley! Aber weil wir arm sind, sieht uns keiner«, sagt Johnnie Gray. Er ist der Gründer des East Palo Alto Boxing Clubs im US-Bundesstaat Kalifornien, gleich neben dem reichen Palo Alto, der Heimatstadt von Facebook, Apple und Google. Gray steht mit hochgeschobener Sonnenbrille hinter seinem Tresen. Im Angebot sind Snacks, Wasser und Bohnenkonserven, hinter ihm an der Wand hängen unzählige Fotos: Muhammad Ali, Tupac Shakur, Bob Marley und die Beautiful Brawlers, eine Gruppe Boxerinnen aus der Gegend. Die Snacks sind für seine Schüler, erklärt Gray, und betont, dass er das Knabberzeug nicht verkauft, sondern umsonst verteilt, denn sein Boxstudio sei nicht wie andere Gyms in der Gegend, in denen die Leute für alles zahlen müssten.
»Dies hier ist ein Ort, der die jungen Leute von der Straße, von Drogen und Gewalt wegholt«, erklärt er. Doch die Stadt verstehe das nicht, sei korrupt und finanziere nur »nutzlose« Antidrogenprogramme und die Polizei natürlich. Die aber sei voreingenommen gegenüber den Jugendlichen, verhafte die jungen Leute, um sie los zu werden. Auch verkaufe die Stadtregierung die dumm und kriminell gehaltenen Menschen East Palo Altos geldgierig an die Reichen, denn es sei leichter, die dummen Leute loszuwerden. In der reichen Nachbarstadt Palo Alto, so Gray, »scheren sie sich mehr um ihre Tiere. Tiere leben dort besser, all die Haustiere, die sie haben, als die Menschen hier.«
Das Boxstudio ist ein Ort, der die sozialen Konflikte in East Palo Alto abbildet. Zugleich, so sieht es Gray, könne das Gym dabei helfen, die Konflikte zu entschärfen.
East Palo Alto ist die ärmste Vorstadt des ­Silicon Valley, eine Insel der Armut im Meer der Reichen. Das Silicon Valley aber boomt und ­erlebt nach dem Platzen der Dotcom-Blase und der Finanzkrise von 2008 nun einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung. Palo Alto ist Mittelpunkt dieses teuersten suburbanen Gebiets der USA und generiert statistisch monatlich 300 neue Millionäre.
Aber der Tech-Boom vertieft die soziale Kluft zwischen Palo Alto und seiner Nachbarstadt East Palo Alto. Während der Zuzug von Tech-Experten aus den Vereinigten Staaten und dem Ausland nie gekannte Dimensionen annimmt, nehmen auch Gentrifizierung und Segregation zu. Gleichzeitig schrumpfen im Silicon Valley die größten ethnischen Gruppen Nordkaliforniens und die Gegend erlebt den größten Massenexodus von Latinos und Afroamerikanern seiner Geschichte. Inzwischen ist das Silicon Valley nach Einschätzung des Magazins The New Yorker der sozial ungleichste Ort der USA.
Grays Empörung über die Stadtregierung und die Verdrängung der Bewohner hat nichts von der paranoiden Stammtischstimmung in einem Bonner Vorort kurz vor Schließung der Dorfkneipe, sondern ergibt sich aus dem völligen Ausschluss des Prekariats von Bildung, sozialem Aufstieg und Teilhabe. Während in Palo Alto Privatschulen von reichen Spendern der Gegend unterstützt werden, sind in East Palo Alto die Schulen marode und schlecht ausgestattet. Johnnie Gray vermisst die lokalen Ärzte und Anwälte in der Gemeinde, Leute, die aus der Nachbarschaft kommen und die Interessen der Community gegenüber der Stadtregierung vertreten könnten. So aber ist eine kritische Auseinandersetzung der Menschen in East Palo Alto mit der eigenen Situation im Hinblick auf die Transformation im Silicon Valley im Sinne einer diskursiven Ermächtigung unmöglich.
Die Fassade des East Palo Alto Boxing Club ist kahl und prunklos, das Poster mit der Aufschrift »Boxing« von der Sonne verblichen. Farbe verleiht der ansonsten leeren, grauweiß-holzigen Pulgas Avenue lediglich der blaue Himmel. Nähert man sich dem Club, hört man das rhythmische Klopfen des Sparringballes, das ein wenig dem Klackern einer alten Schreibmaschine ähnelt. Innen ist das Studio in Rot-Schwarz gehalten und es riecht nach feuchtem Leder.
