Dominik Hangartner im Gespräch über das Referendum und den Rechtspopulismus in der Schweiz

»Kulturelle Bedenken kamen zum Tragen«

In der Schweiz wurde das von der rechts­populistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) geforderte Volksbegehren »Gegen Masseneinwanderung« (Jungle World 6/2014) mit einer sehr knappen Mehrheit von 50,3 Prozent der Stimmen angenommen. Die Initiative, die eine Einführung von Zuwanderungsquoten vorsieht, hat im Ausland zu heftigen Reaktionen geführt. Die Jungle World sprach zum Thema mit dem Politologen Dominik Hangartner, Associate Professor an der Londoner School of Economics und Senior Research Associate an der Universität Zürich. Er hat in einer vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Studie die restriktive Einbürgerungspraxis der Schweizer Gemeindeversammlungen untersucht.

Einmal mehr ist eine klar fremdenfeindliche Initiative der SVP in der Schweiz angenommen worden. Wie erklären Sie sich die Annahme der Initiative »Gegen Masseneinwanderung«?
Wenn man sich anschaut, welche Gemeinden die Initiative mit großer Mehrheit angenommen haben, so lässt das mehrheitlich auf kulturelle, teilweise auch ökonomische Bedenken gegenüber offenen Grenzen schließen. Es gibt ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. In Orten mit dem geringsten Ausländeranteil wurde die Initiative am meisten unterstützt. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass kulturelle Bedenken, die davon ausgehen, die Schweiz und ihre Traditionen hätten sich wegen der Migration verändert, bei diesen Wählerinnen und Wählern zum Tragen gekommen sind, die von der Migration am wenigsten direkt betroffen sind. Die Bezirke, die sich mehrheitlich für die Initiative ausgesprochen haben, haben bereits dem Minarettverbot zugestimmt, bei dem es sich um einen symbolischen Protest gegen religiöse und kulturelle Bauten handelt – dies bedeutet natürlich nicht, dass die Konsequenzen der Minarettverbote für in der Schweiz lebende Muslime rein symbolischer Natur sind. Das Abstimmungsverhalten spricht auch für den kulturellen Erklärungsansatz. Im Tessin, dem strukturschwächsten Kanton der Schweiz, wurde mit überwältigender Mehrheit für die Annahme der Ini­tiative gestimmt. Da sich im Tessin die Personenfreizügigkeit, in Kombination mit der relativ zur Schweiz schlechten Wirtschaftslage Italiens, neben zahlreichen positiven Aspekten in den letzten Jahren auch als Lohndruck auf untere und mittlere Einkommen ausgewirkt hat, ist davon auszugehen, dass dort neben den kulturellen Bedenken auch ökonomische Gründe zur Annahme beigetragen haben. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass die in einigen Branchen negativen ökonomischen Konsequenzen für Beschäftigte durch griffigere flankierende Maßnahmen gegen Lohndumping und eine entsprechende Umverteilung der durch die Personenfreizügigkeit für große und kleine Unternehmen anfallenden Gewinne durchaus hätten abgefedert werden können. Das Abstimmungsergebnis ist daher auch damit zu erklären, dass die Kompensation in der Schweiz, ebenso wie in allen anderen europäischen Ländern, bisher versäumt wurde.
Der Befund, dass sowohl kulturelle wie auch ökonomische Bedenken eine ablehnende Einstellung gegenüber Migrantinnen und Migranten erklären, wird auch von unserer Umfrage bestätigt, die wir vor drei Jahren durchführten, wobei sich schon damals zeigte, dass die kulturellen Faktoren etwa doppelt so stark wie die ökonomischen wirken.
Die von der SVP in der Kampagne verwendeten »Ausländerzahlen« wirken auch so hoch, weil die Einbürgerungspraxis in der Schweiz sehr restriktiv ist. Sie haben im Rahmen eines Projekts des Schweizer Nationalfonds untersucht, ob Menschen je nach Herkunftsland unterschiedliche Chancen haben, eingebürgert zu werden, und sind zu dem klaren Ergebnis gekommen, dass direktdemokratische Instrumente zu einer Benachteiligung von sogenannten ethnischen Minderheiten führen.
