Zum Tod von Gerlef Gleiss, Mitbegründer der Krüppelbewegung

Gegen die Kopfstreichler

Gerlef Gleiss war Trotzkist, Mitbegründer der deutschen Krüppelbewegung und ­beriet Behinderte dabei, selbstbestimmt zu leben. Mit ihm ist einer der letzten Linksradikalen der deutschen Behindertenbewegung gestorben.

Der rote Stern vorne, mitten auf dem schwarzen Kapuzenpulli, darunter zu lesen, in weißer Schrift: »Staatsfeind«. So sah man Gerlef Gleiss auf behindertenpolitischen Demonstrationen in Hamburg. Kaum eine davon, die er nicht mitorganisiert, kaum eine Veranstaltung, auf der er nicht gesprochen hätte. Dabei hielt er zu vielen Posi­tionen der Behindertenbewegung in den vergangenen Jahren gebührenden Abstand. Zumindest zu denen jener Behindertenpolitik, die sich für seinen Geschmack zu sehr gemein gemacht hatte mit den Ideen und Zielen der Herrschenden, deren Vertreter zusammen mit Wohlfahrtsverbänden bunte Veranstaltungen vor dem Brandenburger Tor schmissen, auf denen zwar Selbstbestimmung und Inklusion gefordert wurden, aber nur an­gepasst an die Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft.

Auch wenn die Behindertenbewegung Barrieren in Gebäuden, Bussen und Bahnen abgebaut habe, seien behinderte Menschen nach wie vor ausgegrenzt und müssten sich angesichts bioethischer Debatten für ihr Leben rechtfertigen, sagte Gleiss 2011 der Jungle World. Immer mehr behinderte Menschen seien arbeitslos oder würden in Werkstätten abgeschoben. »Das Tempo in den Jobs ist viel höher geworden. Die Idee der Selbstbestimmung gibt auf solche Probleme erstmal nur eine individualisierte Antwort, wo doch auch gemeinsame Kämpfe nötig wären«, gab er damals zu bedenken. »Und was sich auch nicht geändert hat, ist die Kopfstreichelmentalität der Nichtbehinderten. Die sehen nur unsere Behinderung und nehmen uns nicht ernst. Das ist immer noch ziemlich verbreitet.«
Gleiss gehörte zur Gründungsgeneration der Behindertenbewegung – damals hieß sie noch Krüppelbewegung –, die für ihre Emanzipation Bühnen besetzte, Hungerstreiks anzettelte und sich in Parlamentsgebäuden anketten ließ. In Hamburg mit fünf Geschwistern in einem kleinen Arbeiterhäuschen aufgewachsen, politisierten sich er und sein Zwillingsbruder bereits mit 13 Jahren während der Schülerproteste 1969. Mit 16 traten sie der »Revolutionären Kommunistischen Jugend« bei, die der Vierten Internationale an­gehörte. Als Trotzkisten hatten sie mit dem autoritären Marxismus-Leninismus der K-Gruppen nichts am Hut – vielleicht auch das ein Grund dafür, dass Gleiss Zeit seines Lebens und auch in den vergangenen Jahren in der Hamburger Linkspartei dem undogmatischen Sozialismus treu blieb.
Mit 17 kam dann der erste eigene Urlaub, in Frankreich. Da fiel er in einen Bach, kam unglücklich auf und brach sich die Halswirbelsäule. Die Querschnittslähmung war der Wendepunkt in seinem Leben, in dem er gerade noch auf Abitur und Studium zugesteuert hatte. Gerlef und sein Zwillingsbruder zogen zusammen mit den Eltern in eines der frisch gebauten Hochhäuser in Hamburg-Steilshoop – nur dort gab es eine barrierefreie Wohnung. Einen Schulabschuss konnte er nie machen, keine der Hamburger Schulen wollte ihm mit seinem großen Elektrorollstuhl weiter den Unterricht ermöglichen.