Gray gründete den Club 2003. Er begann mit neun Jahren mit dem Boxen und ist dreifacher Gewinner des Golden Glove, der höchsten Auszeichnung im Amateurboxen. Auf einem Tisch im Studio steht ein Maskottchen: ein Teddybär mit einer Brosche, darin eingefasst eine Fotografie, die Barack Obama und Nelson Mandela zeigt und den Schriftzug »A legacy of hope« trägt. Worin denn die Hoffnung seines Boxstudios bestünde, frage ich ihn. Seine Jugendlichen sollen den Kampf mit »draußen« aufnehmen können, antwortet er, und sich gegen Gewalt verteidigen lernen.
»Draußen« ist für Gray die Negativtrinität Drogen, Gefängnis und Mord, die in East Palo Alto Teil des Alltags sei. Gray warnt die Jugend­lichen: »Wenn ihr seht, dass es auf der Straße Ärger gibt, dann geht nicht hin, denn ihr würdet ja auch nicht auf einen Scheißhaufen treten wollen, geht in die andere Richtung.«
Doch »draußen« ist auch Palo Alto, Menlo Park, San Francisco – ob die Jugend East Palo Altos sich als Teil des Silicon Valley begreift oder ob sie eher in einer Blase innerhalb der Blase leben, frage ich weiter. Gray erklärt mir, dass East Palo Alto durch seine Armut vom Silicon Valley abgeschnitten sei und von konkurrierenden Gangs dominiert werde. Die Stadtregierung verstärke durch eine falsche Verteilung der Fördergelder diese Situation. Sein Boxstudio aber sei ein Schmelztiegel, der die Menschen aus der ganzen Gegend, auch aus den reichen Gemeinden Palo Alto, Menlo Park oder Atherton, zusammenführe.
Warum ausgerechnet Boxen Gewaltprävention sei. frage ich schließlich. Boxen, so Gray, schaffe zwischen Sparringpartnern ein körperliches Näheverhältnis, in dem Gewalt in einen Akt des emphatischen Hörens und Sehens der Gesten des Körpers des Anderen übersetzt wird. Boxen sei intellektuell und intim zugleich. Auf die durch Boxen generierte körperliche Nähe müsse man sich einlassen können, auf Geruch, Schweiß und manchmal auch Blut eines anderen, auch müsse man sich an die Angst vor dem »knock-out« gewöhnen. Beim gemeinsamen Sparring und durch regelmäßiges Training würden Vorurteile gegenüber anderen abgebaut.
Vor allem aber biete sein Studio eine Art Bildungshilfe. Streng genommen gehe es hier nicht ums Boxen, denn, so Gray, keiner seiner Jugendlichen werde Profi werden. Im Gegenteil: Viele seiner Schüler, so Gray, waren wie Krieger, bevor sie zu ihm kamen. Wenn sie ins Boxstudio kommen, können sie Dampf ablassen. »Hier geht es um eine andere Art der Härte. Es geht darum, den Kids etwas zu tun zu geben, das ihr Selbstwertgefühl hebt und sie motiviert, die Schule fertig zu machen.« Auch biete das Boxstudio den Jugendlichen eine Ersatzfamilie, in der sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und respektvoll mit den Menschen in ihrer Umgebung umzugehen. Gray spielt im Studio Musik, zeigt den Kids, wie sie die Räume sauber halten, verbietet ihnen verbale Grobheiten und fordert sie auf, ihre Mütter bei der Hausarbeit zu unterstützen. »Es geht darum, ihnen zu zeigen, wie man eine Familie ernährt«.
Er erzählt mir von einem 18jährigen Jungen, der miterleben musste, wie sein Cousin bei einer Schießerei neben ihm im Auto umkam. Im Boxstudio erlerne der Junge langsam wieder, ein Gefühl der Sicherheit zu entwickeln.
Ein Schüler erklärt, dass Boxen dazu beigetragen habe, ihn selbstbewusster zu machen. Vorher habe er sich dafür geschämt, nicht klug und gebildet zu sein. Beim Boxen gehe es auch darum, mit der eigenen Kraft hauszuhalten und während der eigenen »punches« oder »slips« die »counterpunches« der Gegner zu antizipieren: »Du musst aufpassen und beobachten, wie sie reagieren, Verschiedenes ausprobieren. Es geht noch nicht mal um das Körperliche, du musst schlau sein.«
Die Jugendlichen hätten begriffen, dass Boxen dazu beitragen kann, Zukunftsträume zu verwirklichen, denn das Studio schaffe eine alternative Gemeinschaft, in der der Sport den Weg in ein anderes, besseres Leben ebene. Vielleicht, so hofft Gray, führe der sogar an ein College.
