Eine Antwort auf Enno Stahl über den Zustand des deutschen Literaturbetriebs

Der Realismus und die Realität der Literaten

Ob Closed Shop oder Open Society: Die Debatte um die Klassenlage der Schriftsteller und die Qualität ihrer Produkte hat keinen Begriff des von ihr behandelten Gegenstandes. Eine Antwort auf Enno Stahl.

Florian Kessler veröffentlichte in der Zeit 4/2014 unter dem Titel »Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!« einen Kommentar, der wie folgt missglückt beginnt: »Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so brav und konformistisch? Weil die Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim alle aus demselben saturierten Milieu kommen.« Missglückt ist das, weil die Fragestellung verbindet, was in der Analyse unterschieden werden muss: Fragen der Ästhetik und der Soziologie. Wird diese Unterscheidung unterlassen, so wird Identität zum Ersatz der Analyse, eine Tendenz, die sich heutzutage in queer theory und critical whiteness, die politische Fragen in identitäre Statements verwandeln, ebenfalls beobachten lässt. Die von Kessler behauptete Kausalität will von der Unterscheidung zwischen Genese und Geltung nichts wissen. Eine Analyse der Produktionsbedingungen der professionellen Autoren, das heißt derjenigen, die mit dem Schreiben das Geld zum Überleben und vielleicht noch zum Leben verdienen wollen, würde zeigen, dass – und zwar milieuunspezifisch – die Abhängigkeit vom Markt und den Verlagen enorm ist. Die 1995 und 1999 gegründeten Creative-Writing-Schulen in Leipzig und Hildesheim stellen den Verlagen qualifiziertes, an den Konventionen geschultes Nachwuchsschriftstellermaterial zur Weiterverarbeitung bereit, die Auslandsstipendien in London, Los Angeles oder Rom verpflichten zur literarischen Produktion und bieten ein exotisches Sujet – die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Debüt sind dann geschaffen.

Dass diese Voraussetzungen allein nicht ausreichen, sondern nur ein Teil zu den Auserwählten wird gehören dürfen, ist Ergebnis der Konkurrenz als vermittelndem Prinzip. Doch das ist bereits nicht mehr spezifisch für das Schriftstellertum, die drohende Überflüssigkeit, Arbeitslosigkeit und Niedriglohn, sind konstitutive Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise im gegenwärtigen Stadium. Dass Kessler, wo es um materielle Voraussetzungen gehen müsste, ins Habituelle abschwenkt, und wo es um Ästhetik gehen müsste, das Gleiche vollzieht, macht die Misere des Ausgangspunkts der Debatte aus.
Enno Stahl (Jungle World 6/2014) übernimmt die habituelle Argumentation von Kessler, um sie mit einem weiteren Punkt, dem Anschein nach eher willkürlich, zu verknüpfen: mit einem Plädoyer für »mehr Gespür für Realismus, etwas größere Nähe zum Tatsächlichen«. Wie das zu erreichen sei? »Dazu braucht es tatsächliche, also glaubhafte Charaktere mit glaubhaften Biographien. Ihre soziale Herkunft sollte erkennbar sein: Wo kommen sie her, wie sind sie die geworden, die sie sind? Und natürlich auch: Was tun sie?« Die Frage des Realismus lässt sich keineswegs allein anhand der literarischen Inhalte wie Figuren, soziale Herkunft und Schauplätze prä­zise formulieren. Im Grunde scheint Stahl das auch zu ahnen, wenn er im Blick auf den Realismus zwischen »tatsächlich«, also der Faktizität, und »glaubwürdig«, also der Kommunizierbarkeit, schwankt. Hinter der positivistischen Begründung, die Literatur wie eine Wahrheitstabelle der formalistischen Aussagenlogik behandelt, verbirgt sich der Wunsch nach gelingender Kommunikation. Dass dieser auf den Bereich der deutschen Literatur begrenzt und mit einem Gestus des Bodenständigen und Handfesten kokettierend daherkommt, legt nahe, dass im Grunde die Missbilligung der literarischen Moderne Motiv der Argumentation ist.