Für die angesprochene Untersuchung haben wir uns eine Eigenheit des Schweizer Bürgerrechts zu Nutze gemacht: In der Schweiz müssen sich Migrantinnen und Migranten in ihrer Wohngemeinde um eine Einbürgerung bewerben. Die Gemeinden entscheiden erst danach über das Einbürgerungsgesuch und benutzen dafür unterschiedliche Instrumente. Einige Gemeinden kennen ein direktdemokratisches Verfahren, um über indi­viduelle Einbürgerungsanträge zu entscheiden, andere delegieren diese Entscheide an gewählte Politikerinnen und Politiker oder spezialisierte Kommissionen. In einem Teil des Projekts haben wir untersucht, wie es Migrantinnen und Migranten ergeht, wenn die Wählerinnen und Wähler einer Gemeinde über ihre Einbürgerungsanträge direktdemokratisch entscheiden. Dafür haben wir Daten von über 2 400 Einbürgerungsanträgen von 1970 bis 2003 untersucht. Die statistische Auswertung zeigte sehr deutlich, dass sich die Erfolgschancen der direktdemokratisch entschiedenen Gesuche je nach Eigenschaften der Antragstellerinnen und Antragsteller stark unterschieden. Mit Abstand den stärksten Einfluss auf die Erfolgschancen hatte das Herkunftsland. Sprachkenntnisse oder der Grad der Integration hatten kaum Einfluss. So ist auch erklärbar, dass beim direktdemokratischen Verfahren Einbürgerungsanträge von Personen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien zehn Mal so oft abgelehnt wurden wie – abgesehen vom Herkunftsland – in sämtlichen beobachtbaren Eigenschaften vergleichbare Gesuche aus Italien oder Holland. Diese höhere Ablehnungsrate allein aufgrund des Herkunftslands steht in eklatantem Widerspruch zum in der Schweizer Verfassung festgehaltenen Diskriminierungsverbot. Diese Einschätzung wird auch vom Schweizerischen Bundesgericht geteilt.
Es hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sich die SVP durchsetzen konnte, wenn es um die Mobilisierung von Ressentiments und Hasskampagnen geht. 2009 wurde in der Schweiz nach einer von der SVP lancierten Initiative das Minarettverbot beschlossen, im November 2011 stimmten 52,9 Prozent einer SVP-Initiative für die automatische Abschiebung »straffällig gewordener Ausländer« zu. Was ist das Neue an der jüngsten Abstimmung?
Dass der Ausgang der Abstimmung eng wird, hat sich schon in den letzten Wochen abgezeichnet. Insofern war das Resultat keine Überraschung. Neu ist aber, dass eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für eine Beschränkung der Einwanderung gestimmt hat und bereit ist, dafür unter Umständen einen spürbaren Wohlstandsverlust in Kauf zu nehmen. Bei den ersten beiden Initiativen war kein Abwägen zwischen Wirtschaftswachstum und der möglicherweise verfassungswidrigen Beschränkung von Minderheitenrechten notwendig. Man konnte zum Nulltarif sein Unbehagen gegenüber der angeblichen Verbreitung des Islams in der Schweiz artikulieren beziehungsweise eine Verschärfung der landesweiten Abschiebepraxis erzwingen. Dies ist bei der vorliegenden Initiative gänzlich anders. Denn auch wenn die ökonomischen Konsequenzen dieser Initiative noch immer unklar sind und wesentlich von der konkreten Umsetzung abhängen, ist wohl auch den Befürworterinnen und Befürwortern bewusst, dass ein Ende des privilegierten Zugangs zum europäischen Einheitsmarkt für die exportorientierten Industrien und die Implementierung zu niedriger Aufenthaltskontingente für EU-Bürgerinnen und -Bürger möglicherweise drastische Konsequenzen für die gesamte Schweizer Volkswirtschaft hat.
Die von der SVP identifizierten Probleme wie Landschaftszersiedlung, zu volle Züge, zu viele deutsche Professoren an den Schweizer Universitäten – der sogenannte Dichtestress – erscheinen aus der Außenperspektive absurd. Erhofft sich die SVP damit Zustimmung von Wachstums- oder Globalisierungskritikern?