Auch wenn sich einige Jugendliche durch den Sport den Kids der Reichen in der Gegend ebenbürtig fühlen, zeigt sich die Gesellschaft des Silicon Valley gegenüber jenen, die den Weg aus der Armut suchen, nicht gerade offen und bietet ihnen kaum Zukunftschancen. Nach wie vor profitieren all die reichen Haushalte, gepflegten Restaurants und expandierenden Unternehmen von der Armut der Latinogemeinde, deren Angehörige als Kindermädchen, Gärtner, Tellerwäscher oder Küchenhilfe arbeiten. Hingegen stellen Latinos und Afroamerikaner weniger als ein Prozent der Angestellten im Hightech-Bereich. So könnte die Distanz zur Nachbarstadt Palo Alto, zu Hightech-Glam, Teslas, Bioläden und Edelboutiquen, nicht größer sein.
Ein Fluss, der im Sommer austrocknet, und der Highway 101 trennen die beiden Städte: Eine der teuersten Häuserzeilen Palo Altos grenzt unmittelbar an den ärmsten Stadtteil East Palo Altos, die »Whiskey Gulch«, wie das ehemalige Rotlichtviertel genannt wird.
Es genügen ein paar Schritte, um die Grenze zwischen Armut und Reichtum zu überwinden, aber dennoch wird der Abstand von beiden Seiten rigide eingehalten. Die Bewohner von Palo Alto beherrscht die Angst, in East Palo Alto auf der Stelle erschossen zu werden.
Gegründet wurde East Palo Alto 1849. Heute hat die Stadt knapp über 30 000 Einwohner, 60 Prozent davon Latinos, der Rest ist mehrheitlich afroamerikanischer Herkunft. East Palo Alto war in den Neunzigern die »Mordhauptstadt« der USA und hat heute die höchste Kriminalitätsrate im Silicon Valley und eine hohe Arbeitslosigkeit.
Es ist ein Ort ohne Zentrum, mit wenigen Geschäften. Ein Mechaniker, der Fleischer »Las Adelitas«, die Taqueria »El Bohemio«, vor deren kleinem Eingang von Hand ausgeschnittene blau-rote Buchstaben das Tagesmenü ankündigen. Eine kleine Bücherei gibt es auch. Die meist einstöckigen Häuser sind schlicht und ohne Dekor. Staubige Vorgärten, kaum Rasen, noch weniger Blumenstauden, vor den offenstehenden, mit Gerümpel vollgestopften Garagen parken Mittelklassewagen.
East Palo Alto ist weniger das urban-zwielichtige Gegenstück zu Palo Alto, sondern eine ausweglosere Form von Suburbanität. Es fällt schwer, sich hier eine brodelnde Gangkultur, Gewalt und Drogen vorzustellen, eher entsteht ein ruhiges Vorortgefühl mit ein wenig trostloser Langeweile beim Spaziergang. Die Straßen sind leer, hier und da eine Mutter mit Kinderwagen. Man sieht mehr Zigarettenrauch und spürt weniger Eile als in Palo Alto.
Doch wie ist es in Palo Alto, auf der anderen Seite des Baches? Dort sind die Häuser schicker, die Gärten üppig, die Vögel singen lauter, die Straßen sind sauberer, die Bevölkerung ist weißer, die Autos wirken neuer, die Kleidung teurer, das Essen gesünder. In der Luft liegt der Geruch von Gegrilltem. Die Straßen sind selbst im Sommer leergefegt. In der Mittagspausenzeit essen und schlafen einsame Angestellte von »drüben« in ihren Autos – für einen Besuch im Bistro von Palo Alto reicht das Geld nicht.
Ein besseres Leben – für viele Bewohner East Palo Altos symbolisierte Facebook nicht nur eine virtuelle, sondern auch die reale Chance einer besseren Zukunft. Als die Firma vor zwei Jahren ihren Sitz von Palo Alto an den Rand East Palo Altos verlegte, weckte der Umzug in der Gemeinde die Hoffnung auf Modernisierung, Arbeit und Offenheit. »Facebook geht es darum, Menschen zu verbinden«, zitierte eine lokale Zeitung Charley Scandlyn, den Direktor des lokalen Schulverbandes. »Manchmal fühlen sich unsere Kids in East Palo Alto von den Träumen der Welt ausgeschlossen. Jetzt kann Facebook seine Mission hier in der eigenen Nachbarschaft umsetzen«.