Der Begriff des Realismus wird dabei von Stahl recht unhistorisch verwendet. Im 19. Jahrhundert war der Begriff in einer Reihe mit anderen vorausgehenden Auseinandersetzungen wie der Querelles des anciens et des modernes entscheidend für die Ablösung der Literatur von der höfisch-absolutistischen Repräsentationskunst, ein Begriff, der die freie Entfaltung der Sinnlichkeit in der Ästhetik jenseits von Regelpoetiken ermöglichte. Das Bürgertum schuf für die ihm zugehörigen Künstler die Möglichkeit, sich frei zum Stoff zu verhalten, eine Möglichkeit, die von Anbeginn die Abhängigkeit vom Markt, die im Monopolkapitalismus zur realen Unfreiheit wurde, in sich trug. Der Realismusstreit im 20. Jahrhundert war von dem vorhergehenden verschieden. Statt der Emanzipation von den absolutistischen Bedingungen war die Bindung der Massen zum Programm des Realismus geworden. Konservative und Nationalisten fassten den Realismus als Ausdruck des behaupteten jeweiligen Volkswesens auf. War Kunst nicht in diesem Sinne realistisch, galt sie als verkommen, gar als entartet. Im Herbst 1937, als Hitler in München die Ausstellung »Entartete Kunst« eröffnete, begann in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort eine Diskus­sion über den Expressionismus, deren Zentrum Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Georg Lukács bildeten. Denn in der kommunistischen Debatte wurde die künstlerische Moderne, die in München als »entartet« präsentiert wurde, als »dekadent« aufgrund der Klassenlage der Autoren bezeichnet, zudem für unbrauchbar im Sinne einer Volksfrontpolitik gegen den Faschismus befunden. Der Realismus wurde vor allem unter dem Kriterium der Nützlichkeit für die Agitation der Massen aufgefasst.
Ein Aspekt ist in der Diskussion über die politische Anschlussfähigkeit meist vergessen worden, der jedoch für das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft wichtig ist: Das Verhältnis von Wesen und Erscheinung der Gesellschaft und dessen Ausdruck im Medium der künstlerischen Form. Auch dabei wird missverständlicher Weise oft der Realismus beschworen. Schon 1931 schrieb Brecht: »Eine Fotografie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die Realität ist in das Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.« Aufgrund der Funktionsweise der Gesellschaft ist der formale Realismus nicht in der Lage, die Realität der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Zudem verfällt die Sprache in ihrer Behandlung als Instrument wieder der puren Magie; ihre Rationalisierung entfernt sie der Ratio. Roland Barthes hat das in seinen Buch »Mythen des Alltags« treffend ausgedrückt: »Die Sprache des Schriftstellers hat nicht die Aufgabe, das Reale darzustellen, sondern es zu bedeuten.« Die Literatur wird zum aufgeklärten Verhalten, indem sie sich der mythischen Darstellung entzieht und das Bedeuten in ihr Eigenständigkeit gewinnt, die Sprache sich von ihrer bloßen Bezeichnungsfunktion löst. »Die Sprache ist eine Form, und als solche kann sie weder realistisch noch irrealistisch sein. Sie kann nur mythisch sein oder nicht – oder (…) antimythisch. Nun besteht leider keine Antipathie zwischen Realismus und Mythos.«

Wie die historische Darstellung gezeigt hat, war der Begriff des Realismus an Konstellationen gebunden, in denen er eine bestimmte Funktion einnahm. Ein Wert an sich ist er nicht. Welche Verwendung der Begriff des Realismus in der Argumentation von Enno Stahl erfährt, bleibt unklar. Glaubwürdigkeit und Faktizität werden als Kriterien der Kommunikation angegeben, verbunden mit politischen Forderungen nach Vielfalt und Demokratisierung. Der Begriff des Realismus trägt zur Vernebelung mehr bei als zur Aufklärung.
Das mussten auch seine historischen Vertreter erfahren. Über einen der Verächter der literarischen Moderne und speziell Kafkas und Verteidiger des Realismus strenger Auffassung existiert folgende Anekdote: »Nach nächtlicher Verhaftung in Budapest 1956, rasender Wagenfahrt mit verhängten Fenstern zu einem unbekannten Mi­litärflugplatz, Abflug in einer Maschine ohne Hoheitsabzeichen in ein unbekanntes Land und Ankunft in einer schlossartigen Villa an blinkendem Meeresstrand, in der er lebte, halb zeremoniös behandelter Staatsgast, halb Zuchthäusler, noch immer ohne Kenntnis, wo er sich überhaupt befand, sagte Georg Lukács: Kafka war doch ein Realist.«