Sicher auch. Einerseits werden diese Argumente von den Befürworterinnen und Befürwortern tatsächlich oft vorgebracht. Ob diese Probleme deren wahre Bedenken reflektieren oder eher von der SVP angebotene Argumentationsschemata sind, um tieferliegende, xenophobe Ängste nicht ansprechen zu müssen, ist schwer zu beurteilen. Allerdings wird das im Abstimmungskampf gebetsmühlenartig wiederholte Argument vom sogenannten Dichtestress nicht bestätigt. In den Städten ist dieser »Dichtestress« zweifellos am stärksten, aber je urbaner ein Wahlkreis, desto größer die Ablehnung der Initiative. Andererseits steht bald eine weitere, diesmal von rechts-grünen Kreisen lancierte Initiative ins Haus: die »Ecopop«-Initiative will Zuwanderung aus ökologischen Motiven noch strikter begrenzen. Es ist davon auszugehen, dass die SVP als die im europäischen Vergleich weitaus professionellste rechte Partei deren Argumente genau studiert. Wie man an den bereits vorhandenen Umfragen ablesen kann, ist sie bei rund einem Viertel der grünen Wählerinnen und Wähler und einer soliden Mehrheit der Tessiner Kantonalsektion der Grünen Partei auf Zustimmung gestoßen.
Rechte Parteien wie die »Alternative für Deutschland« (AfD), der Front National in Frankreich und die UKIP in Großbritannien fordern schon seit längerem ebenfalls Referenden. Welche Signalwirkung wird die Abstimmung haben?
Dass auch andere rechte Parteien sich nun in der Annahme bestärkt fühlen, ihre Positionen könnten mehrheitsfähig sein, lässt sich auch daran ablesen, dass sie den Schweizer Wählerinnen und Wählern als erste zum Abstimmungsresultat gratulierten. Und ich glaube, diese Parteien haben guten Grund davon auszugehen, dass in ihren Ländern ähnliche Initiativen ebenfalls hohe Zustimmungsraten verzeichnen würden, wenn die direktdemokratischen Institutionen dafür existierten. In diesem Sinne funktioniert die Schweiz tatsächlich als Meinungsforschungsinstitut Europas. Alle EU-Politiker, aber auch -Bürger, denen das Abstimmungsresultat missfällt, sollten sich überlegen, was sie tun können, damit eine Initiative im eigenen Land keine Mehrheit findet. Ansonsten wird man die Quittung spätestens bei den anstehenden Europaparlamentswahlen im Mai bekommen.
Sprechen diese Abstimmung wie auch die Ergebnisse ihrer Studie nicht dafür, mit direktdemokratischen Abstimmungen vorsichtiger umzugehen?
Ich glaube nicht, dass die grundsätzliche Beschränkung direktdemokratischer Mittel eine Lösung ist. Zwar wäre es wichtig, die Verfassungsmäßigkeit von Initiativen vor Beginn der Unterschriftensammlung zu prüfen und nicht erst ex post zu schauen, durch welche juristischen Kniffe der Initiativtext einigermaßen umgesetzt werden kann, ohne die garantierten Grundrechte allzu sehr zu verletzen. In der Schweiz wird genau das getan, eigentlich hätte man den meisten Staatsrechtlern zufolge über Einbürgerungen, Minarette und Abschiebegesetze für ausgesuchte Strafdelikte gar nicht abstimmen dürfen. Wenn aber eine Initiative mit der Verfassung grundsätzlich zu vereinbaren ist, ist die Volksabstimmung trotz einiger Probleme noch immer eine der demokratischsten Institutionen, um die Präferenzen der Durchschnittswähler abzubilden. Denn Probleme wie die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit oder der überproportionale Einfluss von finanzstarken Interessengruppen auf das Abstimmungsresultat gelten ja nicht nur für Ini­tiativen und Referenden, sondern mindestens im gleichen Maße für die in repräsentativen Demokratien gewählten Politikerinnen und Politiker. In beiden Systemen ist ohne verfassungsmäßig garantierte Grundrechte die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit real, insbesondere wenn die sogenannten migrantischen Minderheiten nicht einmal stimm- und wahlberechtigt sind.