Aus dem Trotzkisten wurde nun auch ein Aktivist der Behindertenbewegung. Gleiss schloss sich den Protesten gegen das UNO-Jahr der Behinderten 1981 an, war zum Beispiel beim Krüppeltribunal mit dabei, das Menschenrechtsverletzungen in der Behindertenhilfe offenlegte. Er scheute sich nicht, sich mit Personen aus den eigenen Reihen anzulegen, zum Beispiel in der Frage, ob man mit Nichtbehinderten zusammenarbeiten sollte. Er kritisierte die Krüppelgruppen für ihre ausschließende Identitätspolitik, war doch die Unterdrückung behinderter Menschen für ihn ein »Nebenwiderspruch« neben den zwei »Hauptwidersprüchen« Kapitalismus und Patriarchiat. Eine Haltung, die er später revidierte: 1984 gründete er zusammen mit anderen Hamburger Mitgliedern der Krüppelbewegung »Autonom Leben« und 1993 die »Hamburger Assistenzgenossenschaft«, zwei Vereine, die fast ausschließlich von behinderten Menschen geleitet werden. In der Beratungsstelle von »Autonom Leben« unterstützte Gleiss behinderte Menschen darin, ihr Recht auf Selbstbestimmung einzufordern, zu finanzieren und zu organisieren.

Er veröffentlichte auch pointierte Texte, in denen er zum Beispiel die Politik der sozialstaatlichen Deregulierung angriff und für eine einkommens­unabhängige Finanzierung von Assistenz und Pflege stritt. Oft wies er auf die Gefahren der Bio- und Bevölkerungspolitik hin, auf die »Selektion nach Nützlichkeit«. Debatten um das Recht auf »Sterbehilfe« sah er als Einfallstor für die Entwertung und Infragestellung des Lebensrechts behinderter Menschen. Dafür kritisierte er, zum Beispiel in der Sozialistischen Zeitung, vor allem auch »die vermeintlich fortschrittlichen modernen Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen sowie deren Medien, die die ›Sterbehilfe‹ unter dem Banner von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung propagieren«.
Selbstbestimmung bedeutete für ihn dagegen Emanzipation von der »Kopfstreichelmentalität«, von Betreuern und Verbandsfunktionären, sie bedeutete, eigene Entscheidungen treffen zu können unabhängig von der Kontrolle anderer, »wenn nötig in direkter und harter Auseinandersetzung mit der nichtbehinderten Welt«, wie er es in seinem Vortrag »Selbstbestimmung, Persönliche Assistenz und die Arbeiterrechte« im Rahmen der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven der Disability Studies« an der Universität Hamburg im Jahr 2010 ausdrückte. Als Arbeitgeber eines Teams von persönlichen Assistenten, das ihn bis zuletzt rund um die Uhr unterstützte, und als Mitglied der Arbeiterbewegung wusste er auch um die Widersprüche, in denen er sich bewegte: Als Gegenteil der Fremdbestimmung müsse Selbstbestimmung ein befreiender Akt der Selbstbehauptung sein – und ihre Grenzen an den Rechten und Interessen anderer finden.

»Ich denke oft darüber nach, ob es richtig ist, so als ›letzter Mohikaner‹ in der Wertewelt der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts stehen, oder in meinem Fall sitzen zu bleiben«, schrieb er vor einigen Jahren in einem Brief. »Aber wenn ich dann eine körperbehinderte Ratsuchende in unserer Beratungsstelle habe, die Mitte 40 ist, mit ihrer Mutter, die ihre gesamte Pflege in den letzten Jahrzehnten übernommen hatte (…), und die fast ausschließlich diese reden lässt, oder wenn mir ein junger Mann mit Tetraspastik weinend gegenübersitzt, weil ihn die Bundesanstalt für Arbeit trotz seines Realschulabschlusses in die Behindertenwerkstatt stecken will, dann weiß ich, dass ich irgendwie doch richtig sitze, dass die Kämpfe immer noch geführt werden müssen: mit der gleichen Radikalität, fast den gleichen Argumenten und genauso offensiv ­gegen die Nichtbehinderten.«
Die letzten elf Monate seines Lebens musste Gerlef Gleiss in verschiedenen Krankenhäusern und damit wieder in einer Umgebung des Betreutwerdens und des medizinischen Blicks verbringen. Am 5. Februar ist er mit 59 Jahren nach langer Krankheit gestorben.

Gerlef Gleiss’ Blog: http://gerlef.blog.de/

»Selbstbestimmung, Persönliche Assistenz und die Arbeiterrechte«, Vortrag von Gerlef Gleiss an der Universität Hamburg aus dem Jahr 2010:
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