Doch die Realität ist eine andere. Facebook kaufte die äußeren, an Palo Alto grenzenden Grundstücke der Stadt und plant nun Luxusappartments für seine Mitarbeiter. Dies treibt Grundstückspreise und Mieten der angrenzenden Wohnhäuser in die Höhe und zwingt viele Menschen zum Auszug.
Ein zunehmendes Problem sind die Zwangsräumungen. In East Palo Alto wittern viele Vermieter das große Geld, umgehen unter dem Vorwand einer Renovierung den Mieterschutz, verkaufen die an die geplanten Facebook-Appartments grenzenden Wohnblocks an Investoren aus China oder Japan oder vermieten diese für die doppelte Miete neu.
Im Silicon Valley ist die Wohnungssuche zunehmend schwierig. Eine Zweizimmerwohnung kostet seit dem Tech-Boom bis weit hinter San Francisco 3 500 bis 4 000 Dollar und zwingt Menschen mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen dazu, die Gegend zu verlassen.
Die Einwohner East Palo Altos profitieren kaum von dem Boom der Unternehmen, deren Mitarbeiter morgens ihre schicken Appartements verlassen, um in ihre großzügigen Büros zu fahren, in denen Rauschenberg an den Wänden hängt, der Rücken von Herman-Miller-Lehnen gestützt wird und diätbewusste Gaumen mittäglich von Gourmet-Caterern erfreut werden. Der Facebook-Campus befriedigt selbst die allerweltlichsten Bedürfnisse seiner Mitarbeiter, es gibt einen Zahnarzt, eine Reinigung, und einen Friseur.
In ihrem Buch »The Dot-Com City: Silicon Valley Urbanism« (2012) weist Alexandra Lange auf das Paradox des Silicon Valley hin. Zwar wolle die Hightech-Welt das Modell Stadt optimieren, doch verstärke das urbane Konzept des Tech-Campus und dessen Ideale »Offenheit« und »Demokratie« die gegenseitige Abschottung von Reich und Arm.
Zwar weist das Silicon Valley die höchste Bildungsrate bei höchster ethnischer Vielfalt in den Vereinigten Staaten auf und ist nach eigenem Selbstverständnis »post-racial«. Doch der Immigrationsliberalismus der Hightech-Welt plädiert vor allem für günstigere Visumsbestimmungen ausländischer Engineering-Studenten.
In East Palo Alto selbst bleibt die Hoffnung, das Wachstum möge eine lokale Renaissance bewirken oder eine bunte Gegenkultur fördern, unerfüllt. Nachdem sieben Jahre lang ein kleiner Teil der Steuergelder in Johnnie Grays Boxstudio geflossen war, hat die Stadt im Januar ihre Zuwendungen gestrichen. Die Zukunft des Jugendprogramms ist genauso unklar wie die der der latino- und afroamerikanischen Gemeinde im Silicon Valley.
Doch sieht es Johnnie Gray ein bisschen anders. Denn Boxen ist für ihn Ausbildung, Training und Disziplin. Manche schaffen es durch das Boxstudio ins Silicon Valley. Ein ehemaliger Zögling des Gym arbeitet heute bei Google, wo er die Snackkühlschränke der Techies mehrmals täglich mit Biosnacks bestückt. Ein anderer habe es nach West Point geschafft, ein weiterer an die University of California.
Hilfe kommt dem Boxstudio vor allem von außen zu: Stanford organisierte 2012 eine Konferenz über »Nähe« im Boxen und rückte damit East Palo Altos Problematik erstmalig in die akademische Öffentlichkeit. Heute sind Studenten und Lehrkräfte in Spendenaktionen für das Studio involviert. Nun schmiedet Gray Expansionspläne, er möchte sein Studio in ein größeres Gebäude verlegen, neben Boxen auch Kampfsport anbieten, mehr Trainer einstellen, mehr Schüler anziehen, mehr Sichtbarkeit für sein Jugendprojekt schaffen.
In Grays begeisterter Rede scheint für einen Moment der American Dream auf. Sein Glaube daran, dass der Aufstieg selbst an einem Ort der extremen Gegensätze von Arm und Reich möglich ist, scheint unbeirrbar. Für Johnnie Gray ist es der Tod, genauer, der Teufel, der jeden Gegensatz aufhebt: »Ich schere mich nicht darum, wieviel Geld oder Einfluss einer hat, der Teufel wartet auch auf ihn und wird ihm sagen: ›Auch für dich habe ich einen Ort‹.«